Keine Propheten

Zur Neuau­flage von Leo Löwen­thals „Falsche Propheten. Stu­di­en zur faschis­tis­chen Agitation“:

Die Anziehungskraft und der Mobil­isierungser­folg rechter Ver­schwörungside­olo­gien gibt Rät­sel auf. Ist es ein Recht­sruck der von der Sozialdemokratie Ent­täuscht­en? Ein ver­drängter Klassenkon­flikt? Ist es die Ver­ro­hung der Öffentlichkeit und sind da poli­tis­che Emo­tio­nen am Werk? Oder ist es ein Auf­begehren gegen die gefühlte Unsicher­heit ein­er regres­siv­en Mod­erne, gegen Abstiegsäng­ste und Sou­veränitätsver­lust? Solche Diag­nosen liefern zwar Deu­tungsmöglichkeit­en der Regres­sion, aber keine Erk­lärung. Sie haben keine Begriffe für die gesellschaftlichen Grund­la­gen der Ver­fallser­schei­n­un­gen des Lib­er­al­is­mus und sein­er poli­tis­chen Kul­tur. Das wiederum ist die Antwort darauf, „warum eine trock­ene, scho­nungslose Kri­tik der Mech­a­nis­men rechter Agi­ta­tion in der Gegen­wart vielfach so schw­er fällt“.

Mit dieser Frage for­muliert Car­olin Emcke das gegen­wär­tige Prob­lem in ihrem Nach­wort zur Neuau­flage von Leo Löwen­thals Falsche Propheten. Stu­di­en zur faschis­tis­chen Agi­ta­tion, die dieser Tage im Suhrkamp Ver­lag erscheint. Löwen­thal, so ihre Ein­schätzung, sei so aktuell, weil er „uns jene Begriffe und Meth­o­d­en [schenkt], mit denen sich diese düsteren Zeit­en bess­er und genauer ver­ste­hen lassen“. Tat­säch­lich ist Löwen­thals Unter­suchung der Struk­tur faschis­tis­ch­er Pro­pa­gan­da nach wie vor bemerkenswert, auch wenn sie bere­its 1949 als Beitrag zu den vom exilierten Insti­tut für Sozial­wis­senschaft her­aus­gegebe­nen Stud­ies in Prej­u­dice erschien. Seine Studie klärt umfassend über die spez­i­fis­che Bear­beitung der, wie man heute sagen würde, Äng­ste und Sor­gen der Men­schen auf, zeigt ihre Mech­a­nis­men und Motive. Aber vor allem, und das ganz im Gegen­teil zur gegen­wär­ti­gen Auseinan­der­set­zung, find­et er zu deren Erk­lärung einen gesellschaft­s­the­o­retis­chen Begriff: das Unbehagen.

Auf den ersten Blick scheint der Begriff wenig konkreter als etwa Unsicher­heit oder Abstiegsangst. Aber Löwen­thal kann damit Regres­sion als Aus­druck konkreter gesellschaftlich­er Ver­hält­nisse begreif­bar machen. Unbe­ha­gen beze­ich­net die, berühmter­weise von Sig­mund Freud entliehene, „Gefühlsam­bivalenz“ eines freien Indi­vidu­ums, das, um Indi­vidu­um zu sein, zugle­ich seine Triebe unter­drück­en muss. Es ist der „Grundzu­s­tand des mod­er­nen Lebens: der Malaise, des Unbe­ha­gens“, der in der fortschre­i­t­en­den bürg­er­lich kap­i­tal­is­tis­chen Gesellschaft zu immer schär­fer­en Wider­sprüchen führt. Auf diesem Zus­tand baut die Agi­ta­tion auf, indem sie die daraus erwach­senden Gefüh­le von Mis­strauen, Angst und Depri­va­tion artikuliert, aber genau so weit im Ungewis­sen behält, dass sie aus­beut­bar wer­den. Anders als der Lib­er­al­is­mus, der die Gefüh­le als irra­tional abtut und den Wider­spruch mit dem Ver­weis auf die Idee von Frei­heit und Gle­ich­heit überdeckt, ist die faschis­tis­che Agi­ta­tion ver­meintlich ehrlich. Sie benen­nt die Kon­flik­te und das Lei­den, holt die Men­schen dort ab, wo sie ste­hen. Aber „statt sie als Symp­tome eines üblen Zus­tands aufzudeck­en, behan­delt der Agi­ta­tor die stereo­typen Äußerun­gen des Unbe­ha­gens als ein legit­imes Bedürf­nis“ und affir­miert dieses.

