Buchbesprechung zu Moritz Zeiler: Materialistische Staatskritik. Eine Einführung.
2017 | 200 Seiten | 10,00 € | Schmetterling Verlag | ISBN 978–3896576712
Die konventionelle materialistische Staatstheorie leidet schon lange daran, dass viele ihrer Vorhersagen einfach nicht richtig eintreffen wollen. Mit Wehmut denken Viele z. B. an die jüngsten Entwicklungen in Griechenland, wo eigentlich alle tonangebenden linken Interventionen von den bekannten Ansätzen des griechischen materialistischen Staatstheoretikers Nicos Poulantzas (und seines Vorgängers und Gewährsmannes Antonio Gramsci) explizit und maßgeblich beeinflusst waren – und wo ein zunächst scheinbar vielversprechendes emanzipatorisches Projekt dennoch krachend gescheitert ist.[1]
Insofern wäre es schön gewesen, wenn das erste Wort einer Einführung in die materialistische Staatstheorie nicht schon wieder buchstäblich der Name „Karl Marx“ hätte sein müssen (7). Hätte ein solcher Band zur Abwechslung einmal mit der Exposition eines Problems begonnen, auf das materialistische Staatstheorie dann eine angemessene Antwort darstellen soll, es wäre sicher schon ein großer Sprung nach vorne gewesen. Denn es ist gleichzeitig ein bisschen wahr und ein bisschen falsch, wenn in der Einleitung steht, dass „materialistische Staatskritik sich an der Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx [orientiert]“ (14). Als reine Tatsachenbehauptung taugt der Satz wohl in mancher Hinsicht, denn tatsächlich „orientieren“ sich viele Theoretiker*Innen, die ihre Tätigkeit als materialistische Staatstheorie bezeichnen, an den Schriften von Marx – was in der Praxis allerdings oft darauf hinausläuft, viele Zitate von Marx aneinanderzureihen, weil sich so dessen scheinbare Autorität auf den eigenen Standpunkt überträgt. Zeiler selbst macht das zum Glück nicht, aber die etwas schwammige Formulierung des Orientierens wirkt ein wenig unglücklich gewählt, besonders wenn es doch um die Definition des Begriffs „materialistische Staatskritik“ geht. Als Definition taugt der Satz nämlich ganz und gar nicht, denn Sozialtheorie orientiert sich nicht an Karl Marx, sondern an gesellschaftspolitischen Fragestellungen und Antwortstrategien. Es wundert nicht, dass materialistische Theorie keine Massen mehr begeistert, wenn sie nicht mehr als bessere Antwort auf die Frage „Was ist zu tun gegen den schlechten Zustand der Welt“ eingeführt wird, sondern etwas plump als „das, was Karl Marx sagt“.
Natürlich hat Zeiler diesen generellen Zustand der Theorie nicht verursacht, und erwiesenermaßen weiß er es um einiges besser. Schließlich hat er ja 2009 bereits eine Einleitung zu einer anderen Einführung in die materialistische Staatskritik geschrieben, die in jeder Hinsicht überlegen ist[2] – bis auf die Kürze und die gute Lesbarkeit, denn Zeiler entwickelt hier in eigener Regie nämlich auch eine äußerst verständliche Zusammenfassung vieler wichtiger staatstheoretischer Thesen, so dass der Band fast ein kleines Handbuch oder Nachschlagewerk darstellen kann.
„Das, was Marx sagt“
Damit ist es aber auch Zeit, das Spannungsfeld anzusprechen, das bereits im Titel enthalten ist. Denn Zeiler schreibt ja eben nicht über Staatstheorie, sondern über Staatskritik. Diese beiden Schwerpunkte überschneiden sich natürlich und es wäre müßig, die feinen Unterschiede zwischen beiden Seiten zu einem unüberbrückbaren Bruch aufzublasen. Dennoch ist damit eine Frage angedeutet, die durchaus einen gewissen Grundsatzcharakter hat und im Weiteren auch immer wieder einen großen Unterschied macht. Wird man dem Materialismus gerecht, wenn man ihn als Herrschafts‑, Ausbeutungs- oder Ungleichheitstheorie versteht oder ihn als eine Quelle für Gesellschaftskritik auffasst? Einerseits wird oft darauf gepocht, dass Marx sein vielzitiertes Hauptwerk gerade als Kritik der politischen Ökonomie betitelt hat – und damit, so wird der Gedanke verlängert, die Kritik ein für alle Mal als Königsweg der Wissenschaft festgelegt sei. Der historische Materialismus versteht sich andererseits aber nicht immer nur als Kritik oder als partikulare Theorie einzelner Phänomene in Politik und Ökonomie, sondern durchaus als Theorie der Gesellschaft: Als Theorie der Evolution ihrer Systeme, der Lebensformen die aus dieser Evolution entstehen und der richtigen Möglichkeiten, in diesen Prozess so steuernd einzugreifen, dass dabei erwartbare und vor allem wünschbarere Lebensformen entstehen. So oder ähnlich jedenfalls könnte man es ebenfalls bei Marx herauslesen.[3] Die Frage „Theorie oder Kritik?“ lässt sich deshalb nicht philologisch durch einen Bezug auf Marx’ Originalität entscheiden –und leider auch nicht in Form von Kritik an seinen Epigonen– sondern ist selbst eine evident theoretische Frage, die in dieser Form in dem Band keinen Platz findet.
