Was soll Theorie leisten?

Auf einem sehr grundle­gen­den Niveau ist The­o­rie banal. Sie ist jene Sys­tem­atik, vor deren Hin­ter­grund zusam­men­hän­gende Annah­men über Gegen­stände erst möglich wer­den. Eine ganz ein­fache Oper­a­tion der Abstrak­tion, die es ermöglicht, nicht vor jedem Phänomen wie vor ein­er Offen­barung zu ste­hen. In genau dieser sys­tem­a­tisieren­den Funk­tion ist sie Mit­tel der Wahl zur Wel­terk­lärung. Dabei ist das Abstrak­tion­sniveau jedoch bedeu­tend höher als in der All­t­ags­the­o­rie und erzeugt entsprechend ein grundle­gen­des Prob­lem. Führt die Abstrak­tion dor­thin, dass sie gewis­ser­maßen blind wird für ihren konkreten Gegen­stand, ist sie nur leer­er Begriff. Diese Ten­denz ist das, was Marx als Ide­al­is­mus brand­mark­te und dem eine mate­ri­al­is­tis­che Anschau­ung ent­ge­genset­ze, aus der sich min­destens eine 100 Jahre währende Tra­di­tion der Auseinan­der­set­zung um das Ver­hält­nis von Abstrak­tion und Konkre­tion entspann.

Im Falle der Gesellschaft­s­the­o­rie ist es mit­tler­weile ein All­ge­mein­platz, dass die the­o­retis­che Erken­nt­nis der Gesellschaft sich auf die Anerken­nung ihrer Überkom­plex­ität beschränkt. Die Zeit der großen The­o­rie ist vor­bei. Wie beispiel­sweise Ter­ry Eagle­ton resümiert, ist das sink­ende Skalen­niveau der The­o­riebil­dung selb­stver­ständlich Reflex­ion eines gesellschaftlichen Wan­dels,[1] ein­er Verän­derung, wie Kluge und Negt sagen wür­den, der Maßver­hält­nisse des Poli­tis­chen, dem Ende der großen Erzäh­lun­gen. Das mag sein, aber es benen­nt lediglich eine Entwick­lung, wom­it sich nicht automa­tisch der Sta­tus der The­o­rie klärt, ihr Anspruch, ihre Leis­tungs­fähigkeit und ihre Auf­gabe. Darin zeigt sich auch, dass es nicht ein­fach nur ein gescheit­ertes Abstrak­tionsver­hält­nis ist, das den Zus­tand der The­o­rie bes­timmt. Damit zusam­men­hän­gend drückt sich min­destens das prob­lema­tis­che Ver­hält­nis der The­o­rie zur gesellschaftlichen Wirk­lichkeit aus, das sich nicht zulet­zt bei den Sub­jek­ten selb­st in deren Denken niederschlägt.

 

The­o­rieprob­leme

 

Es kann, ger­ade in der Rück­bindung an ihre Entwick­lung, prob­lema­tisiert wer­den, in welchem Zus­tand sich die The­o­rie ger­ade befind­et. Dafür schlage ich drei grundle­gende Prob­leme der The­o­riebil­dung vor, die sich ger­ade deshalb ergeben, weil sie den Kern der Auf­gabe der Gesellschaft­s­the­o­rie betreffen:

Uni­ver­sal­is­mus – Abstrak­tion ist nicht nur Mit­tel der The­o­rie, son­dern zugle­ich deren größtes Prob­lem. Es gibt unzäh­lige Benen­nun­gen dieser poten­tiellen Ver­fehlung: The­o­retizis­mus, Ide­al­is­mus, Reduk­tion­is­mus, Deter­min­is­mus, Meta­physik etc. Eine Spielart der Auseinan­der­set­zung um dieses Prob­lem beschreibt der The­o­rie-Prax­is-Nexus, der vor allem für eine gesellschaftliche Linke immer wieder Anlass zu Ver­w­er­fun­gen ist. Die Auseinan­der­set­zung um das Maß an Abstrak­tion bet­rifft epis­te­mol­o­gisch direkt die Erken­nt­n­is­fähigkeit der The­o­rie, ontol­o­gisch ihre Anerken­nung ein­er gesellschaftlichen Wirk­lichkeit, die Gegen­stand der Erken­nt­nis sein soll.

