Keine Angst vor‘m Kapitalzentrismus

 

Buchbe­sprechung zu Alexan­dra Scheele/Stefanie Wöhl (Hrsg.): Fem­i­nis­mus und Marxismus

2018 | 250 Seit­en | 29,95 € | Beltz Juven­ta | ISBN 978–3‑7799–3052‑5

 

Mate­ri­al­is­tis­che The­o­rie musste seit jeher von anderen The­o­riezweigen an ihren uni­ver­salen Anspruch erin­nert wer­den. Das gilt umso mehr, seit Marx­is­mus immer mehr ein Nis­chen­da­sein fris­tet und sich am aller­lieb­sten mit sich selb­st beschäftigt. Unschätzbar wichtig sind daher die Bemühun­gen der gegen­wär­ti­gen fem­i­nis­tis­chen The­o­riebil­dung, die losen Enden der marx­is­tis­chen Kap­i­tal­is­muskri­tik aufzusammeln.

Der neue Band zu Fem­i­nis­mus und Marx­is­mus aus der Rei­he Arbeits­ge­sellschaft im Wan­del trägt ein großes Stück zu dieser Unternehmung bei. Die Beiträge deck­en nicht nur ein sehr bre­ites The­men­feld ab, son­dern führen auch in den gegen­wär­ti­gen Stand der jew­eili­gen Diskus­sion ein – und Denken das Ver­hält­nis von fem­i­nis­tis­ch­er und Marx­is­tis­ch­er The­o­rie stets von der Seite der „Her­aus­forderun­gen“ (8), die noch zu bewälti­gen sind. Der Band macht ernst mit der Forderung, dass Fem­i­nis­mus nicht ein­fach nur ein weit­er­er Zusatz zu oder Gegen­stand von mate­ri­al­is­tis­ch­er Gesellschaft­skri­tik sein kann, son­dern deren Kat­e­gorien von Grund auf neu geprüft wer­den müssen.

 

Ein The­o­rieprob­lem

Beson­ders der Beitrag von Ingrid Kurz-Scherf bringt diesen Zusam­men­hang auf den Punkt. Darin wird darauf hingewiesen, dass das das eben­so heftige wie kur­zlebige Wieder­auf­flam­men des öffentlichen Inter­ess­es an Marx nicht der primäre Anknüp­fungspunkt für eine ern­sthafte Debat­te sein sollte (vgl. 60), genau­so wenig wie ein rein defen­sives Bünd­nis gegen Wirtschaft­skrise und Recht­sruck (vgl. 69). Anstelle des Ver­suchs, durch hek­tis­ches Aus­graben alter Phrasen eine neue inter­na­tionale Sol­i­dar­ität und eine Wieder­auf­nahme rev­o­lu­tionär­er Prax­is zu simulieren, gelte es anzuerken­nen, „dass das Prax­is­prob­lem der Kap­i­tal­is­muskri­tik auch (!) ein The­o­rieprob­lem sein kön­nte, das seine Ursachen u. a. in Andro- und Eurozen­tris­men des the­o­retis­chen Konzepts von ‚Kap­i­tal­is­mus‘ und der darin enthal­te­nen Dynamik hat“ (63).

Der Marx­is­mus ist hier gle­ichzeit­ig der kri­tisch zu betra­ch­t­ende Gegen­stand, aber auch der aller­vorder­ste Gesprächspart­ner, denn die gegen­wär­ti­gen the­o­retis­chen Schwierigkeit­en drehen sich eben ger­ade um Begriffe, die aus seinem Kon­text her­vorge­gan­gen sind: Arbeit, Pro­duk­tiv­ität, Pro­le­tari­at etc. (vgl. 64). Diese müssten geprüft wer­den auf ihre Rolle in einem etwaigen „Struk­turzusam­men­hang“, auf die Frage nach ihren jew­eili­gen „Eigen­dy­namiken“ und möglich­er „Diver­gen­zen in den jew­eils ver­fol­gten Bedürfnis­sen und Inter­essen“ (67f.), wenn mehrere poli­tis­che Akteure sich auf densel­ben Begriff beziehen. Lei­der ver­säumt es Kurz-Scherf hier, Beispiele für solche möglichen Inter­essens­ge­gen­sätze klar zu benen­nen. Erst später kommt der Beitrag vage auf die „Errun­gen­schaften der Frauen­be­we­gung“ zu sprechen, die es heute –im Gegen­satz zu Marx und Engels’ berühmten Dik­tum– sehr wohl zu ver­lieren gäbe (76).[1]

Zwar stellt Kurz-Scherf mehr oder weniger tre­f­fend fest, dass solche „Inter­essen­skon­flik­te in der sozialen Real­ität auf der Ebene des The­o­rien­stre­its als Konkur­renz von Gel­tungsansprüchen aus­ge­tra­gen [wer­den]“ (68). Anstelle darauf hinzuweisen, dass diese Gel­tungsansprüche lei­der oft erschwindelt sind (das gilt sowohl für den verbleiben­den Rumpf marx­is­tis­ch­er The­o­rie als auch für dezi­diert nicht-marx­is­tis­che Ange­bote) und es daher ein­er Rekon­struk­tion der The­o­rie bedarf, die dann auch Gel­tung erlan­gen soll, scheint Scherfs Lösung aber darin zu beste­hen, es könne doch „der Marx­is­mus in seinen vielfälti­gen Vari­anten seinen Anspruch ana­log [zur fem­i­nis­tis­chen The­o­rie, FG] begren­zen“ (68), und nicht mehr auf eine Darstel­lung der Total­ität der Ver­hält­nisse abzielen.