Solche Äußerun­gen sind etwa der gefühlte Betrug angesichts der gesellschaftlichen Ver­sprechen, die Ver­lier­errolle gegenüber den Prof­i­teuren, die sich zusam­menge­tan haben müssen zu ein­er Ver­schwörung, für die lib­erale Ideen und Insti­tu­tio­nen nur ein Deck­man­tel sind. In der ständi­gen Beschwörung solch­er Para­noia staut sich enorme Aggres­sion an, die wiederum kanal­isiert und umge­lenkt wer­den kann, als eine Art Ersatzbe­friedi­gung. Die Aggres­sion wird an über­mächti­gen Fein­den geschürt, an den ‚kom­mu­nis­tis­chen Agen­ten‘ der Weltver­schwörung, den Bankern und Bonzen, dem kor­rupten Staat und sein­er Elite oder an Flüchtlin­gen. Aber aus­gelebt wird sie an den hil­flosen Fein­den: den unanständi­gen Krim­inellen, die in den Knast gehören, den degener­ierten Per­versen, denen man die Todesstrafe wün­scht, oder all­ge­mein an den ‚Par­a­siten‘. Die „Umwand­lung des Fein­des vom gefährlichen Ver­fol­ger zum ver­fol­gten Opfer“ ist dabei die Kom­pen­sa­tion der eige­nen Schwäche und das Grund­muster der kom­plex­en Feind­kon­struk­tion im Antisemitismus.

Wenn das emo­tionale Sub­strat des Unbe­ha­gens auf den ‚wirk­lichen‘ Feind gelenkt ist, entste­ht daraus die Bere­itschaft, sich der Führung anzu­ver­trauen und sich den dif­fusen Beschwörun­gen eines Kampfes zwis­chen unver­söhn­lichen Kräften hinzugeben, darin zu ein­er Bewe­gung zu ver­schmelzen. Diese Ver­mas­sung funk­tion­iert über den Hass und die Abscheu gegen das aufs Konkrete pro­jizierte Unbe­ha­gen. Jede Reflex­ion auf die Falschheit dieser Pro­jek­tion wird dabei unter­bun­den, durch ständi­ge Alarm­bere­itschaft und die Diskred­i­tierung von Intellek­tu­al­ität als Betrug am ehrlichen, ein­fachen Men­schen. Der­maßen von Eigen­ständigkeit abgeschnit­ten, bleibt der Anhänger „der ent­täuschte, mißbrauchte Unter­legene, dem der Agi­ta­tor nichts anderes zu bieten hat als die nut­zlose Mobil­isierung sein­er Aggres­sion­sim­pulse gegen den Feind“, um damit „das Pub­likum zur autoritären Diszi­plin zu erziehen“.

Der Agi­ta­tor selb­st muss für diese Bear­beitung kein teu­flis­ch­er Trickser oder Ver­führer sein, seine Anziehungskraft ver­dankt sich ein­fach der beste­hen­den Ressen­ti­ments, die er nur abzu­rufen braucht. Er biedert sich als Ver­größerung des narzis­tis­chen Massen-Ichs an, als der „große ‚kleine Mann‘“, der „viel lieber Golf spie­len würde“. Seine Macht­ba­sis ist fol­glich der Zus­tand der kaput­ten Indi­viduen: „Er ter­ror­isiert sie mit der Vorstel­lung zahllos­er gefährlich­er Feinde und erniedrigt die ohne­hin beschädigten Indi­vid­u­al­itäten zu Krea­turen, die nur noch reak­tiv­en Ver­hal­tens fähig sind. […] Er bietet ihnen Trost für ihr Unbe­ha­gen […] und wird zum exter­nen Ersatz für ihre nicht inte­gri­erte Individualität“. 

