Die Erben des Marxismus: Derridas und Rancières Althusserlektüre

Es lässt sich ein wieder stärk­eres, jedoch dif­fus­es, akademis­ches Inter­esse an marx­is­tis­ch­er The­o­rie beobacht­en und vor diesem Hin­ter­grund lebt auch die Diskus­sion um Louis Althuss­er wieder auf. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde Althuss­er zulet­zt als Kristalli­sa­tion­spunkt marx­is­tis­ch­er Gesellschaft­s­the­o­rie herange­zo­gen und ger­ade vor dem Hin­ter­grund der his­torischen Ereignisse hat­te die intern-marx­is­tis­che Debat­te ihre strate­gis­che Berech­ti­gung. In dem zeit­genös­sis­chen Zugang scheint Althuss­er hinge­gen lediglich der Kro­nzeuge eines Abge­sangs auf den ortho­dox­en Marx­is­mus zu sein. In diesen Tenor stim­men auch die nun in deutsch­er Über­set­zung vor­liegen­den Beiträge von Ran­cière und Der­ri­da ein, nehmen sie doch in ihrer Abgren­zung Althuss­er als Syn­onym ein­er marx­is­tis­chen Ortho­dox­ie im All­ge­meinen. Genau darin sind sie aber auch Zeug­nisse und Symp­tome ein­er the­o­retis­chen Entwick­lung, zu der man in kri­tis­ch­er Lek­türe Zugang gewin­nen kann. Abseits ihrer Affir­ma­tion eines post­struk­tu­ral­is­tis­chen Gege­nen­twurfs zu mate­ri­al­is­tis­ch­er The­o­rie, eignen sie sich daher zur Rekon­struk­tion eines Post-Marx­is­mus, der sich im Namen des eige­nen emanzi­pa­tiv­en Anspruchs sein­er gen­uin marx­is­tis­chen Tra­di­tion entledigte.

Ran­cières bere­its 1974 im Orig­i­nal erschienenes Werk Die Lek­tion Althuss­er markiert den Bruch mit sein­er eige­nen marx­is­tis­chen Sozial­isierung, namentlich mit Althuss­er. In den Nach­we­hen des Mai 1968 hat­ten sich die the­o­retis­chen Grabenkämpfe zwis­chen objek­tivis­tis­chem Parteimarx­is­mus und sub­jek­tivis­tis­chen Posi­tio­nen bere­its zur tiefen Krise des Marx­is­mus ver­stetigt, in der Althuss­er als zen­trale Schlüs­selfig­ur fungierte (18). Trotz mitunter beißen­der Polemik bleibt Ran­cière ein­er der dif­feren­ziertesten Kri­tik­er Althussers zu dieser Zeit, denn er nimmt dessen Pro­jekt ernst, an dem er lang genug im Kreis der Althusse­ri­an­er selb­st beteiligt war: „Marx in sein­er Geschichte zu denken, um es uns zu ermöglichen, den Marx­is­mus in unser­er Zeit umzuset­zen.“ (155)

Ran­cière rekon­stru­iert daraufhin die Sta­tio­nen der the­o­retis­chen Posi­tion Althussers, die er auf ihre prak­tis­chen Lek­tio­nen hin befragt, um sie so ihrer laten­ten reak­tionären Züge zu über­führen. Zu Beginn der 1960er Jahre war es Althussers Bemühung, in ein­er Art der Selb­ster­mäch­ti­gung zur Marxschen The­o­rie aus der the­o­retis­chen Sack­gasse des Marx­is­mus her­aus­man­övri­eren zu wollen. Ein­er­seits wollte er der Partei die Deu­tung­shoheit über den Marx­is­mus-Lenin­is­mus entreißen und zugle­ich, in der Rück­kehr zu den Tex­ten von Marx, dessen The­o­rie im starken Sinne zur Gel­tung zu brin­gen. Zweit­eres bedurfte Althuss­er zufolge ein­er strate­gis­chen Vertei­di­gung­shal­tung gegen die revi­sion­is­tis­chen Ten­den­zen sowohl des ökonomis­chen Reduk­tion­is­mus wie auch des Sub­jek­tivis­mus vom Exis­ten­zial­is­mus bis zum Human­is­mus. (54 f.) Althuss­er drängte daher auf eine the­o­retis­che Strenge der Marxschen Wis­senschaft, Ran­cière zufolge mit dem klaren Ziel, „die Philoso­phie zu ret­ten, und ins­beson­dere die ‚marx­is­tis­che Philoso­phie‘, als Angele­gen­heit von Spezial­is­ten an der Uni­ver­sität“ (36).