Praktischer/politischer Auf­trag – Damit zusam­men­hän­gend ist die Frage nach dem prak­tis­chen Sta­tus der The­o­rie selb­st und ihrer Rolle als Erken­nt­nisin­stru­ment. Ein emanzi­pa­torisch­er Anspruch bedeutet die erken­nende Kri­tik der beste­hen­den Ver­hält­nisse, um diese verän­dern zu kön­nen. Dabei wird diese Frage in den let­zten Jahrzehn­ten oft auf den nor­ma­tiv­en Sta­tus der The­o­rie verengt und in der Annahme, The­o­rie sei immer sub­jek­tiv beschränkt, von ihr Rechen­schaft gegenüber ihrem vor­ein­genomme­nen Blick­winkel ver­langt. Aber eben nicht, um sie an ihre Richtigkeit zu ver­weisen, son­dern um sie zu rel­a­tivieren. Fra­gen um den Objek­tiv­ität­sanspruch der The­o­rie wer­den vor diesem Hin­ter­grund kaum mehr artikulier­bar, was zugle­ich als deren poli­tis­ch­er Charak­ter im Sinne eines for­malen demokratis­chen Nebeneinan­ders missver­standen wird.

Selb­stre­flex­ion des denk­enden Bewusst­seins – Dies bezeugt aber das dritte Prob­lem und zugle­ich Anliegen der The­o­rie: Ihre Fähigkeit, die Pro­duk­te ihrer eige­nen Sys­tem­atik an jene Instanz zu ver­mit­teln, die sie prä­gen. Verkürzt find­et diese Prob­lematik Ein­gang in sub­jek­t­the­o­retis­chen Über­legun­gen der let­zten Jahrzehnte, ist aber eigentlich Gegen­stand der Ide­olo­gi­ethe­o­rie. Die Auf­gabe, das Denken müsse gegenüber sein­er Verquick­ung inner­halb der gesellschaftlichen Ver­hält­nisse Rechen­schaft able­gen galt damit als Atavis­mus, bezeugt aber seine Dringlichkeit in der intellek­tuellen Hil­flosigkeit gegen die gesellschaftliche Regression.

 

The­o­riezustände

 

Der prob­lema­tis­che Zus­tand der Gesellschaft­s­the­o­rie lässt sich entsprechend dieser drei Prob­lem­la­gen kennze­ich­nen als eine Begren­zung der the­o­retis­chen Reich­weite, die Entkop­plung der The­o­rie von der gesellschaftlichen Wirk­lichkeit und die Ten­denz zur ide­al­is­tis­chen Selb­stre­f­erenz. Selb­stver­ständlich sind diese Phänomene eng gekop­pelt, auch wenn sie in ihrer diszi­plinären Aufgliederung in Sozialthe­o­rie, poli­tis­ch­er The­o­rie und Sub­jek­t­the­o­rie sowie zudem noch in Gegen­stände ver­schieden­er Sozial­wis­senschaften zer­fall­en. Es han­delt sich schlicht um einen symp­to­ma­tis­chen Zusam­men­hang, der sich schon allein aus dem Unter­fan­gen der Gesellschaft­s­the­o­rie herstellt.