Statt Befreiung gibt es mehr Abhängigkeit, deren Wider­spruch zur Frei­heit der eigentliche Ursprung des Unbe­ha­gens ist, das sich der Agi­ta­tor für den Macht­gewinn zunutze macht. Die Erlö­sung aus dem gesellschaftlichen Elend ist daher die Selb­stzer­störung des freien Indi­vidu­ums, als Rache an der falschen Welt, die seinem Lei­den zugle­ich einen höheren Sinn sug­geriert. Real bedeutet es aber nur „die bedin­gungslose Unter­w­er­fung unter die beste­hen­den gesellschaftlichen Machtver­hält­nisse“. Mit diesem Schluss Löwen­thals wird deut­lich, wie es Theodor W. Adorno her­vorhob, dass die faschis­tis­che Pro­pa­gan­da eine „struk­turelle Ein­heit“ bildet, eine „Gesamtkonzep­tion, die jedes Wort, das gesprochen wird, bes­timmt“. Diese Ein­heit ist das Autoritäre. 

Löwen­thals eigentlich­er Gehalt beste­ht darin, mit dem Autori­taris­mus einen konkreten Begriff der Gesamtheit gesellschaftlich­er Phänomene anzubrin­gen. Seine Würdi­gung als „Klas­sik­er der poli­tis­chen Psy­cholo­gie“, wie es der Ver­lag ankündigt, geht daran vor­bei und ist eine ekla­tante Fehlein­schätzung des Arbeit­szusam­men­hangs des Insti­tuts für Sozial­forschung, zu dem Löwen­thal gehörte. Wie Adorno etwa in den jüngst von Eva-Maria Ziege her­aus­gegebe­nen Bemerkun­gen zu ‚The Author­i­tar­i­an Per­son­al­i­ty‘ zweifels­frei zu ver­ste­hen gab, ging es dabei nie um eine psy­chol­o­gis­che The­o­rie, son­dern, wie er an ander­er Stelle sagte, um „eine über den Bere­ich der Psy­cholo­gie weit hin­aus­re­ichende ent­fal­tete The­o­rie der Gesellschaft“.

Ohne diesen Anspruch ist man sehr leicht ver­führt, in Löwen­thals Analyse ein­fach jene Instru­mente, Meth­o­d­en und Begriffe zur Aufk­lärung der Gegen­wart sehen zu wollen. Zweifel­los weckt Falsche Propheten viele Assozi­a­tio­nen von Trump bis QAnon und erzählt schein­bar allzu Bekan­ntes. Aber Löwen­thals Autori­taris­mus liefert keine Formel, die ein­fach über­trag­bar wäre. Emck­es Nach­wort deutet daher zurecht den „Auf­trag an uns Nachge­borene“ an, „die gesellschaftlichen, ökonomis­chen, poli­tis­chen Bedin­gun­gen dieser begrün­de­ten Verun­sicherung in unser­er eige­nen Zeit dingfest zu machen“. Aber sie meint damit kaum mehr als die Diag­nose der „Bruch­stellen demokratis­ch­er Repräsen­ta­tion“ und der Bedro­hung der res pub­li­ca, so als gebe es einen unge­broch­enen Zus­tand lib­eraler Demokratie. Diese lib­erale Hoff­nung darauf, dass es sich nur um Defek­te in der Umset­zung eines Ideals han­delt, hat­ten schon Horkheimer und Adorno in der Dialek­tik der Aufk­lärung als jene „Ohn­macht“ beschrieben, die „den Feind der Ohn­macht an[zieht]“, und damit Anteil an der Regres­sion trägt. 

Löwen­thal ste­ht genau dafür, diesen Zusam­men­hang begreifen zu kön­nen, als Gesellschaft­s­the­o­rie. Aber nicht als abstrak­te Bes­tim­mung ein­er regres­siv­en Mod­erne oder als Entwick­lungsstufen der Demokratie, son­dern so konkret es nur geht, his­torisch spez­i­fisch, in ein­er Entwick­lung am Mate­r­i­al, sodass die The­o­rie ihre All­ge­me­ingültigkeit an der Objek­tiv­ität gesellschaftlich­er Ver­hält­nisse gewin­nt. Das ist es, was heute so schla­gend, gar the­o­retisch über­legen wirkt und was sich wed­er als Klas­sik­er muse­al­isieren noch ein­fach aktu­al­isieren lässt. Die Wahrheit hat hier einen Zeitk­ern, wie es so schön heißt. Das Inspiri­erende an Löwen­thal ist daher, dass er die Fähigkeit besitzt, diese Wahrheit zu sagen.

Der Artikel erschien zuerst in Jun­gle World 07/2021.

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