In der kritischen Gesellschaftstheorie gab es lange Zeit einen Allgemeinplatz betreffend der entscheidenden Trennung zwischen Erkenntnis und Verblendung: Dasjenige Denken, welches nur ein unbewusstes organisches Abfallprodukt der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, bleibt der Bestätigung des Bestehenden verhaftet. Nicht in aktiver Affirmation, sondern in der Verschleierung der Wirklichkeit. Es ist Mystizismus. Die Marxschen Feuerbachthesen merkten dazu an, dass aller Mystizismus des Denkens seine Auflösung in der Praxis findet. Gemeint ist nicht irgendein Tun, sondern Praxis als die Wirklichkeit der menschlichen Gesellschaft. Damit galt: Denken, das diese Wirklichkeit nicht als seine Produktionsbedingungen reflektiert, ist Mythos, präziser gesagt Ideologie.
Ein starkes Wort, heute zumeist als Anachronismus abgetan, mit dem Verweis, dass die Rede vom falschen Bewusstsein notwendig einen autoritären Standpunkt des richtigen Bewusstseins voraussetze. Es ist in der Tat schwierig, da jene geforderte Reflexion des Denkens eine Erkenntnis der Wirklichkeit voraussetzt, in der es sich zusammenhängend mitdenkt. Erst Erkenntnis ermöglicht Ideologiekritik. Das schmeckte bald zu sehr nach Metaphysik, zu autoritär, nach Objektivität, mithin nach Totalitarismus. Die Zeit der großen Erzählungen war schließlich schon in den 1970ern vorbei, spätestens aber mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Wissenschaftlich – also in genau der gesellschaftlichen Domäne, deren Funktion die Erkenntnis ist – hat man sich angesichts dieser Schwierigkeiten von dem Problem insgesamt verabschiedet, allerdings mit einer Art Taschenspielertrick. Wenn es keinen Geltungsanspruch objektiver Erkenntnis geben könne, so sei schließlich alles oder nichts Ideologie.
Vor dem Hintergrund dieses großartigen Missverständnisses gegenüber dem analytischen Ideologiebegriff verständigte sich die Sozialwissenschaft auf den Verzicht sogenannter Großtheorien und schraubte den Erkenntnisanspruch herab auf die Ebene der Deskription. So gut dies für ein Selbstverständnis vielleicht funktioniert, es führt auf lange Sicht zu einem eklatanten Problem (man will fast sagen Widerspruch), welches tragischer Weise so alt ist, dass das Konzept der Ideologie einmal zu seiner Lösung überhaupt entstanden ist. Wie es der berüchtigte Ideologietheoretiker Louis Althusser einmal formulierte, läuft die Grenze zwischen Ideologie und Erkenntnis entlang der Funktion der Diskurse: Eine erkennende Theorie gebe, über die reine Beschreibung hinaus, die Mittel mit an die Hand, die Produktionsbedingungen des Beschriebenen zu verstehen. Eine Funktion, die heute überflüssig scheint.
Und welches Problem soll der heutigen Sozialwissenschaft damit entstehen? Kurz gesagt: Ihr fällt die eigene Erkenntnislosigkeit auf die Füße. Kaum ein zeitgenössisches Werk kommt ohne diese implizite Problemdiagnose aus. Der vielleicht bekannteste deutsche Soziologe Ulrich Beck findet kurz vor seinem Tod im Januar 2015 deutliche Worte für das Problem, das ihn in seinem jüngst erschienen Buch Die Metamorphose der Welt umtreibt. Schon auf der ersten Seite erfährt man, dass ihn seine jahrzehntelange Forschung und Lehre nicht vor der „Bankrotterklärung“ bewahren kann, „auf die wir uns jenseits aller Unterschiede und über alle Kontinente hinweg zumeist einigen können […]: ‚Ich begreife die Welt nicht mehr.‘“ (11) Was Ulrich Beck hier stellvertretend an der Welt nicht mehr versteht, ist was mit ihr geschieht. Seiner Aufgabe als Wissenschaftler entsprechend sucht er also nach einer Möglichkeit des Verstehens und konstatiert, dass wir die schwerwiegenden Umwälzungen, denen wir Zeuge werden – die Klimaerwärmung, die zunehmende Digitalisierung, soziale Konflikte, Kriege etc. –, nicht verstehen, weil wir es von einem falschen Bewusstsein aus zu begreifen versuchen. Es handelt sich nicht einfach um Veränderungen oder gesellschaftlichen Wandel, sondern um eine radikale Verwandlung als Ganzes. Diese Metamorphose, wie er sagt, sei eine „kopernikanische Wende 2.0“, „als realer Umbruch und Niedergang der Weltordnung“ (20).