Zu erwähnen ist dabei aber, dass die Herangehensweise, ein Thema wie materialistische Staatskritik nicht theoretisch, sondern enzyklopädisch aufzurollen, eben auch eine verlegerische Entscheidung ist. Eigentlich schneidet die theorie.org-Reihe bei Schmetterling hier oftmals besser ab, als etwa die bekannten studentischen Einführungsbände von Junius. Aber warum müssen gerade die wichtigen Fragenkataloge, die aus den teils hochkarätigen Debatten wie denen der associazione delle talpe hervorgehen, ein Leben als obskure online-only Dokumente fristen, vergraben auf Blogs, während Einführungsliteratur immer nur den bekannten Wink mit dem Zaunpfahl enthalten darf, anstatt Studierende auf offene Forschungsfragen hinzuweisen?
Marxlektüren im Monolog
Natürlich haben diese formalen Schwierigkeiten einen inhaltlichen Kern. Der thematische Schwerpunkt des Bereichs der Neuen Marx Lektüre, der Zeiler sicherlich zu einem Gutteil zuzurechnen ist, ist die gleichzeitige Kritik sowohl simplizistischer Axiome aus dem traditionellen Marxismus zwischen Marx und Lenin, als auch der Theorien des sog. Westlichen Marxismus, also etwa der Kritischen Theorie und Habermas, die der politischen Herausforderung ihrer Zeit mithilfe überkomplexer Gedankenspiele eher ausgewichen als entgegengetreten sind. Im Zentrum steht in dem vorliegenden Band aber eindeutig die Kritik des Leninismus. Dabei unterläuft Zeiler ein wichtiger Kategorienfehler. Ja, es stimmt, dass es in den letzten Jahren einen Anstieg des Interesses an leninistischer Theorie gegeben hat. Trotzdem sollte es natürlich als eine offene Frage behandelt werden, ob die postleninistische Kritik nicht etwas von dieser Tradition lernen kann. Denn, anders als die Fixierung auf Lenin-Kritik manchmal zu unterstellen scheint, befinden wir uns ja faktisch schon längst in postleninistischen Zeiten. Die gegenwärtige Paralyse der Linken hat tatsächlich nicht der Leninismus hervorgebracht, daran kann eigentlich kein Zweifel bestehen.[4] „Obwohl die Renaissance des Leninismus momentan nur eine bescheidene gesellschaftliche Relevanz besitzt, bleibt eine Kritik der Thesen Lenins weiterhin unerlässlich“, schreibt Zeiler (160). Andere würden vielleicht einfach zur Kenntnis nehmen, dass die Relevanz des Leninismus gering ist und sich stattdessen an die Ausarbeitung besserer Thesen als derer Lenins zu machen – und die Gründe für eine angeblich drohende Renaissance der Orthodoxie auch in der Knappheit des eigenen Theorieangebots zu suchen. Genau das gerät aber aus dem Blickfeld, wenn der Anspruch sowieso darin besteht, statt Theorie eben Kritik zu betreiben.
Kritik.org?
