Massenhaft Materialismus

Ein ins­ge­samt betra­chtet doch großer Erfolg war die diesjährige His­tor­i­cal Mate­ri­al­ism-Kon­ferenz in Athen, die tra­di­tionell aus dem Umfeld der gle­ich­nami­gen Zeitschrift und den Buchver­la­gen Ver­so, Brill und Hay­mar­ket organ­isiert wird und hal­b­jährlich ihren Stan­dort wechselt.

Die Aus­rich­tung der Kon­ferenz in Athen hat­te einen gewis­sen Sym­bol­w­ert: Kaum ein anderes EU-Mit­glied hat so hart unter der Wirtschaft­skrise gelit­ten wie Griechen­land. Die Frage, wie am besten gegen die Krise oder das Krisen­regime aus Brüs­sel und Berlin zu kämpfen sei, hat hier eine beson­dere, prak­tis­che Bedeu­tung, und entsprechend emo­tion­al wur­den die Debat­ten teils geführt.

Aber dazu später mehr. Denn zuallererst ist festzuhal­ten, dass es bei „his­torischem Mate­ri­al­is­mus“, oder eben auch bei „Marx­is­mus“, nicht nur um Wirtschaft und Finanzen geht, son­dern um die Gesellschaft als Ganzes – und alle ihre Aspek­te und Erschei­n­ungs­for­men. Und so gab es vor allen Din­gen auch viele Diskus­sio­nen über die aktuell weltweit in Fahrt gekommene fem­i­nis­tis­che Bewe­gung, Analy­sen über den glob­alen poli­tis­chen Recht­sruck und vor allem über die Frage, was zum Teufel denn in der ver­fahre­nen Sit­u­a­tion link­er Poli­tik zu tun ist.

Als Materialismus.org waren wir auch vor Ort und schreiben an dieser Stelle unsere Ein­drücke, Ergeb­nisse und Per­spek­tiv­en auf, um sie allen zugänglich zu machen. Wir haben uns beson­ders darüber gefreut, dass das Organ­i­sa­tion­steam erkennbar mehr und mehr Erfolg hat, solche Beiträge sicht­bar zu machen, die nicht in die Sch­ablone des weißen, männlichen Akademik­ers passen.

Erster Tag – Die „Roussauisierung von Marx“?

Die erste Ver­anstal­tung zu Marx und Philoso­phie begann rel­a­tiv ent­täuschend, näm­lich mit ein­er recht kon­ser­v­a­tiv­en Lesart der ver­meintlichen großen Gemein­samkeit­en von Marx und Fou­cault von Despina Paraske­va-Veloudo­gian­ni, die nicht erkennbar etwa über Judith But­lers Ver­sion hin­aus­ge­ht. In aller Kürze: Fou­cault sei ja eigentlich nur der erweit­erte Marx und alle Prob­leme zwis­chen den bei­den wären ja damit dann auch erledigt.

Auf der zweit­en Ver­anstal­tung zu fem­i­nis­tis­ch­er Strate­gie disku­tierte der­weil Clarisse de Almei­da ihre Sicht auf die Wahl des Faschis­ten Bol­sonaro in Brasilien. Sie ging vor allem auch mit der ver­fehlten Poli­tik der Sozial­is­ten in den let­zten Jahren hart ins Gericht, die die Bevölkerung und Arbeiter*innenklasse durch und durch geschwächt habe. Im Anschluss stellte Somayeh Ros­tam­pour ihre Forschungsar­beit über die fem­i­nis­tis­chen Ideen in den kur­dis­chen Bewe­gun­gen vor. Ihre Inter­views haben gezeigt, dass die Kämpferin­nen sich oft gar nicht als „fem­i­nis­tisch“ in einem west­lichen Sinn des Wortes begreifen. Sie warnte vor einem „neu-ori­en­tal­is­tis­chen“, roman­tisieren­den Blick und erin­nerte daran, dass es eine wichtige Auf­gabe sein wird, den fem­i­nis­tis­chen Charak­ter der lokalen Bewe­gun­gen auch nach einem eventuellen Ende des Krieges aufrecht zu erhal­ten, wenn der Druck von außen und damit auch der Zusam­men­halt in den Frauen-Ein­heit­en eventuell weg­fall­en. In Bezug auf Vivek Chib­ber wird betont, dass „lokale“ Bewe­gun­gen nicht immer unbe­d­ingt „pro­gres­sive“ Bewe­gun­gen sind.

