Die Auflösung des Politischen im Soziologismus

Anlässlich der Diskus­sio­nen der diesjähri­gen Tagung der Assozi­a­tion kri­tis­che Gesellschafts­forschung (AkG) stellen wir unter dem Schlag­wort Her­aus­forderun­gen link­er Poli­tik einige Gedanken zusam­men, die sich aus den Beiträ­gen und Prob­lem­feldern der Tagung ergaben.

 

Beze­ich­nend für die sozi­ol­o­gis­che Diskus­sion ist, dass sie sozusagen im Rück­wärts­gang von einem poli­tis­chen Prob­lem her kom­mend ihre Empirie aufrol­lt. Hier zeigt sich ein prob­lema­tis­ches Erbe, das Dörre sog­ar selb­st expliz­it anspricht: Die Zeit des Bilderver­bots müsse vor­bei sein, die selb­st­gewählte Betrieb­slind­heit der Kri­tik der poli­tis­chen Ökonomie müsse sich endlich trauen, konkrete Alter­na­tiv­en zu beste­hen­den Verge­sellschaf­tungs­for­men anzu­bi­eten, weil der All­ge­mein­platz, gegen Kap­i­tal­is­mus zu sein, schon lange keine uni­ver­sale, son­dern nur noch eine höchst prob­lema­tis­che exk­lu­sive Sol­i­dar­ität her­vor­brin­gen könne.

Dörre hat hier schon die richtige Intu­ition, er konzen­tri­ert sich allerd­ings auf das falsche Symp­tom. Die Wis­senschaft krankt heute vielle­icht auch daran, aus sich her­aus keine sozial­is­tis­chen Leit­bilder mehr for­mulieren zu kön­nen. Wichtiger ist aber das Prob­lem, dass sie sich selb­st von dem Ver­such ver­ab­schiedet hat, die Prob­lem­per­spek­tive ratio­nal zu stellen. Wie ist das zu verstehen?

Wir kön­nen uns fra­gen: Was ist das Prob­lem, auf das eine The­o­rie der exk­lu­siv­en Sol­i­dar­ität, bzw. im Fall von Dörre, eine Ver­all­ge­meinerung der Lux­em­burgschen Axiomatik antworten soll? In let­zter Kon­se­quenz geht es um die Frage nach der richti­gen Strate­gie für eine sozial­is­tis­che Poli­tik. Das kann natür­lich wed­er Dörre, noch Stephanie Hürt­gen, noch Stephan Lessenich oder Son­ja Buck­el so aussprechen. Der Ansatz geht immer von den Kuriositäten ein­er wis­senschaftlichen Analyse zu der vage sug­gerierten Notwendigkeit ein­er radikalen Inter­ven­tion – niemals andersherum.

Die kri­tis­che Wis­senschaft glaubt dabei, es ihren großen Vor­bildern gle­ichzu­tun, sei es nun Marx selb­st, Lux­em­burg oder eben der momen­tan im Trend liegende Gram­sci. Dabei sieht sie nicht, dass ger­ade der poli­tis­chen, und nicht der sozi­ol­o­gis­chen Fragestel­lung ein­er wis­senschaftlichen Unter­suchung bedarf. Die Geschichte der Mod­erne hat längst unter Beweis gestellt, dass sie nicht in der Lage war, eine befriedi­gende Wach­s­tums­geschichte her­vorzubrin­gen. Und genau­so hat der Ver­lauf der Arbeiter*innenbewegung gezeigt, dass diese allein nicht das uni­ver­sale Sub­jekt ein­er Alter­na­tive zu dieser Geschichte darstellt. Das muss heute nicht mehr geson­dert unter­sucht werden.

