Rückkehr und Fortschritt. Didier Eribon und der Zustand der Linken

Als ich jüngst mit lin­ken Freun­den und Bekann­ten ins Gespräch über die Wahl Donald Trumps kam, wur­de mir schlag­ar­tig klar, in welch deso­la­ter Situa­ti­on wir uns befin­den. Unab­hän­gig von­ein­an­der äußer­te sich bei vie­len der letz­te Schluss, es hel­fe wohl nur noch ein Atten­tat. Nun hat­te man sich also der Regres­si­on schluss­end­lich anver­wan­delt, die man zuvor noch in selbst­ge­wis­ser Distanz als Ver­ro­hung und Bar­ba­ri­sie­rung abur­teil­te. Es ist weni­ger die kon­kre­te For­de­rung – die nicht ernst und nie­mals pro­gram­ma­tisch gemeint sein dürf­te –, viel­mehr das unter­schwel­li­ge Zuge­ständ­nis an jenen hilf­lo­sen Zynis­mus, der zutiefst beun­ru­hi­gend ist. Die Hilf­lo­sig­keit kumu­liert dort, wo die Welt, oder zumin­dest ein Ver­ständ­nis von ihr, sich der Kon­trol­le voll­ends ent­zieht. Mit Trump tritt das Abseh­ba­re ein, das doch bis zuletzt als unmög­lich galt. Der Moment also, in dem die rea­lis­ti­sche Ana­ly­se zur naiv idea­lis­ti­schen Hoff­nung degra­diert wur­de und man sich auf der­sel­ben Stu­fe der intel­lek­tu­el­len Wehr­lo­sig­keit gegen den Zusam­men­hang befin­det wie die Ver­schwö­rungs­theo­rie oder der Pegida-Aufmarsch.

Lan­ge ließ sich die­se Ent­wick­lung schon als ein Pro­zess intel­lek­tu­el­ler Ent­eig­nung beob­ach­ten: Der Mil­le­ni­um­s­hype des Alter­mon­dia­lis­mus wur­de mit dem war on ter­ror her­aus­ge­for­dert und ver­klang anschlie­ßend in der Depres­si­on der glo­ba­len Finanz- und Wirt­schafts­kri­se. Das letz­te Auf­bäu­men in den Hoff­nun­gen auf die zahl­rei­chen Beset­zun­gen von Occu­py bis zum Tah­r­ir-Platz hat­te dem Regress schon nicht mehr viel ent­ge­gen­zu­set­zen, und dort, wo man es wie in Grie­chen­land oder Spa­ni­en mit­tels Insti­tu­tio­na­li­sie­rung in Par­tei­en ver­such­te, wur­de schnell klar, dass das vor­pro­gram­mier­te Schei­tern der Lin­ken nur der fol­ge­rich­ti­ge nächs­te Schritt der­sel­ben Regres­si­on war (nicht umsonst freu­ten sich die Faschis­ten in Grie­chen­land über Syri­zas Wahl­sieg, man ließ sie machen, da man kal­ku­lier­te, in ihrem Schat­ten als die ein­zi­ge Alter­na­ti­ve auf­stei­gen zu kön­nen). Vom Gesichts­punkt einer anders mög­li­chen Welt eng­te sich das Blick­feld zuse­hends ein auf den wie­der not­wen­di­gen anti­fa­schis­ti­schen Ver­tei­di­gungs­kampf gegen den brau­nen Mob. Die loka­len Antif­a­struk­tu­ren hat­ten gera­de ihre Selbst­fin­dung in Fusio­nen und Theo­rie­ar­beit vor­an­ge­trie­ben, die Theo­rie­lin­ke wie­der­um war für kei­nen Stra­ßen­kampf zu gebrau­chen. Mitt­ler­wei­le ste­hen die Zei­chen vie­ler­orts auf Ver­tei­di­gung der eman­zi­pa­to­ri­schen Basics, wäh­rend der reak­tio­nä­re back­lash schon längst Par­la­ments­wah­len anvi­siert. Genau an die­sem Punkt greift die Ver­lus­ter­fah­rung, in der das Nach­den­ken über die befrei­te Gesell­schaft zum Ana­chro­nis­mus degra­diert wurde.

