Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990

Es wurde ins­ge­samt viel Aufhebens um Philipp Felschs Rekon­struk­tion der The­o­riegeschichte gemacht – und zu Recht, denn es gelingt ihm auf ein­dringliche Weise, den all­ge­meinen Trend ein­er keines­falls zu unter­schätzen­den Per­spek­tiven­ver­schiebung nicht nur als abstrak­tes Pos­tu­lat, son­dern als konkretes Erleben nachzu­vol­lziehen. Anhand der Biografien der Protagonist_innen des Berlin­er Merve Ver­lags, vor allem also Peter Gente und Hei­di Paris, find­et man sich zunächst in der Auf­bruchsstim­mung der Stu­den­ten­be­we­gung und ihrem harten The­o­rie­jar­gon der marx­is­tis­chen Dialek­tik wieder. Die Radikalisierung, die sich – in der The­o­rie vor­weggenom­men – bis in die RAF fort­set­zte, nährte zugle­ich das Unbe­ha­gen an deren Wahrheit­sanspruch. In diese Zeit der 1970er‑Jahre fiel eine Ori­en­tierungslosigkeit, deren Vaku­um der „begeis­terte Leser und unfähige Schreiber“ (119) Gente mit seinem im Auf­bau befind­lichen Ver­lagspro­gramm zu füllen wusste. Denn „aus Paris kam ein neues Denken nach Deutsch­land, das mit dem Sound der Dialek­tik brach. Die Büch­er von Deleuze oder Bau­drillard […] schienen wichtigere Auf­gaben zu haben, als wahr zu sein“ (13). Der Merve Ver­lag nahm diese Strö­mung gekon­nt auf und über kurze Umwege des ital­ienis­chen Operais­mus, als let­ztes Ver­sprechen radikaler Poli­tik, kam man so auf beispiel­sweise Fou­caults und Deleuzes mikropoli­tis­che Inter­ven­tio­nen. Diese passten sowohl in die aus­ge­fal­l­enen For­mate und Lay­outs des Ver­lags als auch in die sich verän­dernde Land­schaft der Intellek­tuellen, die the­ma­tisch von der Rev­o­lu­tion zur sub­ver­siv­en Geste gewech­selt hat­ten. Die Reskalierung der Maßver­hält­nisse des Poli­tis­chen (Lyotard) ver­half zu ein­er Ethik der Inten­sität (Deleuze) und brachte neue Iko­nen der Spon­tibewe­gung (Fou­cault) mit sich. Dieser Rück­zug aus dem Großkampf­platz der Poli­tik führte die Linken in den Eskapis­mus und später in die res­ig­na­tive Kneipenex­is­tenz, die The­o­rie in die Selb­stre­flex­ion ihrer Textlichkeit oder zur Kun­st und die Geschichte ihrem vielbeschwore­nen Ende zu. In all dem find­en sich Gente und Paris als Pro­tokol­lanten ein­er Epoche eben­so wieder wie als deren Nutznießer, die der The­o­rieland­schaft bis in ihre Verselb­st­ständi­gung zum Unsinn ein erfol­gre­ich­es Verkauf­s­mod­ell zur Seite stell­ten. Inwiefern dieses Phänomen Merve damit wirk­lich als Symp­tom ein­er geschichtlich‑gesellschaftlichen Entwick­lung zu betra­cht­en ist, lässt Felsch aber lei­der unberührt, so als hätte sich dort zufäl­lig eine Verbindung ergeben. Das ist zugle­ich das größte Manko sein­er Abhand­lung, die tat­säch­lich eine bestechende Geschichte darüber erzählen kann, wie es alles so gewe­sen ist im „lan­gen Som­mer der The­o­rie“ – ohne dabei zu fra­gen, warum es eigentlich so gewe­sen ist. Aber genau in dem Punkt ist Felschs Buch selb­st ein Symp­tom der Geschichte, die es erzählt.

 

Philipp Felsch 2015: Der lange Som­mer der The­o­rie. Geschichte ein­er Revolte 1960–1990. München: C. H. Beck.
von Alex Struwe
Der Beitrag erschien zuerst auf Por­tal für Poli­tik­wis­senschaft, URL: http://www.pw-portal.de/rezension/38773-der-lange-sommer-der-theorie_47146

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