Where nothing can be defined – Zu Problemen des Liberalismus

Angesichts der tief­greifend­en gesellschaftlichen Regres­sion muss man sich fast angestrengt daran erin­nern, dass der Lib­er­al­is­mus – als konkrete Insti­tu­tion der Gesellschaft wie als Ide­olo­gie – zu kri­tisieren ist. Im Ver­gle­ich zu recht­sna­tionalen Bewe­gun­gen, autokratis­chen Reg­i­men und pop­ulis­tis­chen Chau­vin­is­ten auf dem Vor­marsch mag der Nim­bus der Sta­bil­ität, Weltof­fen­heit und der uni­ver­sal­rechtlichen Ver­sprechen des Lib­er­al­is­mus tat­säch­lich attrak­tiv wirken. Man wäre eventuell beruhigt gewe­sen über einen Wahlsieg Hillary Clin­tons, hat sich vielle­icht das erste Mal real­is­tisch mit der Möglichkeit auseinan­derge­set­zt, das Man­dat ein­er Regierung Merkel aktiv zu ver­längern, find­et Emanuel Macron irgend­wie zukun­fts­fähig oder hat auf ein­mal dieselbe Hal­tung zur AfD wie Chris­t­ian Lindner.

Vielle­icht stimmt es, wir ste­hen nicht vor dem his­torischen Schei­deweg zwis­chen Sozial­is­mus und Bar­barei, son­dern sind eher schon uneinge­s­tanden auf dem Weg zu let­zter­er, weshalb der Still­stand im restlib­eralen sta­tus quo eben sein Gutes hat. Es fällt entsprechend schw­er, sich an die kri­tis­che Analyse jen­er gesellschaftlichen Ver­hält­nisse zu erin­nern, aus denen diese Entwick­lung über­haupt erwach­sen ist. Plöt­zlich scheint eine Selb­stab­gren­zung lib­eraler Ide­olo­geme von den ver­meintlichen Exzessen eines Neolib­er­al­is­mus in Finanz- und Wirtschaft­skrisen gut zu funk­tion­ieren und der Lib­er­al­is­mus darf wieder jenen poli­tis­chen Wert verkör­pern, mit dem er Demokratie und Mark­twirtschaft großgemacht hat: Frei­heit. Prob­lema­tisch daran ist und war es immer, wenn dieses Ver­sprechen nur Ide­olo­gie bleibt, die die Ver­söh­nung des Einzel­nen mit dem gesellschaftlichen Elend besor­gen soll.

Ein erster Hin­weis darauf ist die all­ge­meine Hil­flosigkeit, mit der sich aus lib­eraler Per­spek­tive auf die aktuelle gesellschaftliche Sit­u­a­tion antworten lässt. Der Ver­such jeden­falls, ver­fes­tigte, nation­al-soziale, autoritäre Charak­ter­masken mit Argu­menten für uni­ver­sale Men­schen­rechte, Frei­han­del oder der Diver­sität von Lebens­for­men zu kon­tern, hat etwas Verzweifeltes. Die Hoff­nung auf die ratio­nale Lösung von Kon­flik­ten im Modus des san­ften Zwangs des besseren Argu­ments kommt da an ihre Gren­zen, wo die gesellschaftliche Insti­tu­tion der Ver­nun­ft selb­st schon in Ver­dacht ger­at­en ist, nur ein Kom­plize des kor­rupten Estab­lish­ments zu sein. An der Skep­sis ist auch etwas dran, zieht man die geballte Irra­tional­ität in Betra­cht, mit der sich die mul­ti­plen Krisen Bahn brechen und auf die eine lib­erale Ver­nun­ft nur mit Schul­terzuck­en reagiert.

Dass die ver­meintliche Ver­nun­ft­ba­sis des Lib­er­al­is­mus in schar­fem Kon­trast ste­ht zu all dem Wahnsinn, mit dem Men­schen bis ins 21. Jahrhun­dert hinein geknechtete und erniedrigte Wesen geblieben sind, darf einen nicht dazu brin­gen, sich jen­er davon abge­wandten Regres­sion anzu­ver­wan­deln, die gemein­hin als illib­er­al kri­tisiert wird. Die falschen Pro­jek­tio­nen jen­er Men­schen, die ihre gesellschaftliche Ohn­macht zu prozessieren ver­suchen, indem sie den unaushalt­baren Wider­spruch gegen irgend­was – also irgendwen – richt­en, gegen das man ver­meintlich etwas tun könne, find­en ihre Entsprechung in genau jen­er lib­eralen Selb­st­gewis­sheit, dass die Ras­sis­ten und Sex­is­ten immer nur die anderen sind, irgend­wie auch Fremde. Man muss nicht anfan­gen, die Äng­ste der Anti­ra­tionalen ernst zu nehmen, man muss nicht mit ihnen um eine Deu­tung­shoheit buhlen, wie es Ideen eines Linkspop­ulis­mus vorschla­gen, aber man sollte auch nicht glauben, die gemäßigte gesellschaftliche Mitte vom Zeit-Dossier bis zur SPD würde es schon richt­en können.