Der Impuls mutet formal wissenschaftlich an, eine der Aufklärung verwandte Suche nach dem wirklichen Zusammenhang der unerklärlichen Realität. Aber Beck verkehrt diesen Impuls zu einer wahrlich religiösen Praxis: Dort wo sich die Veränderung der menschlichen Gesellschaft – sprich: Geschichte – nicht mehr begreifen lässt (und er sagt selbst, sie lässt sich nicht mehr auf den Begriff bringen), findet der Rückgriff auf eine unerklärliche Kraft statt, die den Oberflächenphänomenen zugrunde liegt. Gesetz der Unergründlichkeit der Welt, ist dieser letzte Bezugspunkt die Koinzidenz, denn die Metamorphose, dieses Neue, was Beck den Schlüssel zum Weltverständnis verspricht, ist keine lineare Entwicklung, die Programm und Ziel voraussetzen würde. Von unintendierten Nebenfolgen des Fortschritts getragen, vollziehen sich Wandlungen auf den grundlegendsten Ebenen, welche wiederum eine wahre Horizontverschiebung mit sich bringen, denen das befangene Bewusstsein der alten Weltordnung immer hinterherhinkt.
Die von ihm beschworene Metamorphose lässt sich damit zwar beobachten, irgendwie feststellen, aber sie vollzieht sich auf eine Weise, in der ihre Erscheinungen immer schon Ausdruck und Bedingung zugleich sind. Diese Naturkräftigkeit der gesellschaftlichen Verwandlung nötigt daher auch einen gewissen Glauben, denn die Metamorphose als begriffliche Fassung der Welt anzunehmen, setzt voraus, dass man zuvor die Metamorphose seines Weltbildes zulässt. So will Beck die überkommenen Theoriehorizonte und Konzepte der Sozialwissenschaft endlich fahren lassen, die mit ihrer vermeintlichen Fokussierung auf die Reproduktion der Gesellschaft immer dem großen Neuen unangemessen bleiben, und eine neue Theoriebildung forcieren, die dem kosmopolitischen Weltbild entspräche, welches sich in der bisher unentdeckten Metamorphose ankündigt: „Die Theoretisierung der Metamorphose erfordert die Metamorphose der Theorie“ (98). Das Bewusstsein muss auf die kosmopolitisierten Handlungsräume abgerichtet werden, um den ewig verspäteten Flug der Eule der Minerva einzuholen, indem er integraler Teil der Welt wird, die er nur verstehen kann, wenn er sich ihr anverwandelt. Genau das ist Mystizismus.
Diese Mythenbildung ist keinesfalls ein für ihn neues Phänomen. Sein gesamtes Werk – von der Risiko- zur Weltrisikogesellschaft hin zu einem karikaturesken Kosmopolitismus – ist getragen von einem mystischen Pfeiler, dem letzten Erklärungsgrund der reflexiven Moderne. Da es getreu der Unmöglichkeit von Erkenntnis keinen substantiellen Grund, Ausgangspunkt oder Ursprung einer Erklärung geben kann, kommt die mystische Qualität des Modernebegriffs hier strategisch zum Tragen. Die reflexive Moderne besetzt als Begriff etwas Unbestimmbares, als die ständige, wundersame Selbstveränderung der Bedingungen des modernen Lebens. Es ist aber keine Erkenntnis im starken Sinne, festzuhalten, dass sich Dinge verändern, weil ihre Grundlage die Veränderbarkeit ist. Bestenfalls hat dies beschreibende Qualität, genau genommen ist es aber Tautologie, mit der alles aus sich selbst heraus erklärt werden kann. Und so lauten dann auch die Erkenntnisse der Gesellschaftstheorie: „Die Weltrisikogesellschaft ist das Produkt der Metamorphose, das zum Produzenten, zum Akteur der Metamorphose der Welt geworden ist.“ (89)
Eben dieser tautologische Gestus der intellektuellen Hilflosigkeit ist symptomatisch, wie sich zuletzt an der aufsehenerregenden Studie Oliver Nachtweys über Die Abstiegsgesellschaft erkennen ließ. Wie der Untertitel Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne verrät, basiert Nachtweys durchaus stichhaltige und erhellende Gesellschaftsanalyse auf dem Bezugsrahmen eines vergleichbaren Modernebegriffs. Wie bei Beck die Risikogesellschaft sich auf der reflexiven Moderne begründet, ist Nachtweys Abstiegsgesellschaft Produkt der regressiven Moderne. Die Beobachtung geht hier in ihrer erkennenden Qualität tatsächlich weiter, nimmt Nachtwey doch die prekarisierten Arbeits- und Lebensverhältnisse als Erosion der Versprechen des demokratischen Wohlfahrtsstaates an, soziale Mobilität und Inklusion für breite Bevölkerungsanteile zu gewährleisten. Es ist die richtige Richtung, von der sozialen Wirklichkeit auf ihre abstrakte Narration zu schließen und von dieser Stärke sind seine Analysen getragen, zur neoliberalen Komplizenschaft zwischen individuellem Autonomieideal und der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, der industriellen Kehrseite des wachsenden Dienstleistungssektors oder der diffusen Artikulation der sozialen Frage in einer unendlich ausdifferenzierten Gesellschaft.