Ein­er symp­to­ma­tis­chen Diag­nose entsprechend prägt die The­o­rieland­schaft ein Zus­tand laten­ter Depres­sion. Etwa ana­log zur Diag­nose von Mark Fish­er, Pop­kul­tur habe ihren visionären Charak­terzug zugun­sten ein­er beständi­gen Repro­duk­tion der immer gle­ichen nos­tal­gis­chen Ver­satzstücke einge­büßt, lässt sich eine ver­gle­ich­bare Apathie der The­o­rie fest­stellen. Zu dieser gehört eine gewisse Ambivalenz zwis­chen ein­er man­is­chen Über­pro­duk­tion und ein­er res­ig­na­tiv­en Erstar­rung. Ein­er­seits sind der Buch­markt und die Feuil­letons voll mit Krisendi­ag­nosen, Analy­sen zum Scheit­ern des Kap­i­tal­is­mus und der gesellschaftlichen Regres­sion, mit Per­spek­tivüber­legun­gen und Man­i­festen. Zugle­ich richtet sich die The­o­rie in ihrer eige­nen Muse­al­isierung zur akuten Bedeu­tungslosigkeit ein. Unab­hängig wie präsent sie wieder zu sein scheint, hat sie wenig mehr zu bieten als dekon­tex­tu­al­isierte Würdi­gun­gen isoliert­er Denkge­bäude – Marx als Klas­sik­er der Sozi­olo­gie, Philoso­phie etc., die intellek­tuelle Vari­ante der bürg­er­lich-rev­o­lu­tion­sro­man­tis­chen Kitschver­fil­mung eines jun­gen Marx –, Inno­va­tio­nen im Jar­gon zur Beschrei­bung von Gesellschaft oder die Verkürzung von The­o­rie auf Phrasen und Marxzitate.

Man kön­nte meinen, diese Erstar­rung sei Aus­druck ein­er Erken­nt­nis­sät­ti­gung, ähn­lich wie Diedrich Diederich­sen in einem Inter­view beiläu­fig fest­stellte, dass von link­er Seite bere­its alles gesagt sei, dass der aufk­lärerische Impuls sich gewis­ser­maßen im end­losen Debat­ten­modus ver­aus­gabt habe.[2] Die aktuelle Pub­lika­tion­swelle könne dann diesen Wieder­hol­ungs­ges­tus der fes­ten Erken­nt­nisse bedi­enen, immer wieder auf die wichti­gen Zusam­men­hänge hin­weisen, bis sie endlich Durch­schlagskraft ent­fal­ten wür­den. Die darin antizip­ierte, ver­meintliche Spitze der emanzi­pa­torischen Erken­nt­nis, die daran scheit­ere, dass sie ein­fach nur nicht gewürdigt werde, ste­ht jedoch in schar­fem Kon­trast zu der poli­tis­chen Mar­gin­al­isierung der gesellschaftlichen Linken sowie der selt­samen Erken­nt­nis­losigkeit der vor­liegen­den Analysen.

Von Depres­sion zu sprechen soll aber vielmehr die tragis­che Abwe­sen­heit jen­er Erken­nt­n­is­fähigkeit anzeigen, die sich sich in den ver­schiede­nen Dimen­sio­nen der The­o­rie hergestellt hat und die the­o­retisch selb­st unbear­beit­et bleibt. All die Zeit ist ver­gan­gen und die The­o­rie besitzt immer noch nicht die Reich­weite, die Real­ität, die Selb­sterken­nt­nis. Und es bleibt kaum ein ander­er Weg als der in die narzis­stis­che Neu­rose, die man nicht nur bei einzel­nen The­o­riev­ertreterIn­nen find­en kann, son­dern die sich auch in der The­o­rie im All­ge­meinen aus­bildet. Der akademis­che Betrieb, der die The­o­riepro­duk­tion größ­ten­teils beherbergt, ist geprägt von einem ständi­gen Inno­va­tions­druck mit entsprechen­der Wet­tbe­werb­s­dy­namik für die bis an die unteren Gren­zen der Prekar­ität gedrängten Wis­senschaftssub­jek­te. Man muss nur ein­mal auf ein­er wis­senschaftlichen Tagung jene Wohlfüh­lat­mo­sphäre mit ein­er Nach­frage zur realen Rel­e­vanz der vorgestell­ten Forschung­spro­jek­te antas­ten, um zu bemerken, wie viel Kränkung und Abwehr gegen die gle­iche in der The­o­riear­beit verquickt ist.