Jene Mitte, die unge­fähr den Bere­ich von Men­schen abdeck­en soll, der sich gemein­hin noch zu den Prof­i­teuren ein­er glob­al­isierten Welt zählen kann – deren einziger deut­lich­er Beweis dafür aber meist nur die Angst ist, irgen­deines ihrer Priv­i­legien ver­lieren zu kön­nen –, weist ihre ganz eigene Form ein­er exk­lu­siv­en Sol­i­dar­ität auf, wie sie als Krisen­be­fund ger­ade den ver­meintlich Abge­hängten zugeschrieben wird. Vor dem Hin­ter­grund des eige­nen Uni­ver­sal­is­mus (der Men­schen­rechte, der Frei­heit etc.) has­st die Ide­olo­gie des Lib­er­al­is­mus nicht nur die Feinde der Demokratie und die Illib­eralen, sie ver­ab­scheut alle Extreme gle­icher­maßen, linke, rechte oder unpoli­tis­che. Nicht etwa, weil diese im sub­stantiellen Wider­spruch zum eige­nen Uni­ver­sal­is­mus stün­den, son­dern weil sie die Offen­heit bedro­hen, die jed­er demokratis­chen Diskus­sion­skul­tur und gesellschaftlichen Plu­ral­ität zugrunde liegen muss. Vielle­icht ist daher das Bedürf­nis so groß, mit Nazis reden zu wollen, denn solange das funk­tion­iert, ist gewis­ser­maßen noch alles in Ord­nung. Alles andere – die Zus­pitzung und Radikalisierung, die Abdich­tung gegen den Ein­spruch und der Wahrheit­sanspruch, so krude er sich auch in Ver­schwörungs­the­o­rien etc. aus­drück­en mag – ist die Bedro­hung der Freiheit.

Dieses große Ver­sprechen des Lib­er­al­is­mus, will es denn Bestand haben, muss notwendig for­mal bleiben. Jed­er konkrete Inhalt ist gewis­ser­maßen die Ein­stiegs­droge in den Extrem­is­mus. Und damit bedeutet Frei­heit im lib­eralen Sinne zunächst Unbes­timmtheit. Es ist eine for­male Frei­heit, wie sie am ehesten der Mark­t­för­migkeit entspricht, hin­ter der aber auch immer die Besit­zlosigkeit an den Ver­hält­nis­sen ste­ht. In Zeit­en der aufgelösten Klassen­ver­hält­nisse heißt dies dann vor allem, dass es für alles einen Markt gibt, auf dem man beste­hen muss: Konkur­renz um Glück, Anse­hen, Lifestyle und Genuss sind die Spitzen des Eis­bergs im bedeu­tungslosen Meer der kom­mod­i­fizierten Exis­ten­zen. Die Äquiv­alenz aller Objek­te ist die Grund­lage jen­er ökonomis­chen Ver­hält­nisse, die man unbe­haglich bis ins let­zte intime Detail sein­er Lebens­führung zu spüren bekommt. Nichts­destotrotz ist es die einzige Frei­heit, die wir haben und sie ist, soviel muss man fest­stellen, bedro­ht von etwas, das sich wahrlich nicht ein­mal den Schein gibt, irgen­det­was der Gewalt­för­migkeit, Lieblosigkeit und Kälte kaschieren zu wollen sowie den Hass auf die Besit­zlosigkeit offen aus­brechen lässt, freilich unbe­wusst und an den völ­lig falschen Stellen. An diesem Hass auf die Frei­heit kann ein Mehr des Gle­ichen wenig verän­dern, bleibt zu befürchten.