Althuss­er spiele damit ein dop­peltes Spiel sowohl gegen die Partei, in der er seine Rolle als Intellek­tueller behaupten wollte, wie gegen die junge Intel­li­genz, deren the­o­retis­che Posi­tion er anzuleit­en ver­suchte, ent­ge­gen der Vere­in­nah­mung bürg­er­lich­er Philoso­phie. (46) In den Wider­sprüchen, die sich daraus ergaben, berichtigte Althuss­er den ihm vorge­wor­fe­nen The­o­rizis­mus mit der poli­tis­chen ‚Parteinahme in der Philoso­phie‘, die den Klassenkampf in die the­o­retis­che Prax­is zurück­holen sollte. (50) Für Ran­cière ist dies kaum mehr als eine rhetorische Wen­dung des alten Elit­ismus der sich zunehmend gegen die falsche Kri­tik am Marx­is­mus von links – einem ver­meintlich unge­hor­samen Linksradikalis­mus – wen­det. (55) In diese Zeit, die Mitte der 1960er Jahre, fall­en auch Ran­cières Zweifel an Althussers Strate­gie zur Bekämp­fung der poli­tis­chen Sub­ver­sion zugun­sten ein­er the­o­retis­chen Restau­ra­tion der Ord­nung im Namen des marx­is­tis­chen Erken­nt­nisanspruchs. (60) Denn während der Althusse­ri­an­is­mus darauf drängte, eine ‚Partei von Marx‘ zu bilden, die der Wis­senschaft schein­bar repres­sive Autorität zus­prach, verselb­ständigte sich die poli­tis­che Prax­is in den Vor­läufern des Mai 68 gegen eben jene Bevor­mundung. Ran­cière, der anti-autoritären Stu­den­ten­re­volte ange­hörend, macht sich dabei das aggres­sive Vorurteil gegen Althuss­er zu eigen, ihm jenen reduk­tion­is­tis­chen Dog­ma­tismus zu unter­stellen, gegen den sich jen­er selb­st wen­dete. In diesem Sinne hin­terge­ht Ran­cière kon­se­quent den eige­nen Anspruch der dif­feren­zierten Auseinan­der­set­zung, indem er die reale Prob­lematik der Althusser­schen The­o­riebil­dung kon­se­quent von dem Urteil über seine The­o­rie abkop­pelt, also sich ger­ade nicht für die ver­ständi­ge Weit­er­en­twick­lung der marx­is­tis­chen The­o­rie entschei­det, son­dern dagegen.

Althusssers Antritt, der poli­tis­chen und the­o­retis­chen Prax­is eine The­o­rie zu geben, wird für Ran­cière so zur „Entwick­lung ein­er ‚Parteiphiloso­phie‘, konzip­iert als Begriff­spolizei“ (90), die ihren Höhep­unkt im lenin­is­tis­chen Klassenkampf in der The­o­rie find­et. Althuss­er vertei­di­ge die uni­ver­sitäre Ord­nung in maois­tis­chem Vok­ab­u­lar der Kul­tur­rev­o­lu­tion, diskred­i­tiere „Fou­cault und die Linksradikalen“ (104) im Namen des pro­le­tarischen Stand­punk­tes und dränge auf poli­tis­che Organ­i­sa­tion anstelle von Ereignis­poli­tik. Ran­cière liest Althussers Inter­ven­tio­nen eben­so wie seine The­o­riebil­dung zur Ide­olo­gie in diesem Lichte, als Recht­fer­ti­gung ein­er intellek­tuellen Arbeit­steilung, in der der hero­isierte Intellek­tuelle den verblende­ten Massen (und bürg­er­lichen Apolo­geten) gegenüber­ste­he, indem alles auf den ver­meintlich überkomme­nen Antag­o­nis­mus aus Mate­ri­al­is­mus und Ide­al­is­mus gemünzt werde. (158 ff.) Ran­cière set­zt dem ent­ge­gen, dass „die ide­ol­o­gis­che Macht der Bougeoisie […] nicht die Macht des Ökonomis­mus und des Human­is­mus [ist]. Sie ist die Enteig­nung der Intel­li­genz der Arbeit­er“ (143). Genau an dieser Enteig­nung trage Althuss­er schließlich selb­st Anteil, indem er die von den ‚Linksradikalen‘ aufge­wor­fene Frage nach der Macht im Diskurs kon­se­quent ver­weigere. Der Althusser­sche Klassenkampf „dient nur dazu, das Aktuelle auf das Ewige und das Andere auf das Gle­iche zu reduzieren“ (146) und wird so zu einem „Diskurs der Ord­nung in der Lexik der Sub­ver­sion“ (161).