Iden­ti­fiziert man die Belan­glosigkeit der Arbeit – für das gemein­hin das Güte­siegel inter­es­sant ver­liehen wird – als eine Art Über­lebensstrate­gie inner­halb der poli­tis­chen Ökonomie der Uni­ver­sität, so ist es wenig ver­wun­der­lich, dass die Pro­duk­tions­be­din­gun­gen der­gle­ichen repro­duziert wer­den müssen, was sich real mit jedem neuen Exzel­len­z­clus­ter und Graduiertenkol­leg mit inter­diszi­plinärem Hang zum kul­tur­wis­senschaftlichen Non­sens vol­lzieht, mit jedem Kopf­schüt­teln über den befremdlichen Erken­nt­nisanspruch des Marx­is­mus. Die Banal­ität jen­er hip­pen Kul­tur­forschung, die sich einen sub­ver­siv­en Anstrich mit­tels ein­er infla­tionären Poli­tisierung aller ihrer Gegen­stände ver­lei­ht – was, wie Michael Hirsch fest­stellt, tat­säch­lich nur der Ästhetisierung der Poli­tik gle­ichkommt[3] –, und die Phrasen­ge­betsmüh­le undog­ma­tisch link­er The­o­rie sind nur die zwei Seit­en der­sel­ben Medaille jenes Zus­tands der The­o­rie, über den sie selb­st keine Auskun­ft geben zu kön­nen scheint.

 

Was (soll The­o­rie) tun?

 

Das bloße Anliegen ein­er Prob­lema­tisierung der Gesellschaft­s­the­o­rie muss klarstellen, dass diese nicht zum Selb­stzweck betra­chtet wird. Es geht wed­er um die Selb­ster­hal­tung ein­er im Ver­schwinden bedro­ht­en Diszi­plin, noch um den nos­tal­gis­chen Reflex eines Vul­gär­marx­is­mus. Tat­säch­lich, damit eine Kri­tik nicht zum Jam­mern verkommt, liegt dem die berechtigte Annahme zugrunde, es gibt ein reales Prob­lem, auf das Gesellschaft­s­the­o­rie die Antwort ist. Genaugenom­men trans­portiert sich im derzeit­i­gen Zus­tand der The­o­rie das Eingeständ­nis an die Ver­fehlung der The­o­rie in ihrer eige­nen Auf­gabe. Diese ist: die wis­senschaftliche Erken­nt­nis der Gesellschaft.

Die wis­senschaftliche Erken­nt­nis der Gesellschaft, ihr Objek­t­bere­ich, deutet auf einen Total­itäts­be­griff hin, der sich his­torisch in dem Dilem­ma zwis­chen Notwendigkeit und Unmöglichkeit ein­gerichtet zu haben scheint. Schon der Begriff der Gesellschaft markiert aber die Annahme eines kohärenten Zusam­men­hangs der dis­parat­en Einzelphänomene, der vor der his­torischen Verän­der­barkeit und Verän­derung der sozialen Real­ität Rechen­schaft able­gen muss. The­o­rie, im Sinne der sys­tem­a­tis­chen Durch­dringung des Beste­hen­den, kann sich nicht in der Fest­stel­lung der Verän­derung erschöpfen, sie muss vielmehr auf die Erk­lärung der spez­i­fis­chen Verän­derung abzielen.

Die wis­senschaftliche Erken­nt­nis der Gesellschaft bedeutet zudem eine Spez­i­fik der Erken­nt­nis. Als wis­senschaftlich qual­i­fiziert, muss sie Objek­tiv­ität genü­gen, die sich ger­ade vor dem Hin­ter­grund ein­er ontol­o­gis­chen Kontin­gen­zan­nahme des Sozialen immer schw­er­er umreißen lässt. Die Idee, dass die his­torische Verän­der­barkeit der Gesellschaft deren fun­da­men­tale Sub­stan­zlosigkeit bezeu­gen soll, muss zugun­sten ein­er Erken­nt­nis des Beste­hen­den zurück­gewiesen wer­den. Zu bele­gen, dass dies nicht gle­ichbe­deu­tend ist mit einem Fun­da­men­tal­is­mus, anthro­pol­o­gis­chen Set­zun­gen, Essen­tial­is­mus etc., ist nicht die erste Pflicht ein­er wis­senschaftlichen The­o­rie, die sich in solcher­lei Beteuerung und Abwehr nur bis zum intellek­tuellen Ver­lier­er erschöpft.

