Sie wissen immer noch nicht was Sie tun. Das falsche Bewusstsein der Sozialphilosophie

Matthias Gref­frath und Michael Quante reden über den Ent­frem­dungs­be­griff bei Marx. Expo­si­tion: 150 Jahre Das Kap­i­tal, was hat dieses Werk noch an Rel­e­vanz für uns heute? Also: Da Marx, in sein­er umfassenden Analyse der Gesellschaft, eigentlich Sozial­philosoph sei, könne man „das Denken von Marx als ein philosophis­ches Denken reklamieren“[i]. Man spricht über Marx’ Posi­tion in der Philoso­phie (ist er der Vol­len­der des Deutschen Ide­al­is­mus? Ja.), das Erbe Hegels (Geschicht­sphiloso­phie und Total­ität­side­al der The­o­rie), die Dimen­sio­nen seines Werks (metapho­rische Begriffe gegen ana­lytis­che Kat­e­gorien). Schließlich das wenig verblüf­fende Ergeb­nis ein­er weitre­ichen­den Unbrauch­barkeit der Marxschen Analyse, aus bekan­nten Grün­den: Geschicht­stele­olo­gie (weil zu abstrakt), impliz­it nor­ma­tive Impräg­nierung der Begriffe, aber allen voran die heute verän­derte Leben­sre­al­ität (weil zu konkret).

In dem Kon­trast des Marxschen Werkes und der Gegen­wart kann sich dann darauf ver­ständigt wer­den, dass Marx’ ganze Analyse auf der Hoff­nung eines sin­nvollen Geschichtsver­laufs baut, die durch die Hil­f­skon­struk­tion eines rev­o­lu­tionären Sub­jek­ts gestützt wird. So nun aus der heuti­gen Per­spek­tive: „An diese geschicht­sphilosophis­che Kon­struk­tion kann man nicht mehr mit guten Grün­den glauben“[ii], und in dieser nüchter­nen Erken­nt­nis zeigt sich, dass Marx eigentlich nichts anderes als eine Objek­tivierung sein­er sub­jek­tiv­en Ansicht­en und Hoff­nun­gen vor­brachte. Dies genau bringe seinen Fehler auf den Punkt und wiederum in Anerken­nung dieser grundle­gen­den Dis­po­si­tion zieht Philosoph Quante eine andere Kon­se­quenz, näm­lich „dass man diese Über­legun­gen in eine anthro­pol­o­gisch fundierte Ethik des guten und gelin­gen­den Lebens“ über­führen könne, „eine Rich­tung, die bei Marx im ‚Kap­i­tal‘ über­haupt nicht angedacht ist“[iii].

Nun weiß man nicht recht wo begin­nen. Ein erster Impuls legt nahe, die hier offenkundig nicht-marx­is­tis­che Deu­tung zu prob­lema­tisieren, in deren Sinne seit Län­gerem eine Inte­gra­tion des Marxschen Werkes in den Kanon der Sozi­olo­gie, Philoso­phie etc. vor­angetrieben wird. Gewon­nen wäre damit eine weit­ere Posi­tion im Deu­tungsstre­it, den Quante und Co. als Aus­gangspunkt ihrer eige­nen Deu­tung natür­lich schon antizip­iert haben, als das Ter­rain der Philoso­phie. Wichtiger ist, zu allererst zu ver­ste­hen, was hier genau passiert. Man muss ver­ste­hen, dass es sich bei dieser Geste der nor­ma­tiv­en Erdung Marx’ vor allem um eine grundle­gende Erken­nt­niskri­tik han­delt: Marx’ Analy­sevorge­hen sei immer schon zu groß, denn es erhebt einen Anspruch auf Objek­tiv­ität, der aus heutiger Per­spek­tive nur wun­der­lich sein kann, und zugle­ich ist es doch zu klein um überzeitliche Gel­tung zu erlan­gen. Die Würdi­gung sein­er dann aber doch so scharf­sin­ni­gen Beobach­tun­gen und schlagkräfti­gen Argu­mente sorgt dafür, sein Werk nicht zu ver­w­er­fen, son­dern in ein­er kor­rigierten Art neu anzueignen. In diesem Sinne greift nun ein Mech­a­nis­mus, man kön­nte sagen, abstrak­ter His­torisierung, der in der holzschnit­tar­ti­gen Diag­nose der Marxschen Ver­fehlun­gen genau das bieten soll, was Marx eben nicht tut (und, wie Quante richtig bemerkt, auch nicht angedacht hat): Von der Objek­tiv­ität zurück­kehren auf die Ebene der Nor­ma­tiv­ität. Wie man heute euphemistisch sagen kön­nte, zur Demokratisierung der Erkenntnis.