Insofern über­rascht es, wie viel Vorstel­lungskraft die kri­tis­che Forschung auf­bringt, um sich immer wieder neue Fragestel­lun­gen auszu­denken, mit deren Hil­fe dann Bekan­ntes noch ein­mal nachvol­l­zo­gen wird. Immer­hin: Größen wie Dörre schaf­fen es natür­lich, aus dieser grauen Entropie des über­all gle­ichen Prob­lems (der Apathie der Linken) noch ein­mal die inter­es­san­testen Befunde her­auszu­fil­tern: Die empirische Ein­sicht, dass ger­ade in 99% gew­erkschaftlich dur­chor­gan­isierten Belegschaften ein abso­lut gefes­tigter frem­den­feindlich­er Sozial­dar­win­is­mus herrscht, darf dur­chaus kurz atem­los machen. Im Großen und Ganzen betra­chtet allerd­ings kann auch diese Analyse nicht mehr wirk­lich über­raschen. Glaubte denn wirk­lich noch jemand daran, dass über die Indus­triebe­triebe Deutsch­lands noch ein­mal eine wirk­lich weltweit uni­ver­sale, fem­i­nis­mus­pos­i­tive, antikolo­nial­is­tis­che und anti­ras­sis­tis­che Bewe­gung her­vorge­hen könnte?

Ganz offen­sichtlich sind die Vor­tra­gen­den auf der Tagung der AKG nicht dieser Ansicht. Ihre implizite Fragestel­lung dreht sich darum, auf welche Weise gle­icher­maßen von Außen auf die von Dörre unter­sucht­en Klassen­po­si­tio­nen eingewirkt wer­den kann. Erst aus dieser Per­spek­tive, und das möchte ich mit Nach­druck vertreten, erschließt sich der soziale Sinn der ganzen Ver­anstal­tung. Was hier ver­han­delt wird, sind ver­schiedene Vorstel­lun­gen darüber, wie die im Unter­suchungs­ge­bi­et Bun­desre­pub­lik vorge­fun­dene Mehrheits­bevölkerung poli­tisch agi­tiert wer­den kann. Und erst daraus erschließt sich auch der selt­same Eier­tanz rund um die Frage nach ein­er Klassen­per­spek­tive bzw. ‑poli­tik.

Die zwei Posi­tio­nen, die sich gegenüber­ste­hen, laut­en ganz grob gesagt: Konkretisierung sozial­is­tis­ch­er Utopi­en, in denen sich die Unter­sucht­en auch wiederfind­en kön­nen und möglicher­weise über­laufen, obwohl fak­tisch ihr objek­tives Inter­esse wahrschein­lich ein anderes ist (Dörre) vs. die Pro­lif­er­a­tion eines zwar ide­ol­o­gis­chen, aber deswe­gen umso wirk­sameren Bildes eines glob­alen, ökol­o­gis­chen und sozial gerecht­en Welt­bürg­er­tums, in das eine zumin­d­est im weltver­gle­ich rel­a­tiv wenig unter­priv­i­legierte deutsche Unter- oder Mit­telschicht sich eingliedern könne (Hürt­gen).

Diese (und dritte) Posi­tio­nen wider­sprechen sich natür­lich möglicher­weise in manchen Hin­sicht­en und sind deswe­gen auch Gegen­stand der Debat­te. Hürt­gen wirft Dörre beispiel­sweise vor, dass schon das wis­senschaftliche Reden über eine nationale Arbeiter*innenklasse eigentlich nur einen Gegen­satz sel­biger zur Wel­tenge­mein­schaft repro­duziere. Dörre wiederum gibt zurück, dass der Fakt, dass Wertschöp­fungs­ket­ten glob­al sind, lei­der eben nicht in den Köpfen der nationalen Arbeiter*innen ankom­men mag, und allein die Umstel­lung des Vok­ab­u­lars hier wohl auch nicht viel hilft.

Bei­de Seit­en sind sicher­lich in viel­er­lei Hin­sicht pro­duk­tiv diskutabel. Mir scheint aber, dass der mit Abstand beze­ich­nend­ste Fak­tor, die wirk­liche her­ausstechende Gemein­samkeit bei­der Seit­en diejenige ist, dass die poli­tis­che Fragestel­lung dabei immer erst im Nach­hinein, im Nach­satz, in den let­zten zwei Minuten des Vor­trags, als Schwank oder Seit­en­hieb, als Anhängsel oder Fort­satz ein­er eigentlich sozi­ol­o­gis­chen Per­spek­tive daherkommt. Die ide­ol­o­gis­che Gefahr dabei, und das wäre der wohl wichtig­ste Kri­tikpunkt an der The­o­rieprax­is auch der AKG, ist, dass jed­er dieser Vorträge eine Affir­ma­tion der Ansicht ist, dass die poli­tis­che Fragestel­lung, etwa: „Wie kann im gegen­wär­ti­gen Stand der Geschichte ein gutes Leben für Alle erre­icht wer­den?“, sel­ber kein wis­senschaftlich­er Gegen­stand ist und niemals sein darf.