Die wis­senschaftliche Erken­nt­nis der Gesellschaft ver­weist zulet­zt auf den dis­tink­ten Zusam­men­hang zwis­chen der Annahme ein­er bes­timmten sozialen Real­ität und der kor­re­spondieren­den Bear­beitung dieser als Erken­nt­nisob­jekt. Auch dies bedeutet nicht die Fan­tasie ein­er Deck­ungs­gle­ich­heit von Erken­nt­nisob­jekt und Realob­jekt, son­dern lediglich deren kohärentes Ver­hält­nis, welch­es wiederum nur über die Annahme eines geteil­ten gesellschaftlichen Zusam­men­hangs verbindlich herzustellen ist, sprich eine Totalitätsannahme.

 

Damit sind drei Ele­mente ein­er The­o­rie der Gesellschaft angezeigt, die sich der gen­uinen the­o­retis­chen Auf­gabe jen­seits der zeit­genös­sis­chen Selb­st­beschränkun­gen stellen kann. Eine solche The­o­rie bedarf eines Total­itäts­be­griffs, dessen His­torisierung sowie, als entschei­den­dem Moment, eines Deter­mi­na­tions­be­griffs. Dass diese Ele­mente gle­ichzeit­ig die großen Errun­gen­schaften mate­ri­al­is­tis­ch­er The­o­riebil­dung darstellen, soll nicht der rück­wirk­enden Glo­ri­fizierung dienen, son­dern der realen Prob­le­merken­nt­nis, dass es bere­its die Tra­di­tion ein­er Bemühung um jene gesellschaft­s­the­o­retis­che Auf­gabe gab, deren Ergeb­nisse bis heute uneinge­holt bleiben. Zumal es wenig von dem Ver­such zu erken­nen gibt, dieses Erken­nt­nis­niveau einzu­holen, vielmehr nur es ins­ge­samt zu verwerfen.

Stünde dabei nur eine philosophis­che Geschmacks­frage auf dem Spiel, ein intellek­tuelles Kräftemessen, so wäre get­rost auf der­lei Hin­weise zu verzicht­en. So es aber um eine gesellschaftlich rel­e­vante Auf­gabe geht, kön­nen die Defizite derzeit­iger The­o­riebil­dung nicht ein­fach hin­genom­men wer­den. Gle­ichzeit­ig erweist sich die kri­tis­che Kon­fronta­tion mit anderen The­o­rieange­boten auf genau dieser Ebene als abso­lut nicht zweck­di­en­lich. Dezi­diert nicht-mate­ri­al­is­tis­ch­er The­o­riebil­dung ist schw­er­lich überzeu­gend vorzuw­er­fen, dass sie nicht mate­ri­al­is­tisch ist. Es bleibt daher die Frage, ob sich jenen Gesellschaft­s­the­o­rien, die sich prak­tisch nur in ihrem Scheit­ern oder ihrer Belan­glosigkeit beweisen, eine in diesem Sinne bessere The­o­riebil­dung in der Prax­is gegenüber­stellen muss, die sich nicht um die Anerken­nung konkur­ri­eren­der The­o­rieange­bote schert.

 

von Alex Struwe

 

[1] Vgl. Eagle­ton, Ter­ry 2003: After The­o­ry. New York: Basic Books, 15.

[2] Vgl. Diederich­sen, Diedrich 2016: „Heute sind viel mehr Leute als ‚Rechte‘ out“. In: Jun­gle World 25/2016, URL: http://jungle-world.com/artikel/2016/25/54310.html.

[3] Vgl. Hirsch, Michael 2015: Logik der Unter­schei­dung. Zehn The­sen zu Kun­st und Poli­tik. Ham­burg: Tex­tem, 10.

Ein Kommentar

  1. Der Rei­he nach:

    1. “Diese Ten­denz [zur abstrak­ten The­o­rie ohne Gegen­stands­bezug] ist das, was Marx als Ide­al­is­mus brand­mark­te und dem eine mate­ri­al­is­tis­che Anschau­ung entgegensetze”.

    Wo? Ich denke, gemeint sind die Feuer­bachthe­sen. Doch ist es wirk­lich die Geißelung der Abstrak­tion, die dort passiert? Und wenn es so ist, müsste sich dann 150 Jahre später dieser Zusam­men­hang nicht anders und bess­er, ohne Rekur­ri­eren auf die Autorität von Marx rekon­stru­ieren lassen? Wäre das nicht viel wis­senschaftlich­er, als die Traditionspflege?