In der ersten abendlichen Ple­nar­sitzung erk­lärte Sav­vas Michael-Mat­sas seine Sicht auf die neue Phase des Neolib­er­al­is­mus, dem es bei der Krise nicht nur um Einsparun­gen, son­dern auch um die Erschaf­fung eines generellen Kli­mas der Angst und der Diszi­plin gehe. Diesen Trend habe wiederum beson­ders Fou­cault schon mit dem Begriff Biopoli­tik beschrieben: Der Kap­i­tal­is­mus will nun nicht nur Pro­duk­tion­sweise sein, son­dern den gesamten (auch biologischen/planetarischen) Stof­fwech­sel der Gesellschaft nach seinem Muster regeln. Fou­cault habe damit erfol­gre­ich gegen die Ver­drehung von Marx in einen zahn­losen Rousseau angekämpft.

Sich­er eine ele­gante Idee, doch mit einem großen Denk­fehler ver­bun­den: Wann hat es sich denn beim Kap­i­tal­is­mus ein­mal nicht um den sozialen Metab­o­lis­mus gedreht? Wann soll denn diese Epoche gewe­sen sein, in der sich Kap­i­tal­is­mus nur als Pro­duk­tion­sweise, und nicht auch schon Diszi­plin­ierung- und Unter­drück­ungsweise war? Natür­lich gab es diese Phase nie. Die Nekropoli­tik, wie es heute gerne heißt, also in etwa das Ster­ben-Lassen (von Alten, Kranken, Unnützen, Migrant*innen, etc.), ist nur dann eine neue Phase, wenn man die gewalt­same Geschichte des „frühen“ Kap­i­tal­is­mus vergessen hat. Das ständi­ge Neu-Erfind­en eines ver­meintlich anti-dog­ma­tis­chen, neuen Marx, der Antworten auf vorge­blich neue Phasen des Kap­i­tal­is­mus bere­it hal­ten soll kann – dies war ein­er unser­er stärk­sten Ein­drücke auf der Kon­ferenz – nur dazu dienen, die in Zeit­en der Krise eigentlich doch gar nicht so unzeit­gemäßen Kat­e­gorien des “tra­di­tionellen Marx­is­mus” weit­er zu entk­er­nen, ohne sich ein­er ern­sten Revi­sion zu stellen. So ver­di­en­stvoll der Kampf gegen die „Rousseauisierung von Marx“ ist, wäre es doch auch ange­bracht, kri­tisch über die, wenn man so will, „Fou­caultisierung von Marx“ nachzudenken.

sex­pos­i­tiv antinational

Zweiter Tag – Ein neuer Hauptwiderspruch?

Der zweite Tag begann für uns mit unserem eige­nen Beitrag über das Ver­hält­nis von Krise und Pop­ulis­mus. Wir haben uns in den let­zten Jahren daran geset­zt, uns einen Überblick über ver­schiedene linksradikale Inter­pre­ta­tio­nen zu Krise zu machen und waren über­rascht davon, wie schlecht dieser Bere­ich the­o­retisch aufgestellt ist und vor welch großen Schwierigkeit­en er ste­ht. Wir haben ver­sucht aufzuzeigen, dass die gegen­wär­tig viel gebrauchte Strate­gie, pop­uläre, ober­fläch­lich durch die Krise aus­gelöster Kämpfe an ihrem Stand­punkt „abzu­holen“ und für marx­is­tis­che Per­spek­tiv­en „einzus­pan­nen“, viel eher eine Kapit­u­la­tion vor diesen Schwierigkeit­en als ihre Lösung darstellt.