Der illib­erale Hass auf die Demokratie und der Hass der lib­eralen Demokrat­en spie­len jedoch auf dem­sel­ben Ter­rain. Bei­de fungieren als Pro­jek­tion des unlös­baren Wider­spruchs, der zur Bedro­hung wird. Das eine als Abdich­tung in der abstrak­ten All­ge­mein­heit, das andere in der destruk­tiv­en Nega­tion. Ihre struk­turelle Ähn­lichkeit ist jene Funk­tion, die man gemein­hin als Ide­olo­gie beze­ich­net, weil sie in ein­er bes­timmten repro­duk­tiv­en Rela­tion zu jenen Ver­hält­nis­sen ste­hen, aus denen sie her­vorge­hen. Lib­er­al­is­mus als Ide­olo­gie zu beze­ich­nen kann sicher­lich nicht heißen, ihn als bloßen Schein­charak­ter ein­er verdeck­ten Herrschafts­führung ent­lar­ven zu wollen. Das unsägliche Phan­tas­ma eines lib­eralen Faschis­mus, wie es in Teilen der angloamerikanis­chen Linken dur­chaus Kon­junk­tur hat, ist nicht mehr als die Spiegelung der recht­en Regres­sion. Vielmehr ist die eigentliche Auf­gabe der Kri­tik jen­er Ver­weis auf das Moment eines Lib­er­al­is­mus, der sich in offen­er Abgren­zung zu jenen regres­siv­en Phänome­nen ver­ste­ht, die mit ihm dieselbe gesellschaftliche Grund­lage teilen.

Vielle­icht kön­nte man sagen, dass die Regres­sion, ob in sozial-nationaler oder recht­spop­ulis­tis­ch­er Erschei­n­ung, das falsche Auf­begehren gegen die gesellschaftliche Ohn­macht aus­drückt. Glob­al­isierung, geheime Weltver­schwörung, Regierung des Finanzkap­i­tals – Formeln für eine abstrak­te und anonyme Herrschaft, die man festzu­nageln ver­sucht, um Schuldige benen­nen zu kön­nen, hand­lungs­fähig zu wer­den und es in let­zter Instanz denen „da oben“ mal richtig zeigen zu kön­nen. Der Lib­er­al­is­mus, in einem sehr grundle­gen­den Impuls, kann eben­falls als eine Reak­tion auf die gesellschaftliche Ohn­macht begrif­f­en wer­den, allerd­ings in vol­lkom­men ander­er Rich­tung. Für den Lib­er­al­is­mus ist die Chiffre der Ohn­macht jene der Deter­mi­na­tion, der Vorbes­timmtheit, also der Ein­schränkung von Frei­heit. In diesem Sinne beste­ht die erste Auf­gabe des im weitesten Sinne lib­eralen Denkens in der Abwehr aller Impulse von Essen­zial­isierung, Festschrei­bung, Let­zt­be­grün­dung oder Wesens­bes­tim­mung. Eine Auf­gabe, die natür­lich ihre Berech­ti­gung (min­destens his­torisch) und Dringlichkeit besitzt, die aber ihren blind­en Fleck dort aufweist, wo sie zum for­malen Reflex gewor­den ist.

In genau diesem Sinne scheut die lib­erale Gesellschaft die Extreme nicht wegen ihres jew­eili­gen Inhalts, son­dern auf­grund ihres Anspruchs auf Kohärenz, dem Ver­weis auf die zwin­gen­den Zusam­men­hänge. Diese Weigerung gegen die Kohärenz ste­ht in bemerkenswert­er Weise im Wider­spruch zur Ein­rich­tung ein­er Gesellschaft, die in ihren Grund­la­gen abso­lut kohärent ist, wovon min­destens die Ver­weise auf poli­tis­che oder ökonomis­che Sachzwänge etc. zeu­gen. Was in der illib­eralen Regres­sion die Kom­pen­sa­tion der gesellschaftlichen Ohn­macht durch Ressen­ti­ments gegen ein schwach­es Äußeres ist, die Imag­i­na­tion ein­er Stärke, ist in der lib­eralen Gesellschaft die Vernei­n­ung jen­er struk­turellen Notwendigkeit­en, die der Imag­i­na­tion der Frei­heit zuwider­laufen. Der Wider­spruch zwis­chen Struk­tur und Ide­olo­gie ist dabei natür­lich kein Zufall, son­dern ger­ade die Ver­söh­nung des sehr wohl vorbes­timmten Elends mit ein­er Ver­heißung der Frei­heit, die als for­male Hülle ihren Beitrag für die erstaunliche Repro­duk­tions­fähigkeit jenes gesellschaftlichen Elends beiträgt. Der Weg, diesen Wider­spruch nicht als Regres­sion explodieren zu lassen, ver­läuft nicht über einen weit­eren for­malen Reflex der Frei­heit, der sich der Kohärenz zu entledi­gen ver­sucht, son­dern über die Ein­sicht in die Notwendigkeit.

 

von Alex Struwe

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