    2. “Die Zeit der großen The­o­rie ist vor­bei.” Ich glaube, dieses State­ment ist in sein­er Unge­nauigkeit nicht ganz richtig. Die The­o­rien sind heute größer und auss­chweifend­er als zuvor, und es sind ihrer mehr an der Zahl. Viel eher vor­bei ist die Zeit des bewussten Zusam­men­hangs von The­o­rie und Poli­tik. The­o­rie muss imple­men­tiert wer­den, um Sinn zu haben. Das gefällt den The­o­retik­ern von heute natür­lich nicht, weil sie wed­er Inter­esse daran haben, imple­men­tiert zu wer­den noch ihre The­o­rien im ern­sten dazu bere­it wären. Was wäre das für eine Welt, in der ern­sthaft ein Zizek imple­men­tiert wer­den würde? 

    3. Die Verbindung von Uni­ver­sal­is­mus und Abstrak­tion ist nicht klar dargestellt. 

    4. The­o­rie ist kein Erken­nt­nisin­stru­ment. Eine bes­timmte The­o­rie kann ein Instru­ment dafür sein, ein bes­timmtes Phänomen zu erken­nen, aber The­o­rie im unbes­timmten Sin­gu­lar hat keine beson­dere Bedeu­tung. Bzw. genauer aus­ge­drückt: Es lässt sich Geschichte wohl so darstellen, als gäbe es The­o­rie an sich. Was sollte aber damit aus­ge­drückt sein als eine abstrak­te Hoff­nung auf das gute Leben, dass durch The­o­rie (irgen­deine The­o­rie) irgend­wie erre­icht wer­den soll. Das ist unspez­i­fisch, zu unspez­i­fisch für die Gegen­wart. The­o­rie kann, aber sollte nicht in diesem Sin­gu­lar benutzt werden.

    Kennze­ich­nend für dieses Prob­lem ist auch die Exis­tenz eines Stu­di­en­ganges namens “Poli­tis­che The­o­rie”. Was damit ja ganz effek­tiv gemeint ist, ist ein Studi­um über ver­schiedene The­o­rien im Plur­al, die, rel­a­tiv frei wählbar, kom­biniert wer­den kön­nen und jew­eils rel­a­tiv beliebig irgend­was mit Poli­tik zu tun haben. Mit “Poli­tis­che The­o­rie” ist ja keineswegs — lei­der — die EINE The­o­rie DER Poli­tik gemeint, ist nie gemeint, welchen evo­lu­tionären Sinn Poli­tik in der Men­schheit hat, an welchem Punkt sie entste­ht, warum, und wie sich diese Entste­hung zu den Prob­le­men der Leben­sart der Men­schen verhält. 

    5. Die Selb­stre­flex­ion ist zwar ein Gütekri­teri­um an die The­o­rie, führt an sich aber auch nir­gend­wohin außer zu dem guten Gefühl, mehr recht zu haben.

    6. “Der prob­lema­tis­che Zus­tand der Gesellschaft­s­the­o­rie lässt sich entsprechend dieser drei Prob­lem­la­gen kennze­ich­nen als eine Begren­zung der the­o­retis­chen Reich­weite, die Entkop­plung der The­o­rie von der gesellschaftlichen Wirk­lichkeit und die Ten­denz zur ide­al­is­tis­chen Selb­stre­f­erenz. ” Das trifft zweifel­los zu. Diese Diag­nose erlöst aber nicht davon, zu recht­fer­ti­gen, warum men­sch den­noch an der Gesellschaft­s­the­o­rie fes­thält. Was wäre bess­er, wenn die Gesellschaft­s­the­o­rie heute eine uni­ver­sale Reich­weite, eine strik­te gesellschaft­spoli­tis­che Wirkung und eine nicht-ide­al­is­tis­che, begrün­dete Epis­te­molo­gie vor­weisen kön­nte? Und wenn etwas bess­er wäre: Wie ist dieser Zus­tand zu erreichen?