Mit dem Pub­likum kon­nten wir dieses These kon­tro­vers etwa am Beispiel Jere­my Cor­byn disku­tieren: Auch er ver­sucht im Brex­it-Debakel nur von der öffentlichen Ent­täuschung über die Poli­tik der Kon­ser­v­a­tiv­en zu prof­i­tieren und ver­mei­det es dabei ger­adezu sys­tem­a­tisch, einen klaren, linksradikalen Stand­punkt zur EU auszus­prechen. Die aktuelle Entwick­lung scheint uns recht zu geben: Früher oder später stellt sich die Brex­it-Frage unauswe­ich­lich, und dann wird auch Cor­byn nicht mehr rhetorisch über die Unvere­in­barkeit von Pro- und Con­tra-Brex­it-Posi­tio­nen hin­wegtäuschen kön­nen. Dann wird er sich posi­tion­ieren müssen, und wird ohne einen aus­führlichen, wohlbe­grün­de­ten Stand­punkt zur Geschichte und Rolle der EU in der Krise bei­de Lager nur ent­täuschen kön­nen.[1]

Auch weit­ere Kol­le­gen auf dem Pan­el kamen zu ein­er ver­gle­ich­baren Diag­nose, beson­ders Grig­oris Mark­ou aus Thes­sa­loni­ki, der an den Unter­schied zwis­chen Marx­is­mus und pop­ulärem Key­ne­sian­is­mus erin­nerte und erk­lärte, inwiefern Pop­ulis­mus und Zen­tris­mus zusam­men­hän­gen. Ein The­ma, das in den fol­gen­den Tagen noch heiß disku­tiert wer­den sollte. Anton Jaeger aus den USA lenk­te die Aufmerk­samkeit auf das Prob­lem der „Poli­tik für Massen oder für Klassen?“. Auch er erteilte dem Konzept „Massen ohne Klassen“ eine Absage und erin­nerte daran, dass eine Rück­kehr zur „ein­fachen“ Klassen­poli­tik aber eben­falls eine Illu­sion wäre. An dieser Stelle ein Danke an Pana­gi­o­tis Sotiris, der die Diskus­sion leitete.

Im Ple­narsaal

Viel Inter­esse gab es auch an der Diskus­sion­srunde zur Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart des Faschis­mus. Pen­ny Galani ent­blößte die schiere Dummheit neuer ras­sis­tis­ch­er Diskurse über Genetik und stellte über die Frage „Ist biol­o­gis­ch­er Ras­sis­mus ein­fach nur schlechte Wis­senschaft?“ eine Verbindung zum Ver­hält­nis von Marx­is­mus und Wis­senschaftlichkeit her. Dem Argu­ment, nur ein dialek­tis­ch­er Mate­ri­al­is­mus könne etwas gegen ras­sis­tis­che Ten­den­zen aus­richt­en, kön­nen wir allerd­ings nicht zus­tim­men. Der Vor­wurf, „schlechte Wis­senschaft“ zu betreiben, sollte doch wohl aus­re­ichen, um Ras­sis­ten und Anti­semiten aus linken Diskursen auszuschließen und es ist uns nicht klar gewor­den, warum die Kri­tik an schlechter Wis­senschaft aus­gerech­net mit einem philosophis­chen Werkzeug erfol­gen soll, der Dialek­tik, von dem keine ratio­nale Form vor­liegt und die mit großer Wahrschein­lichkeit ein Relikt aus ein­er längst ver­gan­genen lit­er­arischen Tra­di­tion darstellt.