Ran­cières Ein­wände gegen die poli­tis­che Form des Althusse­ri­an­is­mus kom­men let­ztlich also mit den Stan­dard­vor­wür­fen gegen den ortho­dox­en Marx­is­mus übere­in: geschichts­feindlich, autoritär, notwendig zur Erstar­rung im Appa­rat ver­dammt. Nicht zulet­zt erin­nern diese Argu­mente an die reak­tionäre Prophezeiung, der Marx­is­mus münde notge­drun­gen in den Stal­in­is­mus, die Ran­ciére auf ihre The­o­rieform münzt (140 ff.). Seine Kon­se­quenz, die er daraus zieht und die sein gesamtes späteres Werk durchziehen wird, ist das Insistieren auf der unbe­d­ingten Offen­heit des Poli­tis­chen, der ontol­o­gis­chen Kontin­genz, die zur absoluten Grund­lage der Emanzi­pa­tion erhoben wird, wie er sie in seinen poli­tik­the­o­retis­chen Schriften ausführt.

Wie symp­to­ma­tisch diese Abgren­zungs­be­we­gung ist, zeigt nicht zulet­zt Der­ri­das Reflex­ion Poli­tik und Fre­und­schaft. Gespräch über Marx und Althuss­er über eben jene prä­gende Epoche der The­o­rie an, die er in diesem Inter­view aus dem Jahre 1989 vorn­immt. Selb­st nie dem engeren Zirkel der inner­marx­is­tis­chen Auseinan­der­set­zung zuge­hörig, hegte Der­ri­da schon früh Skep­sis gegen das Aufkom­men des Althusser­schen „The­o­retizis­mus, einem Szi­en­tismus ‚neuer Art‘“ (22). In der Dis­tanz zu dieser Bewe­gung bleibt Der­ri­da bei seinen Stu­di­en zu Husserl und Hei­deg­ger, die ihn dazu anhiel­ten, die Frage nach der Geschichtlichkeit der Geschichte als „das erste Axiom aller Prob­lematik der Wis­senschaftlichkeit, der Wahrheit, der Objek­tiv­ität im All­ge­meinen“ (31) auszumachen.

Der­ri­da bezieht damit eine Außen­seit­er­po­si­tion auf dem „gnaden­losen Kampf­platz“ (34) des intellek­tuellen Lebens in Frankre­ich und sieht sich einzig in der Lage, ver­schwiegen daran teilzuhaben. Sein Schweigen recht­fer­tigt er mit der laten­ten Sol­i­dar­ität zum marx­is­tis­chen Pro­jekt, das er nicht offen angreifen aber doch kri­tisieren wollte, denn der „Diskurs von Althuss­er und den Althusse­ri­an­ern schien […] irgend­wie erdrück­end, […] einem ver­fein­erten oder getarn­ten neuen ‚Pos­i­tivis­mus‘“ (41) zu entsprechen. Während sich dieser Diskurs qua­si hege­mo­ni­al in der Uni­ver­sität und Partei aus­prägte, sah sich Der­ri­da in ein­er Art linken, anti-stal­in­is­tis­chen Oppo­si­tion, denn „man bleibt mitunter lieber allein, unge­le­sen und unver­standen, als vorschnell assim­i­liert oder missver­standen zu wer­den“ (49).