Insofern wird noch die schnit­tig­ste und wis­senschaftlich fundierteste Per­for­mance eben auch zu einem Prob­lem. Man denke etwa an Lessenichs Analyse der Exter­nal­isierungs­ge­sellschaft. Keine Frage, dass das zu dem durch­dacht­esten und empirisch reich­sten gehört, was die poli­tis­che Sozi­olo­gie so zu bieten hat. Beze­ich­nend jedoch, wie Lessenich expliz­it jede poli­tis­che Dimen­sion sein­er Analyse auss­chließt. Ganz betont schickt er seinem Vor­trag voran, dass seine Forschung wed­er ein neues Phänomen betra­chtet, noch dass seine Analyse eine neue Schlussfol­gerung zieht. Außer Frage ste­ht natür­lich aber auch, dass alte Schlussfol­gerun­gen damit erneuert wer­den. Er wün­scht sich schlicht: gar keine Diskus­sion über Schlussfol­gerun­gen, und schon gar nicht eine Fragestel­lung, die bei einem Prob­lem begin­nt. Und auch Son­ja Buck­el, die schon ganz richtig liegt, wenn sie diese Prax­is, die sie ja sel­ber auch fährt, als „Zeitver­schwen­dung“ o. Ä. beze­ich­net, würde eine solche poli­tis­che Fragestel­lung let­ztlich sich­er zurückweisen.

Insofern wäre eine aktuelle Her­aus­forderung link­er The­o­rie auf jeden Fall, diese the­o­retisch-prak­tis­che Lücke immer wieder aufzuzeigen und darauf hinzuwirken, diese ein Stück weit zu schließen. Dass muss nicht über end­lose meta-the­o­retis­che Ent­larvun­gen und sollte wohl eher nicht über Hin­ter­halte und „Denun­zi­a­tio­nen“ passieren. Es bleibt immer auch zu berück­sichti­gen, dass es viele Felder kri­tis­ch­er Forschung gibt, die es sich tat­säch­lich über­haupt erst erkämpfen mussten, ern­stgenom­men zu wer­den. Es wäre absurd, solchen Bewe­gun­gen jet­zt die Last aufzu­drück­en, das Prax­is­prob­lem der deutsch- und englis­chsprachi­gen poli­tis­chen The­o­rie zu lösen. Von anderen, arriv­iert­eren Posi­tio­nen darf aber dur­chaus etwas mehr erwartet wer­den – zumin­d­est eine ern­ste Antwort auf die Frage, was die Wieder­hol­ung immer­gle­ich­er Prob­leme denn bewirkt.

Im besten Fall allerd­ings erschöpft sich The­o­rie aber wed­er in der Denun­zi­a­tion noch in der begren­zten Kri­tik auf der Meta-Ebene, son­dern find­et neben der reinen The­o­rie auch einen Gegen­stand, an dem sich diese Prax­is­frage abar­beit­en lässt. Aktuell kann zum Beispiel das The­ma Pop­ulis­mus ein solch­er Gegen­stand sein: Sowohl ein empirisch als Betra­ch­tung des recht­en und linken Pop­ulis­mus, aber auch ein the­o­retisch, weil auch die wis­senschaftliche Prax­is einen deut­lich pop­ulis­tis­chen Gesicht­szug trägt. Nicht umson­st begin­nt eine solche Tagung mit Gram­sci-Work­shops, und nicht umson­st hat Hege­moni­ethe­o­rie längst die Rolle ein­er Kri­tik der Herrschaft durch Hege­monie abgelegt und die Rolle ein­er Anleitung zur Kon­struk­tion ein­er Gegen­hege­monie angenom­men. Hier kann die Diskus­sion ansetzen.

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