Anki­ca Čakardić und Alek­san­dar Matković erin­nerten anschließend an das antifaschis­tis­che Erbe von Clara Zetkin und die enge Verknüp­fung der deutschen Indus­trie mit dem Nation­al­sozial­is­mus. „Für kein einziges deutsches Unternehmen lässt sich bele­gen, dass es zur Benutzung von Zwangsar­beit­ern gezwun­gen wurde“ – vielmehr gab es eine nach­weis­bare, hohe Nach­frage nach Zwangsarbeiter*innen seit­ens der Unternehmen, sagt Matković. Lei­der geht in Zetkins unterkom­plex­er Analyse von leeren Ver­sprechun­gen, mit denen die Nazis geködert hät­ten, die Frage unter, ob es nicht doch am Ende objek­tive Inter­essen der Deutschen gab, den Inter­na­tion­al­is­mus zu ver­rat­en. Adri­ana Sil­va Gre­gorut zeigte auf, ähn­lich wie schon Clarisse De Almei­da, wie ger­ade die Mech­a­nis­men des gescheit­erten sozialdemokratis­chen Umverteilung­spro­jek­ts in Brasilien zum Auf­stieg Bol­sonaros führten.

Vor uner­warteten Prob­le­men stand Michael Hein­rich, der in der par­al­le­len Vorstel­lung sein­er neuen Marxbi­ografie die Rel­e­vanz dieses Mam­mut­pro­jek­ts kaum begrün­den kon­nte. Anstelle dessen referierte Hein­rich über Marx­ens poet­is­che Ambi­tio­nen, warum sein Hegelian­is­mus ihm diese Roman­tik ver­bot und was es mit sein­er Dis­ser­ta­tion auf sich habe. Dieses Prob­lem des fehlen­den poli­tis­chen Gehalts sollte sich in der großen Abend­ple­nar­sitzung wiederholen.

Darin zeich­nete Michael Roberts ein ein­drück­lich­es Bild des total­en Ver­sagens der offiziellen akademis­chen Ökonomin­nen und Ökonomen in den let­zten zehn Jahren der Krise und fragte, warum linke Kräfte nicht von dieser Nieder­lage des Lib­er­al­is­mus prof­i­tieren kon­nten. Klar­erweise befände sich die glob­ale Wirtschaft in ein­er ern­sten Depres­sion, die aller Voraus­sicht nach leicht in eine neue Rezes­sion überge­hen kön­nte. Roberts ist ein Anhänger eines alten, aber zen­tralen Argu­ments von Marx, näm­lich dass die Prof­ite der Kap­i­tal­is­ten über län­gere Zeit hin­weg unweiger­lich so tief fall­en wür­den, dass es sich ohne grund­sät­zliche Verän­derung nicht weit­er wirtschaften lasse. Beson­ders von Michael Hein­rich wurde diese Auf­fas­sung lange Jahre vehe­ment kri­tisiert, sowohl philol­o­gisch an Marx’ Tex­ten, als auch sys­tem­a­tisch, denn wie genau eine „grund­sät­zliche Verän­derung“ denn ausse­hen würde, bleibt bei solchen Analy­sen meist unbes­timmt. Roberts sah die klas­sis­chen Ansicht­en zur Krisen­haftigkeit des Kap­i­tal­is­mus nun allerd­ings in der gegen­wär­ti­gen Krise wieder bestätigt. Doch wer von bei­den hat nun Recht? Offen­sichtlich liegt auch hier ein Denk­fehler vor: Wed­er Roberts noch Hein­rich machen sich viel Gedanken darüber, welche Fol­gen ihre the­o­retis­chen Posi­tio­nen haben. Der Kap­i­tal­is­mus stürzt also nach­weis­bar immer wieder in Krisen. Oder eben nicht. So what? Was bedeutet das für linke Kämpfe? Auch dieses Jahr wird diese Frage lei­der wieder von bei­den nicht beantwortet.

Dass die Antwort jedoch Kon­se­quen­zen hat, bewies Costas Lapavit­sas im Anschluss. Lapavit­sas, in Lon­don aus­ge­bilde­ter griechis­ch­er Ökonom, ver­ficht in der griechis­chen Linkspartei Syriza den Aus­tritt des Lan­des aus dem Euro. Sein­er Ansicht nach unter­schei­det sich die gegen­wär­tige, zweite große Welle der Finanzial­isierung der Welt von der ersten Welle am Anfang des 20. Jahrhun­derts. Vor hun­dert Jahren habe die boomende Indus­tri­al­isierung eine Nach­frage nach Kred­iten und Kon­vert­ibil­ität erzeugt und so die Banken nach ihren eige­nen Bedürfnis­sen geschaf­fen. Heute säße die Indus­trie aber bere­its auf unbe­grei­flichen Kap­i­tal­massen und habe ger­ade kein Bedürf­nis nach neuem Kap­i­tal, weil sich neue Inver­sti­tio­nen und Wach­s­tum über­haupt nicht lohnen.