All das funktioniert als Diagnose, als die Beschreibung des Zustands. Die entscheidende Schwelle zu einer Erkenntnis der Gesellschaft wird aber im Mythos substituiert. Prekarität, Abstiegsängste, Internalisierung der Angst zur Subjektivität, Aufbegehren in entsolidarisierten Gesellschaftsbeziehungen – wenn Nachtwey zur Erklärung des zugrunde liegenden Zusammenhangs ansetzt, so mithilfe jener Beckschen Tautologie, die Grundlage der gesellschaftlichen Regression ist die Regression ihrer Grundlage. Die Moderne wird darin zu einem „Fortschritt, der den Rückschritt in sich trägt“ (76), weil sie Paradoxien erzeuge – wie etwa die Eindämmung wirtschaftlicher Unsicherheit auf Kosten individueller Selbstentfaltung angesichts steigender Bürokratisierung –, die sie letztlich einholen und umschlagen lässt. Ebenso hat Beck eine Vorstellung der paradoxen Gleichzeitigkeit von Fortschritt und Regression in seinem Modernebegriff, denn „je erfolgreicher die Modernisierung, desto mehr bads bringt sie hervor“ (95). Eine Analogie zur Dialektik der Aufklärung wäre hier nur insofern angebracht, als sie den entscheidenden Unterschied klarmacht: Die Aufklärung dialektisch zu begreifen bedeutet einen materialistischen Hebel zur Erkenntnis ihrer Totalität anzusetzen, den Mythos ihrer widersprüchlichen Ausprägungen aufzuheben, die Moderne in ihrer Paradoxie zu begreifen heißt hingegen den Mythos als ihren Zusammenhang zu bewahren.
So viele Aha-Effekte es bei der Lektüre der gegenwärtigen Sozialtheorie auch geben mag, so scharfsinnig die Beobachtungen sind, man bleibt bei den wichtigen Fragen zum Ende mit der gleichen Ratlosigkeit stehen wie die Autoren selbst. Becks Mystifizierung der Moderne kann ihn nur in die Apologie treiben, man müsste, einem Orakel gleich, die Zukünftigkeit in den gegenwärtigen Transformationen antizipieren und zu einem kosmopolitischen Bewusstsein verdichten. Ähnlich äußert sich Nachtwey zu der von ihm abschließend festgehaltenen „Krise der linken Imagination“ (232), die den Misserfolg des kollektiven Aufbegehrens zeitige, weil sie den optimistischen Blick auf eine utopische Zukunft verstelle. Das ist zuallererst ein Bekenntnis der Schwäche der Analyse. Wie soll denn, fragt man als jemand, der sich von der Anrufung als Linker oder Kosmopolit angesprochen fühlt, auf eine Zukunft hin orientiert werden, wenn man nicht einmal die Gegenwart versteht, nicht den Zusammenhang des Elends begreift, das es zu transzendieren gilt? Die Antwort ist selbsterklärend: durch einen neuen Mythos, eine noch abstraktere Erzählung von Gleichheit und Freiheit, wie sie auch den Errungenschaften der Moderne zugrunde lag, die aus unerfindlichen Gründen sich doch nicht erfüllen ließen. Mit anderen Worten: weiter so wie bisher.
Auch wenn in derzeitigen Analysen beständig beschworen wird, es müsse alles neu gemacht werden – neue Konzepte, neue Weltbilder, neue Herausforderungen, neue Visionen etc. –, in einem entscheidenden Moment sind sie doch nur das Amen zu den Verhältnissen, wie sie sind, gerade weil sie den Moment einer Erkenntnis dieses Zusammenhangs mit einer mystischen Formel kaschieren müssen. Was die wissenschaftliche Mythenbildung hier nicht sieht, ist was sie tut, und das ist klassischer Weise die Reproduktion der Produktion der gesellschaftlichen Verhältnisse in deren Verschleierung, in einem streng analytischen Sinne verschlagwortbar als Ideologie.
von Alex Struwe