    7. Die Apathie, die Depres­sion, der Kitsch (doch, Depres­sion und Kitsch geht zusam­men, schon­mal linken Rap gehört?) — drei abso­lut richtige Diag­nosen. Den­noch: kein Vergeben, denn: Obwohl sie es nicht böse meinen, nehmen die meis­ten doch wissentlich eine Ver­stop­fung der Kanäle bil­li­gend in Kauf. Jede Nieder­lage wird zu einem Sieg erk­lärt, jed­er Moment des Innehal­tens vor der Macht­losigkeit wird mit einem neuen Band aus der Bib­lio­thek des Wider­stands zer­bombt, jede vergeigte Demo noch mit Durch­hal­teparolen zuge­tex­tet, warum der Sieg nicht mehr weit sein kann. Die The­o­rie, so wie sie ist, ist damit lei­der auch nicht belan­g­los oder wirkungs­los. Nur, sie zeigt kein­er befriedi­gen­den Wirkun­gen, und wenn sie das tut, nur zu hohem Preis.

    8. “Das bloße Anliegen ein­er Prob­lema­tisierung der Gesellschaft­s­the­o­rie muss klarstellen, dass diese nicht zum Selb­stzweck betra­chtet wird.” Real­is­tisch betra­chtet ist es unwahrschein­lich, dass es zu so ein­er solchen Selb­st­diszi­plin­ierung kommt. Empirisch ist sog­ar das Gegen­teil zu beobacht­en: Regelmäßig wer­den ein­st­mals sehr ern­ste linke Leute gnaden­los in den Appa­rat der The­o­rie hineingemahlen, die sub­ver­siv­en Effek­te oder die Erken­nt­nisse sind min­i­mal. Die poli­tis­che Her­aus­forderung braucht eine wis­senschaftliche Wen­dung, das ja, aber diese kann schein­bar nur expliz­it gegen die Wis­senschaft erkämpft wer­den. Die Mes­sung der bürg­er­lichen Gesellschaft an ihrem eige­nen Begriff, wie das so schön heißt, ist abgefahren.

    9. Die Vertei­di­gung des Ver­suchs zu objek­tiv­er Erken­nt­nis gegen Vor­würfe des Fun­da­men­tal­is­mus ist richtig, aber schwach. Die Abwe­sen­heit von Schmerz, ein gutes Leben, Respekt vor dem Sub­jekt, Men­schen­recht, ja, alle diese Sachen sind anthro­pol­o­gis­che Set­zun­gen, die sich nicht weit­er logisch beweisen lassen. Der Fakt, dass sie erst im Kap­i­tal­is­mus zumin­d­est rhetorisch als Uni­ver­sal geset­zt wer­den, bedeutet nicht, dass ger­ade diese Set­zung ein­er kom­mu­nis­tis­chen Kri­tik aus­ge­set­zt wer­den muss. Der Kom­mu­nis­mus nimmt manche seine Ide­ale aus der bürg­er­lichen Gesellschaft, so what? Es ist nicht so, als wüssten wir nicht die guten (z.B. Frei­heit) von den schlecht­en (z.B. Fam­i­lie) Ide­alen zu unterscheiden.

    10. “Damit sind drei Ele­mente ein­er The­o­rie der Gesellschaft angezeigt, die sich der gen­uinen the­o­retis­chen Auf­gabe jen­seits der zeit­genös­sis­chen Selb­st­beschränkun­gen stellen kann. Eine solche The­o­rie bedarf eines Total­itäts­be­griffs, dessen His­torisierung sowie, als entschei­den­dem Moment, eines Deter­mi­na­tions­be­griffs.” Ja und nein. Ja, das liegt nahe. Aber nein, es reicht nicht, den schlecht­en Zus­tand der Gesellschaft­s­the­o­rie zu beschreiben, und ihr dann das Gegen­teil zu verord­nen. Son­st ist men­sch wieder genau bei Feuer­bach ange­langt: Die Kri­tik des Falschen führt zum Richti­gen, die Kri­tik des religiösen Gemüts führt zum wirk­lichen Gemüt. Das scheint nicht richtig zu sein.

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