His­torische Reak­tio­nen auf Zentrismus

Die Banken hät­ten sich deshalb von den Fir­men emanzip­iert und in Staats- und Haushalt­skred­iten ein neues, boomendes Betä­ti­gungs­feld gesucht. Im Jahre 2000 habe dieses Feld, das im Wesentlichen ja nichts anderes als eine gesellschaftliche Umverteilung von Geld weg von Staat­shaushal­ten und Pri­vathaushal­ten bedeutet, in manchen Regio­nen sagen­hafte 30% des gesamten Wirtschaft­stätigkeit angenom­men: Von jeden 100 ins­ge­samt umge­set­zten Euro sind 3 Euro direkt von Staat- und Pri­vathaushal­ten an die Banken geflossen. Im Gegen­satz zu Lenins Zeit­en sei es daher nicht die Ver­schränkung, son­dern ger­ade die Unab­hängigkeit der Zen­tral­banken von der Indus­trie, die diesen Aus­beu­tungsmech­a­nis­mus möglich macht. Darunter lei­det am Ende auch die Realökonomie: Die Haushalte wer­den der­art zahlung­sun­fähig, dass sich Pro­duk­tion nicht mehr lohnt. Gesellschaftlich kon­trol­lierte Zen­tral­banken wür­den daher naturgemäß die Infla­tion erhöhen, um Ihre Schulden zu entwerten (oder gle­ich ganz zu annul­lieren) und so wieder zahlungs­fähig zu wer­den. Das kön­nen sie aber nicht, nicht weil die Zen­tral­banken abhängig sind, son­dern weil sie ger­ade unab­hängig sind von staatlich­er Weisung.

Weil die Staat­en aber umgekehrt nichts anderes tun kön­nen, als den Aus­ter­itätsvor­gaben zu entsprechen, wür­den daher unweiger­lich alle zivilge­sellschaftlichen und sozialpoli­tis­chen Pro­jek­te einges­part und dieses finanzielle Sparen resul­tiert in kon­ser­v­a­tive poli­tis­che Stim­mung. Ger­ade deshalb sei es aber das Gebot der Stunde, trotz aller Zweifel, diesen Mech­a­nis­mus zu brechen und die nationale (eine andere sei nicht in Sichtweite) Sou­veränität über die Banken wieder­herzustellen, selb­st wenn das eine Koali­tion mit erstark­enden kon­ser­v­a­tiv­en Kräften bedeute. Mit anderen Worten, Lapavit­sas plädiert mit viel Lei­den­schaft für eine mod­erne und vielle­icht sog­ar berechtigte Neuau­flage ein­er Hauptwider­spruch­s­these, auch wenn er den Begriff selb­st sich­er zurück­weisen würde: Fiskalis­che Aus­ter­ität zieht unweiger­lich ein Erstarken von sozialer Kon­ser­v­a­tiv­ität nach sich, die einzige Chance, aus ein­er Min­der­heit­en­po­si­tion daran etwas zu ändern, ist ein Aus­bruch aus der Aus­ter­ität, sei es auch mith­il­fe von kon­ser­v­a­tiv­en Kräften.

Diese Posi­tion wür­den wir in Erman­gelung ein­er besseren Beze­ich­nung „neuer Zen­tris­mus“ nen­nen. Wir denken, dass sich an dieser Frage vieles über die näch­ste Dekade der linken Kräfte entschei­den wird.