Hier wird ‚Marx­is­mus‘ mit ‚Kap­i­talver­hält­nis + Klassen­the­o­rie‘ gle­ichge­set­zt. Insofern allerd­ings die Verkürzung gemeint ist, jed­wede soziale Kon­flik­t­lage vol­lum­fänglich aus dem Klassenkon­flikt zu erk­lären, trifft der Vor­wurf des „Kap­i­talzen­tris­mus“ (74) natür­lich den wun­den Punkt ein­er gängi­gen Praxis.

 

Eine The­o­riegeschichte

Der Beitrag von Bir­git Sauer bringt die Ambivalenz im Ver­hält­nis von Fem­i­nis­mus und Marx­is­mus in Bezug auf den Staat auf den Begriff. Dabei geht sie von ein­er offen­sichtlichen Gemein­samkeit aus: Die Frauen­forschung ist eben­so wie die mate­ri­al­is­tis­che The­o­rie auf das Prob­lem der bürg­er­lichen Gesellschaft gestoßen: dass die ver­meintliche innere Befriedung und Egal­isierung nur die verän­derte Form weit­er­hin beste­hen­der, struk­tureller Gewaltver­hält­nisse ist. Auf eine Geschlechter­per­spek­tive gewen­det heißt das, „Ehege­set­ze, Polizei­han­deln und Recht­sprechung bilde­ten bis in die 1990er-Jahre eine Oppor­tu­nitätsstruk­tur für Män­nerge­walt gegen Frauen“ (202). Auf Basis dieser the­o­retis­chen Grundge­mein­samkeit­en präzisiert Sauer den geschlechtlichen Charak­ter von Staatlichkeit.

Aus­ge­hend von vier wesentlichen, größ­ten­teils mate­ri­al­is­tis­chen Staats­be­grif­f­en –Staat als Werkzeug ein­er Klasse etwa bei Marx und Engels), Staat als funk­tion­al für die Aufrechter­hal­tung der Form Kap­i­tal­is­mus (etwa bei Offe), Staat als Are­na des Rin­gens um kul­turelle und ide­ol­o­gis­che Hege­monie (etwa bei Gram­sci und Althuss­er), sowie Staat als Diskurs (bei Fou­cault und Poulantzas)– wird die fem­i­nis­tis­che Debat­te um die Rolle des Staates ange­ord­net. Und zwar ger­ade dort, wo diese Par­al­lelisierung zunächst der Intu­ition zuwiderläuft.

Im Kon­text ein­er instru­men­tal­is­tis­chen Auf­fas­sung wurde der Staat als Werkzeug zur Aus­beu­tung der Frauen durch Kap­i­tal­is­mus und Patri­ar­chat gefasst: „Frauen wur­den in dieser frühen marx­is­tisch-fem­i­nis­tis­chen Debat­te im Sinne des Klassen­be­griffs als ‚Gruppe an sich‘ ver­standen“ (207). Im funk­tionalen Ver­ständ­nis dage­gen ist der Staat nicht nur Werkzeug, son­dern selb­st patri­ar­chal. Insofern als kap­i­tal­is­tis­che Pro­duk­tion stark von unbezahlter Hausar­beit abhängig ist, muss der Staat zum Zwecke sein­er Erhal­tung gezielt Frauen* struk­turell unter­drück­en. Die Auf­fas­sung des Staats als Are­na verträgt sich drit­tens vor allem mit der dual sys­tems analy­sis, die von zwei großen Unter­drück­ungssys­te­men (Kap­i­tal und Patri­ar­chat) aus­ge­ht, und in der der Staat die Rolle des Ver­mit­tlers zwis­chen diesen Inter­essen übernimmt.