Quantes Plausch ist damit ganz auf der Lin­ie jen­er Sozial­philoso­phie, die eine Gesellschaft­s­the­o­rie im eigentlichen Sinne abgelöst hat.[iv] Beispiel­sweise in Per­son der Erben der Frank­furter Schule, deren Grund­satz lautet, weg mit dem deter­min­is­tis­chen Bal­last der Marxschen Analyse, damit der Weg frei ist, wie Rahel Jaeg­gi sagt, sich ‚unbe­fan­gen‘ Marx zu wid­men, so „dass man […] keine Marx­istin (mehr) sein muss, um sich mit Marx zu beschäfti­gen“[v]. Diese Unbe­fan­gen­heit ist Syn­onym der philosophis­chen Aneig­nung, wie Quante sie vorn­immt und der sich Jaeg­gi wie auch Axel Hon­neth uneingeschränkt anschließen. Hon­neth, der in seinem jüng­sten Ver­such ein­er Aktu­al­isierung des Sozial­is­mus­be­griffs darin vor allem die Rev­i­dierung der Erblas­ten des Marx­is­mus anstrengt, hat nichts Gerin­geres zum Ziel, als den Sozial­is­mus auf jenes Niveau ein­er Selb­st­beschrei­bung des ‚guten und gelin­gen­den Lebens‘ herun­terzu­holen. Sozial­is­mus als Gerechtigkeit­s­the­o­rie. Deut­lich­er wird Jaeg­gi in ihrer par­al­le­len Unternehmung, gle­ich­es mit dem Ent­frem­dungs­be­griff anzustellen, dessen Prob­lem sie in erster Lin­ie darin erken­nt, dass er einen zu hohen gesellschaft­s­the­o­retis­chen Anspruch habe und in seinem ana­lytis­chen Poten­tial nur zu erhal­ten sei, würde er auf die sozial­philosophis­che Diag­nose­funk­tion beschränkt.

Abseits der Präferen­zen, welche Deu­tung einem per­sön­lich denn gut anste­he, hat die Sozial­philoso­phie aber einen imma­nent prob­lema­tis­chen Charak­ter, der nur beschw­er­lich freizule­gen ist, vor allem wenn man sich schon auf dem Ter­rain der Philoso­phie befind­et. Diesen erken­nen zu kön­nen ist dabei die eigentliche Leis­tung des Marxschen Werkes, welche im bloßen Deu­tungsstre­it vol­lkom­men aus dem Blick gerät (ja fast notwendi­ger Weise nicht zu the­ma­tisieren ist). Marx wusste schon, warum er sich pro­gram­ma­tisch gegen die Philoso­phie als solche wen­dete, wenn er den Philosophen vor­warf, die Welt nur wirkungs­los ver­schieden zu inter­pretieren. Und auch Lenin hat­te nicht nur einen Spleen, wenn er als Poli­tik­er keine philosophis­che Argu­men­ta­tion zuließ.

Was ist dieses Prob­lem, das sich aus sich selb­st her­aus so schw­er erken­nen lässt? Es zeigt sich zunächst in der Ein­deutigkeit der sozial­philosophis­chen Per­spek­tive, die sich in ihrer Logik als Selb­stev­i­denz auf­drängt – und genau­so ja auch ver­han­delt wird. Dass die Deu­tung aber aus sich selb­st Evi­denz erzeugt ist kein Indiz von Wahrheit, denn diese Eigen­schaft teilt sie auch mit der Ver­schwörungs­the­o­rie. Vielmehr ist es Hin­weis auf einen intellek­tuellen Zirkelschluss. Von der Diag­nose zur Kri­tik zum eige­nen Pro­gramm, in diesen Schrit­ten kommt man nur dort an, wo man schon los­ge­gan­gen war: Marx’ Abgleit­en in wahlweise Abstrak­tion oder Konkre­tion beruht auf sein­er nicht einge­s­tande­nen Nor­ma­tiv­ität, aus der man fol­glich eine nor­ma­tive The­o­rie gener­ieren müsste. Das klingt schlüs­sig. Ist es auch, mehr nicht.