Dies als Ent­eig­nung zu benen­nen soll­te kei­nes­falls den Blick dar­auf ver­stel­len, dass es sich mit­nich­ten um einen äußer­li­chen Pro­zess han­delt. Lin­ke Theo­rie und Pra­xis hat sich ihre Schwä­che aus sich selbst her­bei­ge­führt und den ursprüng­lich reak­tio­nä­ren Vor­wurf, ein Blick auf das gro­ße Gan­ze sei immer schon latent tota­li­tär, zum tiefs­ten Selbst­ver­ständ­nis inter­na­li­siert. Die Waf­fen der Kri­tik wur­den als Dekon­struk­ti­on und Hege­mo­nie­theo­rie neu kon­zi­piert, die Per­for­ma­ti­vi­tät des Wis­sens, die Effek­te der Macht, die Sub­jekt­po­si­tio­nen als Ziel anvi­siert. Unter­schwel­lig treibt dies den, wie Bini Adamc­zak sagen wür­de, Ver­lust des revo­lu­tio­nä­ren Ver­lusts vor­an. Eine ver­dop­pel­te Depres­si­on, die selbst in der von links so gern ange­eig­ne­ten Pop­kul­tur offe­ner zuta­ge tritt als in der Theo­rie: in dif­fu­sem Lei­den im kal­ten Hedo­nis­mus der Tech­no­sze­nen, intel­lek­tu­el­lem Vaku­um des Dub á la Buri­al oder der uto­pis­ti­schen Absa­ge Radioheads (Don’t get any big ideas/they’re not gon­na hap­pen). Umso zyni­scher, dass nun von Lin­ken selbst beklagt wird, es feh­le an lin­ken Visio­nen. Bevor naiv der Uto­pis­mus beschwo­ren wer­den soll­te, fehlt es zuerst an lin­ker Erkenntnisfähigkeit.

Das ist nicht leicht zu ver­dau­en, denn es steht zunächst noch vor jeder Mög­lich­keit einer direk­ten Umset­zung und damit der Mög­lich­keit, dass es akut bes­ser wer­den kann. Je tie­fer die Ver­zweif­lung aller­dings sitzt, des­to schwe­rer ist es, sich mit Grund­sätz­li­chem und im wahrs­ten Sin­ne Unpro­duk­ti­vem abzu­ge­ben. Das mar­xis­ti­sche Cre­do ‚Was tun?‘ macht über­haupt erst Sinn vor dem Hin­ter­grund der Erkennt­nis, mit was man es eigent­lich zu tun hat, denn es ging nie­mals dar­um, nur irgend­et­was zu tun, son­dern das rich­ti­ge zu tun.

Inter­es­san­ter­wei­se tritt in die­ser Kon­stel­la­ti­on ein unge­wöhn­li­cher Prot­ago­nist auf, der, ohne die­se Pro­blem­dia­gno­se zu expli­zie­ren, eine bemer­kens­wer­te Andeu­tung macht, mit die­ser umzu­ge­hen: Didier Eri­bon, des­sen jüngs­tes, halb-auto­bio­gra­fi­sches Werk eine dop­pel­deu­ti­ge Rück­kehr voll­zieht, in der Rück­be­sin­nung auf die Ursprün­ge sei­ner eige­nen Ana­ly­sen und damit auf einen ver­schüt­te­ten Aus­gangs­punkt der Gene­se zeit­ge­nös­si­scher Theo­rie. Seit der deut­schen Über­set­zung sei­ner Rück­kehr nach Reims ver­geht kaum eine grö­ße­re Podi­ums­dis­kus­si­on zur Zukunft Euro­pas, dem Auf­stieg der neu­en Rech­ten oder all­ge­mein zur Lin­ken ohne sein Bei­sein. Das Feuil­le­ton ist voll kri­ti­scher Wür­di­gung sei­ner Ana­ly­sen und bestechen­den Selbst­kri­tik, an der sich zugleich das Schick­sal der Lin­ken abhan­deln lie­ße. Ohne die Begeis­te­rung voll­ends zurück­wei­sen zu wol­len, bedarf es doch einer Klar­stel­lung in Bezug auf Eri­bon: Er ist trotz allem mehr Sym­ptom denn Lösung des deso­la­ten Zustands der gesell­schaft­li­chen Lin­ken. Nichts­des­to­trotz soll­te sein Vor­schlag einer Rück­kehr ernst genom­men werden.