Dritter Tag – „Ideologie ohne Basis“

Die Ple­nar­sitzung am darauf­fol­gen­den Sam­stags drehte sich genau um diesen „Neozen­tris­mus“. Als Plat­tform für die Posi­tion eines gemäßigten, pop­ulären Sozial­is­mus (alle Rede­beiträge kamen aus dem unmit­tel­baren Umfeld des Jacobin-Mag­a­zins) wurde im weitesten Sinne für bre­ite gesellschaftliche Bünd­nisse als neue Strate­gie gewor­ben. Mith­il­fe großer Parteien und Organ­i­sa­tio­nen kön­nte die Unzufrieden­heit der Massen artikuliert wer­den. Uns hat dieser Stan­dunkt ver­wun­dert, scheint es uns doch so, dass ger­ade diese großen Parteien sich nicht nur geweigert haben, alter­na­tive poli­tis­che Stand­punk­te zu artikulieren, son­dern vielmehr maßge­blich an der Zer­schla­gung dieser Stand­punk­te teil­haben, wir denken dabei etwa an die unrühm­liche Rolle der deutschen Sozialdemokratie in der Geschichte der Antiglob­al­isierungs­be­we­gung, die epochale Diszi­plin­ierung der radikalen ökol­o­gis­chen Bewe­gung durch grüne Parteien, u.v.m.

Die Jacobin-Frak­tion?

Beson­ders ver­wun­dert hat uns die Posi­tion der Genossin Ines Schw­erdt­ner, die eben­falls für einen erhöht­en Aus­tausch (=„prac­ti­cal dialec­tics“) auch mit den kon­ser­v­a­tiv­en Armen der großen Parteien wirbt, um die Artiku­la­tion von alter­na­tiv­en Forderun­gen zu fördern. Unser­er Ansicht nach existieren solche Artiku­la­tio­nen ja bere­its auf den Straßen, und zwar seit vie­len Jahren, und die Abwe­sen­heit von Sol­i­dar­ität seit­ens der Parteien kann nicht durch man­gel­nde Kom­mu­nika­tion oder „Sek­tier­ertum“ erk­lärt wer­den, son­dern nur durch den Unwillen, ja die offen­bare Geg­n­er­schaft der großen Parteien gegenüber den Forderun­gen der Jugend und der radikalen Linken. Doch genau das scheint den poli­tis­chen Gehalt des neuen Zen­tris­mus auszu­machen: Wer aus ein­er Posi­tion der Schwäche her­aus eine Allianz mit der Sozialdemokratie anstrebt, kann ja gar nicht anders, als deren Fehler zu ignori­eren oder zumin­d­est kleinzure­den. Es scheint uns so, dass zwis­chen dieser Strate­gie ein­er­seits, und der Strate­gie ein­er unab­hängi­gen Strate­gie mit inhaltlich­er Integrität ander­er­seits eine wichtige Bruch­lin­ie für die gegen­wär­tige Linke liegt.

Kaitlin Peters entwick­elte außer­dem eine span­nende Per­spek­tive im Anschluss an Sil­via Fed­eri­ci zum Begriff „Frauen“ als rela­tionale Kat­e­gorie nach dem Vor­bild von „Klasse“, die eben­falls nicht als Iden­tität son­dern als Ver­hält­nis gemeint ist. Branisla­va Petrov stellte eine span­nende Studie zu häus­lich­er Gewalt und Miss­brauch vor und erin­nerte an ein Konzept der früh ver­stor­be­nen jugoslaw­is­chen Fem­i­nistin Lydia Skle­vicky, namentlich der „Ide­olo­gie ohne Basis“, ein­er inter­es­san­ten Brücke zwis­chen den „häus­lichen“ Pro­duk­tion­sweisen und ein­er mate­ri­al­is­tis­chen Auf­fas­sung von Ide­olo­gie. Ari­ad­ni Polichro­niou exper­i­men­tierte mit ein­er Erweiterung von But­lers Gedanken zu „Ver­let­zlichkeit“ als grundle­gen­dem Konzept für poli­tis­che Theorie.