Aus dieser Posi­tion her­aus beurteilt Der­ri­da zen­trale Begriffe Althussers: die Ide­olo­gie als geschicht­slos­es Konzept (50), den reduk­tion­is­tis­chen Klassen­be­griff (55) und den Rekurs auf die let­zte Instanz der Ökonomie als „meta­ph­ysis­che Ver­ankerung“ (57). Der­ri­da erken­nt darin ein Zurückschreck­en vor der eige­nen Radikalität, die aufge­wor­fene Frage nach dem Abwe­senden zugun­sten der eige­nen Ortho­dox­ie nicht stellen zu kön­nen und somit in den Dog­ma­tismus abzu­gleit­en, in dem man sich die eigene Befra­gung schließlich ver­bi­etet (66). Hei­deg­gers Neg­a­tiv­ität sieht Der­ri­da als Gegen­mit­tel zu dieser Dog­ma­tisierung, die Radikalisierung ein­er Ontolo­gie des Nichts, die er als die marx­is­tis­che Geste par excel­lence ver­ste­hen will und in seine Dekon­struk­tion über­set­zt (66 ff.). Der entsprechende poli­tis­che Entwurf, den er indi­rekt dem Parteiap­pa­rat­marx­is­mus Althussers ent­ge­genset­zt, ist die kom­mende Demokratie, die „der unendlichen Sin­gu­lar­ität, der unendlichen Ander­sheit Rech­nung trägt“ (74). Dem liegt erneut die kon­se­quente Verken­nung der eigentlichen Prob­lematik der Althusser­schen The­o­rie zugrunde, die – ent­ge­gen der Unter­stel­lung – nicht mit der Restau­ra­tion des Dog­ma­tismus beschäftigt war, son­dern mit dessen dialek­tis­ch­er Über­win­dung bei gle­ichzeit­igem Fes­thal­ten am marx­is­tis­chen Erken­nt­nis­stand­punkt. Hei­deg­ger als Gegengift zur ver­meintlichen Geschichtsvergessen­heit Marx’ her­anzuziehen, zeugt zuerst vom Missver­ständ­nis der Marxschen Theorie.

Auch für Der­ri­da ver­läuft sich damit die Kri­tik am erstar­ren­den Marx­is­mus in der ver­meintlichen Radikalisierung dessen eigentlich emanzi­pa­torischen Ele­ments, dem Ver­weis auf die His­tor­iz­ität, die als Kontin­genz Ein­gang in Der­ri­das Vorstel­lung des Poli­tis­chen find­et, als ein Ort der offe­nen Aus­tra­gung von het­ero­ge­nen Kämpfen (76). In genau diesem Sinne ver­ste­ht er seine Arbeit zu Marx und dessen the­o­retis­chem Erbe, das er in den darauf­fol­gen­den Jahren zu Marx’ Gespen­ster kon­den­siert. So wichtig der kri­tis­che Impuls von Marx aber auch sei, Der­ri­da kommt zu der Ein­schätzung, „dass der Onto-Theo-Tele­ol­o­gis­mus bei Marx unaus­rot­tbar ist“ (94) und daher dem Pri­mat der Dekon­struk­tion unter­stellt wer­den müsse, der die finale Unabgeschlossen­heit des Diskurs­es markiert.

Ran­cière wie Der­ri­da teilen das implizite Ergeb­nis, dass der emanzi­pa­torische Impuls von Marx nur auf Kosten des Marx­is­mus zu ret­ten sei. Genau diese Formel ist es, die eine marx­is­tis­che Kri­tik der let­zten Jahrzehnte in die äußer­ste Mar­gin­al­isierung gedrängt und eine intern­marx­is­tis­che Diskus­sion um The­o­rie- und Poli­tik­form erhe­blich erschw­ert hat. Wenn die Diskus­sion um Althuss­er, wie sie diese bei­den Bände zu führen ermöglichen, einen Sinn hat, dann jenen, diese Debat­te in der Rück­bindung an ihr Erbe wieder aufnehmen zu kön­nen. Ohne diesen Anspruch laufen die bei­den Rekon­struk­tio­nen Gefahr, lediglich eine affir­ma­tive Aufzäh­lung der Vorurteile gegen den Marx­is­mus zu sein, die ohne­hin schon zutief­st verin­ner­licht wurden.

 

Ran­cière, Jacques 2014: Die Lek­tion Althussers. Ham­burg: Laika.

Der­ri­da, Jacques 2014: Poli­tik und Fre­und­schaft, Gespräch über Marx und Althuss­er. Wien: Passagen.

 

von Alex Struwe

Der Beitrag erscheint in ein­er gekürzten Ver­sion in Das Argu­ment 320.

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