Sauer fasst zusam­men, inwiefern all diese Ver­suche zwar jew­eils große Fortschritte erzielt haben, let­ztlich jedoch „eine expliz­it fem­i­nis­tis­che The­o­retisierung von Staatlichkeit und staatlich­er Gewalt in ihrem Zusam­men­spiel mit Män­nerge­walt gegen Frauen [nicht stattge­fun­den hat]“ (208). Erst eine neue Debat­te in den let­zten ca. 30 Jahren hat in dieser Rich­tung neue Schritte unter­nom­men. Lei­der bleibt die Zusam­men­fas­sung ger­ade in diesem Punkt unklar. Ein­er­seits geht es darum, „wie ‚Geschlecht‘ als eine den Staat struk­turi­erende Kat­e­gorie kon­turi­ert und die Vielfalt von Dif­feren­zstruk­turen und sozialen Antag­o­nis­men zu einem sys­tem­a­tis­chen Fak­tor in der Konzep­tu­al­isierung von Staat gemacht wer­den kann“. Ander­er­seits geht es darum, wie Staatlichkeit Geschlecht, Klasse, Eth­nie, Sex­u­al­ität und Reli­gion über­haupt erst als poli­tisch bedeut­same Unter­schiede her­aus­bildet“ (208). Ein­mal struk­turi­ert Geschlechtlichkeit den Staat, ein ander­mal bildet Staatlichkeit die Kat­e­gorie Geschlecht erst aus.

Diese Ambivalenz bildet den gegen­wär­ti­gen Stand der Forschung ab, die zwar zu ein­er Fülle an Beschrei­bun­gen des Staates als „geschlechtsspez­i­fis­ches Gewaltver­hält­nis“ (209) geführt hat, aber rel­a­tiv wenig zu der Frage beiträgt, welche Hand­lung­sop­tio­nen in dessen Angesicht zur Ver­fü­gung ste­hen. Sauer kommt zwar zu dem Schluss, dass Antworten auf spez­i­fisch mod­erne Fra­gen an den Kom­plex Staat-Geschlecht immer vielschichtig aus­fall­en müssen: Etwa, wenn der Schutz von Frauen* vor sex­u­al­isiert­er Gewalt ohne eine Auf­fas­sung von struk­turellem Ras­sis­mus leicht darauf here­in­fällt, wenn Gewalt gegen Frauen* als importiertes Prob­lem dargestellt wird oder Sexar­beit ver­boten wer­den soll, ohne zu sehen, dass Sexar­bei­t­erin­nen oft­mals ger­ade nicht durch patri­ar­chale, son­dern eben kap­i­tal­is­tis­che Struk­turen der Lohnar­beit zur Sexar­beit gezwun­gen sind (vgl. 214).

Was aber nicht aus Sauers Rekon­struk­tion her­vorge­ht, ist, inwiefern diese völ­lig richti­gen Schlussfol­gerun­gen erst mit der diskurs­the­o­retis­chen, dekon­struk­tivis­tis­chen Wende der mate­ri­al­is­tis­chen Staat­s­the­o­rie möglich wer­den. Auch etwa die ange­führten Vertreter ein­er instru­men­tal­is­tis­chen Staat­s­the­o­rie, Marx und Engels, wür­den ja mit Nach­druck darauf beste­hen, dass der Staat ger­ade nicht in dem Sinne als Werkzeug ver­wen­det wer­den kann, mith­il­fe der beste­hen­den sou­verä­nen Gewalt gegen ver­meintliche Täter loszuschla­gen. Auch beispiel­sweise im Vor­wort zu dem von Sauer ange­führten Man­i­fest der Kom­mu­nis­tis­chen Partei stellen Marx und Engels her­aus, dass „die Arbeit­erk­lasse nicht die fer­tige Staats­mas­chine ein­fach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Bewe­gung set­zen kann“.[2]

Sauers eingängige Rekon­struk­tion erzählt den Weg vom tra­di­tionellen zum west­lichen und Postmarx­is­mus ten­den­ziell als unkri­tis­che Fortschritts­geschichte, was sicher­lich der Kürze geschuldet ist. Doch schon die Diag­nose eines instru­mentellen Staatsver­ständ­niss­es zieht eigentlich einen ganzen ungek­lärten Wis­senschaft­szweig nach sich. Auch der Erken­nt­niszugewinn eines funk­tionalen oder hege­moni­ethe­o­retis­chen Zugeständ­niss­es ste­ht heute immer noch zur Debat­te. Und auch die Leis­tung Poulantzas’, die mate­ri­al­is­tis­che Staat­s­the­o­rie mit Michel Fou­cault ins Gespräch zu brin­gen – der ja sein­er­seits dem Marx­is­mus mit demon­stra­tivem Desin­ter­esse begeg­net ist – hat sich noch lange nicht als Erfol­gsmod­ell gezeigt. Bir­git Sauer liefert die Ele­mente, anhand des Prob­lems des Staats eine kri­tis­che The­o­riegeschichte aufzuarbeiten.

 

von Flo­ri­an Geisler

 

  1. Und auch diese Rezen­sion drückt sich schein­bar vor dieser Frage. Wie kann es sein, dass ein großer Teil der von vielfälti­gen Benachteili­gun­gen Betrof­fen­er nicht nur von ein­er marx­is­tis­chen The­o­rie oder kom­mu­nis­tis­chen Poli­tik nicht ange­sprochen, son­dern sich sub­jek­tiv aus­geschlossen fühlt bzw. objek­tiv aus­geschlossen ist? 
  2. Karl Marx/Friedrich Engels 1973 [1872], Vor­wort zur deutschen Aus­gabe, in ders.: Werke, Band 18, 95–96, 96

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