Letzter Tag – Feindbilder

Colleen Lye schloß an die Diskus­sion zum Ver­hält­nis­be­griff an und rekon­stru­iert die Debat­ten der radikalen Linken in der USA in den 70ern rund um (dou­ble) exploita­tion und (dou­ble) oppres­sion. Sie erin­nerte daran, dass der ver­meintlich klas­sisch-mate­ri­al­is­tis­che Begriff „Aus­beu­tung“ an sich noch kein fer­tiges Werkzeug für eine Linke ist, son­dern sich immer zu Unter­drück­ung und Herrschaft in Bezug set­zen muss, um diese Bedeu­tung zu erlangen.

Das Abschlusspan­el mit Anki­ca Cakardic, Hol­ly Lewis, Lynne Segal und Angela Dim­i­traka­ki offerierte weit­ere Per­spek­tiv­en auf eine Zusam­men­führung von fem­i­nis­tis­ch­er und mate­ri­al­is­tis­ch­er The­o­rie, wobei über­raschen­der­weise ger­ade der xenofem­i­nis­tis­che Ansatz von Dima­trika­ki zum Wei­t­er­denken anregte: Die zunehmende Dig­i­tal­isierung der Kör­p­er, die Selb­staus­beu­tung und die sekun­den­ge­nau getak­teten Aus­beu­tungsver­hält­nisse macht­en es immer schw­er­er, in den Nis­chen der Ver­hält­nisse die neuen Sub­jek­te auszu­machen, die es anzus­prechen gelte. Umso wichtiger, sich auf den materiellen Gehalt der Ver­hält­nisse zu besin­nen, denn auch wenn Net­zw­erke wie Uber oder Airbnb, Fahrrad­kuri­er­di­en­ste und Leih­mut­ter­a­gen­turen nicht in der­sel­ben Weise zu „enteignen“ sind wie indus­trielle Fir­men, so ver­schwindet die Wirk­mächtigkeit klas­sis­ch­er Aus­beu­tung doch nicht, son­dern trans­formiert sich nur.

Wie also eine ein­heitliche und schlagkräftige Strate­gie entwick­eln? Etwas, das natür­lich immer geht, ist das inter­na­tion­al lei­der immer noch anerkan­nte Mit­tel der “legit­i­men Israelkri­tik”. Wurde schon während der Kon­ferenz (zurecht) immer wieder die Schlüs­sel­rolle der deutschen Linken her­vorge­hoben, deren Krise auf­grund der tonangeben­den Rolle der BRD in der EU umso schw­er­er wiegt, so war das Prob­lem (zu Unrecht) schnell iden­ti­fiziert: Es sei natür­lich aus­gerech­net der Nahostkon­flikt, der die deutsche Linke spalte und Europas Ret­tung hänge doch jet­zt ganz deut­lich davon ab, die Linke müsste endlich klar Farbe beken­nen und Schluß machen mit ein­er dif­feren­zierten Analyse des Konflikts.

Es mag aus der Auße­nan­sicht wohl so scheinen als sei die linke in Deutsch­land unangemessen ges­pal­ten, und sich­er ist daran ein Funken Wahrheit insofern, als dass diese Spal­tung zum größten Teil als Iden­tität kon­sum­iert wird. Immer wieder hört man, dass Linke aus anderen Län­dern gar nicht ver­stün­den, was denn über­haupt der Grund Spal­tung der deutschen Linken sei (was sich auf der Kon­ferenz im übri­gen nicht bestätigt hat, war es doch so, dass ger­ade Beiträge aus Osteu­ropa sowie aus Griechen­land selb­st eine große Fein­füh­ligkeit rund um das The­ma Arbeit­erk­lasse und Faschis­mus bewiesen haben). Allein, Igno­ranz ist kein gutes Argu­ment, und so scheint uns doch eine ges­pal­tene Linke immer­noch attrak­tiv­er als eine, die, wie hier geschehen, auf dem Nach­hauseweg noch gerne auf ein Getränk zum örtlichen Israel-Boykott-Fes­ti­val trifft.

  1. https://derstandard.at/2000103979088/Labour-in-der-Brexit-Falle

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