Eri­bon kehrt zur Beer­di­gung sei­nes Vaters in sei­nen Hei­mat­ort zurück, den er als 21-jäh­ri­ger Wahl­in­tel­lek­tu­el­ler in Rich­tung ver­hei­ßungs­vol­les Paris ver­ließ. Mit sei­ner Rück­kehr dort­hin kehrt für ihn zugleich etwas in sein Bewusst­sein zurück, das er in den Iden­ti­täts­kämp­fen eines jun­gen Schwu­len im aka­de­mi­schen Milieu fast ver­schüt­tet geglaubt hat­te und das ihm nun umso deut­li­cher wie­der vor Augen tritt: sei­ne Klas­sen­her­kunft. Die Kon­fron­ta­ti­on mit dem Her­kunfts­mi­lieu führt zum Bekennt­nis eines geläu­ter­ten Fou­caul­dia­ners, des­sen gesam­tes aka­de­mi­sches Werk sich den sub­jek­ti­ven Herr­schafts­for­men wid­me­te, weil es von der indi­vi­du­el­len Betrof­fen­heit qua Zuge­hö­rig­keit zu einer sexu­el­len Mino­ri­tät aus­ging. Eri­bon, wie Fou­cault, woll­te sich selbst ver­ste­hen und dabei die schmerz­haf­te Welt hin­ter sich las­sen. Dann ist sie ihm wie­der gegen­wär­tig und er muss sich selbst dar­über wun­dern, war­um er nie auf den Gedan­ken kam, dass all den Mecha­nis­men der Macht, die er zu ergrün­den such­te, jene Kon­stel­la­ti­on sozia­ler Herr­schaft zugrun­de liegt, die er nun über­all vor­zu­fin­den glaubt, die ihm so offen zu lie­gen scheint, dass der Rekurs auf den Klas­sen­be­griff hier und da zur Über­sprungs­hand­lung wird.

An sei­ner eige­nen Bio­gra­fie spielt er die­se neu­ge­fun­de­ne Ana­ly­se­di­men­si­on durch: Der Klas­sen­stolz der Eltern, die sich von einem eng­li­schen Gedicht­vor­trag des jun­gen Gym­na­si­as­ten belei­digt füh­len, des­sen pseu­do­eli­tä­re Bil­dung sie sich vom Mun­de abspa­ren; die lebens­welt­li­che Funk­ti­on des Klas­sen­be­wusst­seins, das kein poli­ti­sches Bewusst­sein, son­dern Selbst­re­fe­ren­tia­li­tät der sozia­len Rea­li­tät ist; die sys­te­ma­ti­sche Unter­drü­ckung der Arbei­ter im Bildungs‑, Arbeits- und Frei­zeit­sys­tem, die jede schein­bar freie Wahl zutiefst deter­mi­niert. Und immer wie­der sei­ne eige­ne ver­zwei­fel­te Bemü­hung, sich über die Klas­sen­gren­ze hin­weg in die Bür­ger­lich­keit zu ret­ten und deren libe­ra­lem Frei­heits­ver­spre­chen, das es ihm ermög­licht, bren­nen­der Mar­xist zu sein und zugleich die Arbei­ter für ihren Pro­le­ta­ris­mus zu ver­ach­ten. Sie sind anders links als er selbst, das spürt er spä­tes­tens als sei­ne Eltern anfan­gen rechts zu wäh­len. Von vie­len Sei­ten wird sei­ne Ana­ly­se der Regres­si­on der Arbei­ter­schaft, dem Schei­tern der Par­tei­lin­ken, die den Vor­marsch des Front Natio­nal ebnet, her­vor­ge­ho­ben. Die Klar­heit, mit der er die Zer­set­zung der kol­lek­ti­ven Iden­ti­fi­ka­ti­ons­ba­sis als Klas­se, die zur Iden­ti­fi­ka­ti­on als Natio­nal­sub­jekt wie­der Halt fin­det, ist tref­fend, aber nicht schla­gend. Sie ist nicht die eigent­li­che Stär­ke der Eri­bon­schen Selbst­re­fle­xi­on, ganz im Gegen­teil, an genau die­sem Punkt wird klar, wie ihm die feh­len­de Kon­se­quenz sei­ner eige­nen Explo­ra­tio­nen doch zum Fall­strick wird, nur die schon gän­gi­gen All­ge­mein­plät­ze zu wiederholen.