Dieser Zirkelschluss hat wiederum eine klare Möglichkeits­be­din­gung, näm­lich Abstrak­tion. Sozial­philoso­phie ist Philoso­phie, die den Anspruch erhebt, die let­zte Erken­nt­nisin­stanz des Sozialen zu sein. Die soziale Real­ität ist Gegen­stand, aber sie wird zum philosophis­chen Gegen­stand, also zum gedacht­en Gegen­stand des Denkens, dem Sozialen. Offen­sichtlich bedarf diese Auf­gabe ein­er Form der Aus­ge­wogen­heit, des Gle­ichgewichts. Denn Marx ist ein­er­seits zu abstrakt (mit seinem Total­ität­side­al im Erbe des Ide­al­simus) und ander­seits zu konkret (weil sich seine Begriffe dann doch nur auf einen his­torischen Moment beziehen). Die dreifache Prob­lem­di­ag­nose an Marx liefert die ver­meintliche Lösung daher gle­ich mit, als eine Art drit­ten Weg, der den Fall­en der Abstrak­tion und bloßen Konkre­tion entkommt, genau jene Ebene nor­ma­tiv­er The­o­rie, die den abstrak­ten Uni­ver­sal­is­mus sub­jek­tiviert und zugle­ich die rein pos­i­tivis­tis­che Konkre­tion tran­szendiert. Remem­ber: Es gibt immer eine dritte Partei, aber die ist auf Seite der ersten Partei. So auch hier: die Neuaneig­nung Marx als nor­ma­tive The­o­rie ist abstrakt wie ide­al­is­tisch und die einzige Möglichkeit, diese Umdeu­tung zu vol­lziehen ist, die klare Demarka­tion­slin­ie zwis­chen Marx und der philosophis­chen Aneig­nung zu ignori­eren, mehr noch zu unterminieren.

Was die Sozial­philoso­phie dabei nicht sieht ist, ganz klas­sich, was sie tut, näm­lich jenen Zirkelschluss, der seine eigene Möglichkeits­be­din­gung repro­duziert und in dem alles der eige­nen Prämisse unter­ge­ord­net wird, wenn man aus dem gegen­wär­ti­gen Hor­i­zont her­aus beurteilt, inwiefern Marx das falsch gemacht hat, was man nun als besseren Vorschlag unter­bre­it­et. Marx als Philosoph also. Kein Wun­der daher, dass die sozial­philosophis­che Aneig­nung Marx’ am Begriff anset­zen muss, beispiel­haft Jaeg­gis und Quantes Zugang über die Ent­frem­dung, und auch genau dort wieder endet. In diesen selb­stre­f­er­en­tiellen Gesten kann man dann beliebig viele par­tielle Würdi­gun­gen der Marxschen Analyse aussprechen, die eigentliche Leis­tung Marx’ bleibt darunter ver­bor­gen. Denn was war noch ein­mal die Kri­tik an der Philoso­phie? Sie ist abstrakt – die Philoso­phie hat keinen Gegen­stand. Sie ist Ide­al­is­mus. Und das ist keine Geschmacks- oder Deu­tungs­frage, son­dern eine reale Bestimmung.

Aber was heißt es heute schon, jeman­dem Ide­al­is­mus vorzuw­er­fen? Die Philoso­phie ist immun gegen jenes Argu­ment, wenn es nur auf der Ebene der konkur­ri­eren­den Deu­tun­gen bleibt. Und genau deshalb muss diese Basis auch repro­duziert wer­den, der Selb­ster­hal­tung wegen. Der Vor­wurf lässt sich in Ver­weis auf die krude objek­tivis­tis­che Posi­tion (beispiel­sweise des Marx­is­mus), von der aus er geäußert wird, leicht entkräften. Ein Hin­weis auf die Unmöglichkeit von Objek­tiv­ität genügt um damit zu sagen, die ewig gestrige Grenzziehung zwis­chen Erken­nt­nis und Verblendung sei anachro­nis­tisch. Genau in diesem Reflex geht ver­loren, dass das Gegenüber der ide­al­is­tis­chen Abstrak­tion ein­mal reale Sub­stanz besessen hat, als Mate­ri­al­is­mus. Mate­ri­al­ist zu sein bedeutete für Marx den Schritt her­aus aus dem Zirkelschluss, der der Philoso­phie die Exis­tenzberech­ti­gung ist. Wie Louis Althuss­er (immer noch unwider­legt) her­aus­gear­beit­et hat, ist es genau das, was Marx im Kap­i­tal tut und das seinem Werk über­haupt erst einen Zusam­men­hang verleiht.