Eri­bon erringt eine vage Ein­sicht in das, was ein­mal mar­xis­tisch als gesell­schaft­li­che Deter­mi­na­ti­on begrif­fen wur­de, der Aus­gangs­punkt der Ideo­lo­gie­kri­tik. Er selbst stand in sei­ner Bio­gra­fie noch an der Schwel­le, an der die­se Begriff­lich­kei­ten zuguns­ten einer Dis­kurs­me­ta­pho­rik auf den Bar­ri­ka­den des Mai ’68 über­wun­den wur­de, es muss ihm wie ein Echo aus der Ver­gan­gen­heit vor­kom­men, das er wie­der­um nicht auf­neh­men kann. Sei­ne Rück­kehr an den Aus­gangs­punkt aller per­sön­li­cher Dis­po­si­ti­on soll schließ­lich kein Rück­schritt sein. Des­halb bemüht er eine Kri­tik an Bour­dieu um nicht wie­der „bei der mys­ti­schen Beschwö­rungs­for­mel vom ‚Klas­sen­kampf‘ zu lan­den“ (144), aber statt­des­sen mys­ti­fi­zie­rend die „grund­le­gends­ten Funk­ti­ons­wei­sen und all­täg­lichs­ten Mecha­nis­men der Gesell­schaft als einen ‚Krieg‘ des Bür­ger­tums und der herr­schen­den Klas­sen, eines unsicht­ba­ren (oder viel zu sicht­ba­ren) Fein­des gegen die popu­lä­ren Klas­sen zu beschrei­ben“ (111). Was das Feuil­le­ton als Stär­ke fei­er­te, sei­ne Ana­ly­se der Regres­si­on, ist dort die eigent­li­che Schwä­che, wo sich Eri­bon nicht zur Erkennt­nis des Zusam­men­hangs hin­rei­ßen las­sen will.

Die Ana­ly­se bleibt am ent­schei­den­den Punkt damit Koket­te­rie mit dem Klas­sen­be­griff und sei­nen stren­gen theo­re­ti­schen Impli­ka­tio­nen. Eri­bon kommt am Ende dann doch nur dort an, wo er los­ge­gan­gen war, in einem qua­si-hege­mo­nie­theo­re­ti­schen Set­ting, in dem die Lin­ke sich auf­ma­chen müs­se, um in Kon­kur­renz zur rech­ten Welt­sicht eine bes­se­re Deu­tung anzu­bie­ten, die die regres­si­ve Gesell­schaft von ihren Irra­tio­na­li­tä­ten weg­lo­cken kön­ne. Es bedeu­tet nichts ande­res als jener Ruf nach einer lin­ken Visi­on, der eines der deut­lichs­ten Sym­pto­me der Hilf­lo­sig­keit ist. Eine Rück­kehr also zu ein­mal mehr dem post­mar­xis­ti­schen All­ge­mein­platz, die Erkennt­nis der gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se sei eine Über­zeu­gungs­fra­ge. Es ver­kennt dabei, dass die eigent­li­che ‚Kon­kur­renz‘ zum rech­ten Irra­tio­na­lis­mus ent­lang der Linie von Erkennt­nis und Ver­blen­dung ver­läuft, nicht ent­lang des bes­se­ren oder schlech­te­ren Popu­lis­mus. Trotz­dem ist der Umweg, den Eri­bon beschreibt eine Errun­gen­schaft, nicht unbe­dingt im Kampf gegen die Irra­tio­na­li­tät auf der Stras­se und der soge­nann­ten Lebens­welt, aber gegen die theo­re­ti­sche Irra­tio­na­li­tät, die der Fra­ge der poli­ti­schen Pra­xis (Was tun? – die immer schon Erkennt­nis­ziel mate­ria­lis­ti­scher Theo­rie­bil­dung war) vorausgeht.

Denn wenn es anfangs hieß, das Pro­blem der Lin­ken sei ihre man­geln­de Erkennt­nis­fä­hig­keit, so schlägt sich das genau dort nie­der, wo die Ver­schwö­rungs­theo­rie oder die ver­ein­fach­ten Deu­tungs­mus­ter rech­ter Ideo­lo­gien nur mit dem Hin­weis pariert wer­den kön­nen, jeder Anspruch auf Objek­ti­vi­tät sei schon Ver­schwö­rungs­theo­rie und Ideo­lo­gie. In ande­rer Spiel­art bleibt dies auch Eri­bons Prä­mis­se, die er gleich­zei­tig mit sei­ner Rück­kehr nach Reims impli­zit her­aus­for­dert. Die von links als eman­zi­pa­to­risch vor­ge­brach­te pro­gram­ma­ti­sche Desta­bi­li­sie­rung jeder Erkennt­nis ist kei­ne Waf­fe gegen den Irra­tio­na­lis­mus, eher des­sen Erfül­lungs­ge­hil­fe. In die­sem deso­la­ten Zustand erweist sich der Impuls der Rück­kehr zu den Begrif­fen der sozia­len Zusam­men­hän­ge tat­säch­lich als fort­schritt­li­cher denn die Poin­te sei­ner Ankunft in der Wie­der­ho­lung der sym­pto­ma­ti­schen Appel­le. Ein Impuls, mit dem fort­zu­schrei­ten ein Gewinn wäre.

von Alex Struwe

Der Bei­trag erschien zuerst in Jung­le World 49/2016, URL: http://jungle-world.com/artikel/2016/49/55364.html

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