Denn ja, das denk­ende Bewusst­sein – das in der Philoso­phie zugle­ich Mit­tel und Gegen­stand ist – fällt immer mit den Objek­ten der Real­ität auseinan­der, unwieder­bringlich. Genau diese Diskrepanz bezeugt die Möglichkeit der Ver­schieden­heit des Denkens, damit auch die Grund­lage des Deu­tungsstre­its, aber eben nicht ohne weit­eres. Anzunehmen, es gäbe unmit­tel­bare Kor­re­spon­denz zwis­chen Denken und Real­ität ist Ursprungs­fan­tasie, aus der Zurück­weisung dieses Trugschlusses aber zu fol­gern, das Denken sei von der Real­ität entkop­pelt, ist Ide­al­is­mus. Marx zen­trale Intu­ition hinge­gen ist, die Bewusst­seins­bil­dung des denk­enden Sub­jek­ts selb­st als einen Pro­duk­tion­sprozess zu begreifen, der den gesellschaftlichen Pro­duk­tions­be­din­gun­gen unter­wor­fen ist. Das ist noch kein Ökonomis­mus, son­dern die Frage danach, wie und zu welchen Zweck eben jene Zirkelschlüsse des Denkens zus­tande kom­men, in denen sich das Denken in voller Resilienz ein­richtet und abdichtet. Diese Selb­st­loslö­sung des Denkens von sein­er gesellschaftlichen Genese und Einge­bun­den­heit, sprich Deter­mi­na­tion, ist der Gegen­stand des ana­lytis­chen Ideologiebegriffs.

Ja, das falsche Bewusst­sein, again. Eine Bes­tim­mung, die sich philosophisch gar nicht denken lässt, nicht zulet­zt, weil sie diese und ihre Möglichkeits­be­din­gung direkt bet­rifft. Ide­ol­o­gisch ist jenes Bewusst­sein, dass nicht weiß, inwiefern es die Pro­duk­tions­be­din­gun­gen der eige­nen Pro­duk­te des Denkens repro­duziert. Daher heißt es so schön: Jenes Bewusst­sein, das nicht weiß was es tut. Und es tut. Es ist daher alles andere als ver­wun­der­lich, dass die sozial­philosophis­che Aneig­nung Marx’ diesen Zusam­men­hang aus­blenden – wenn nicht gar bekämpfen – muss. Es rührt an die Sub­stanz der Philoso­phie, in der Annahme, das Denken hat aus sich selb­st her­aus keine Berech­ti­gung und bleibt organ­is­ches Abfall­pro­dukt der gesellschaftlichen Ver­hält­nisse, solange es nicht Auskun­ft darüber geben kann, in welchem Ver­hält­nis es zu ihnen ste­ht. Dass Quante seine Deu­tung so in Mark und Fleisch überge­gan­gen zu sein scheint, dass man ihn nur von Evi­den­zen sprechen hört, bezeugt die exis­ten­zielle Dimen­sion des ide­ol­o­gis­chen Bewusst­seins mehr als sein kri­tis­ches Poten­tial. Kri­tik tut näm­lich weh.

 

von Alex Struwe

 

[i] Quante, Michael 2016: Ent­frem­dung im Kap­i­tal­is­mus. In: Deutsch­land­funk, URL: http://www.deutschlandfunk.de/re-das-kapital‑3–6‑entfremdung-im-kapitalismus.1184.de.html?dram:article_id=370361 [01.12.2016].

[ii] Ebd.

[iii] Ebd.

[iv] In Frank­furt ste­ht das Mah­n­mal dieser Entwick­lung: Das zu Stein gewor­dene Schick­sal der Gesellschaft­s­the­o­rie in ihrem pro­gram­ma­tis­chen Titel Die Her­aus­bil­dung nor­ma­tiv­er Ord­nun­gen.

[v] Jaeg­gi, Rahel/Loick, Daniel 2014: Marx’ Aktu­al­itäten – Zur Ein­leitung. In: Dies. (Hrsg.): Nach Marx. Philoso­phie, Kri­tik, Prax­is. Berlin: Suhrkamp, 12.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.