Jenseits dieses Problems enthält der Band jedoch eine durchaus reiche Zitatensammlung zu den wichtigsten Texten der Staatstheorie und ‑Kritik und beschränkt sich auf eine genaue Analyse und Nacherzählung von wesentlichen Punkten, an denen die jeweiligen Autor*innen sich tatsächlich auch messen lassen müssen. Allerdings: Gerade bei dem für die Debatte so zentralen Punkt des Leninismus werden wichtige Eckpunkten der Analyse fallen gelassen. So rezipiert Zeiler ausführlich die wichtigsten Zitate aus Lenins Schrift über den Imperialismus. Über den entscheidenden Schritt, warum laut Lenin der Imperialismus notwendig das höchste Stadium des Kapitalismus darstellen soll, resümiert Zeiler nur lapidar: „Diese Konflikte [der kapitalistischen Expansion, FG] markieren Lenin zufolge jedoch auch die letzte Phase des Kapitalismus, die durch proletarische Revolutionen überwunden wird.“ (41). Dieser Satz vereint gleich mehrere Leerformeln in sich. Erstens werden Lenins inhaltliche ökonomische Argumente – u. a. die Verallgemeinerung der Monopole als gesellschaftliche geplanter Planungsweise, die aber immer noch auf die Rechtsform des individuellen Eigentums angewiesen bleiben[5], die Unmöglichkeit einer Hebung des Lebensstandards[6] u. v. m. – überhaupt nicht rezipiert. Es ist durchaus möglich und sogar ein Gebot der Wissenschaft, Lenins Thesen, die eben durchaus auch wertform- und sogar rechtsformtheoretisch sehr gehaltvoll sind, kritisch und materialistisch zu diskutieren und zurückzuweisen. Viel öfter, als den Gehalt von Lenins Argument zu rekonstruieren, wird hier allerdings die Differenz von Lenin zu Marx schon als Beleg für die offenbare Unhaltbarkeit des ersteren genommen. Weiterhin wirft Zeiler Lenin Geschichtsdeterminismus vor: „Die geschichtliche Entwicklung folgt [laut Lenin; FG] bestimmbaren Gesetzmäßigkeiten, die auch Prognosen über künftige Entwicklungen erlauben“, schreibt Zeiler (42) – und provoziert die Frage, wo denn heute überhaupt noch das Schreckgespenst des bösen Ableitungsmarxismus zu finden ist, der alle produktiven Debatten kaputt macht? Die Reduktion Lenins auf einen geschichtsphilosophischen Theoretiker des „Epochenwechsels“ (42) ist jedenfalls eine Karikatur und blendet bewusst oder unbewusst eine ganze Tradition von Denker*innen aus, die ihre ganze Energie darauf verwendet haben, genau diesen Übergang von Kapitalismus zu Sozialismus eben nicht als magisches Wahrheitsereignis, sondern als schwierigen Übergang mit vielen offenen Problemen zu theoretisieren. Auf eine aktuelle Problemstellung gewendet: Ist die globale Linke in der Finanzkrise wirklich deswegen gescheitert, weil sie zu geschichtsdeterministisch gedacht und argumentiert hat?
Vielleicht. Vielleicht könnte dem aber auch entgegengehalten werden, dass eine materialistische Theorie doch eigentlich schon ihrem Namen nach auf der Suche nach bestimmbaren Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Entwicklung ist. Wenn Zeiler mit seiner Intervention meint, dass es dringenden Nachholbedarf in der Debatte darüber gibt, welchen Status theoretische Figuren der wechselseitigen Determination sozialer Systeme in der politischen Theorie haben, wäre dem voll und ganz zuzustimmen – und dann gehörte das auch unbedingt in eine Einführung. Es wäre sogar mehr als berechtigt, die Annahme der Unmöglichkeit des Denkens der Gesellschaft als Objekt einer gesetzmäßigen Untersuchung[7] als heuristische oder sogar ontologische These in die Debatte einzubringen, um so zur Lösung des ja tatsächlich bestehenden Problems beizutragen, dass allgemeine Aussagen über die Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften äußerst schwer sind. Aber das Augenzwinkern darüber, dass tatsächlich einmal versucht wurde, Entwicklungsgesetze des Kapitalismus zu formulieren ist wohl kaum geeignet, Einsteiger*innen in den Materialismus zu inspirieren. „Es wird sich zeigen, ob sich ein linkes universalistisches Ideal eines guten Lebens für alle Menschen ungeachtet ihrer Herkunft gegenüber den politischen Programmen reaktionärer Bewegungen durchsetzen kann […]“ (164) schreibt Zeiler nüchtern und ernüchternd und wirft damit die Frage auf, ob dieses Szenario zu den möglichen Perspektiven politischer Theorie gehören kann oder sollte. Dazu kommt, dass das Problem in dieser Form sehr unterkomplex dargestellt ist. Es besteht ja eben gerade kein Konsens darüber, wie dieses „linke universalistische Weltbild“ aussehen kann. Vielmehr gibt es ja in der Linken ganz massive und grundsätzliche Streits, etwa bei den im gegenwärtigen Rahmen manchmal bis zur Schmerzgrenze der Unvereinbarkeit gehenden Schwierigkeiten zwischen verschiedenen antirassistischen und antifaschistischen Ansätzen, zwischen verschiedenen Feminismen oder auch zwischen Feminismus und Materialismus. Der Band streift diese Konfliktlinien zwar, kommt aber nicht auf eventuelle Konfliktlinien zwischen diesen Analysen zu sprechen. Dass für manche Menschen der demokratisch-kapitalistische Staat durchaus als ein wirksames Mittel gegen Patriarchat erscheint und dass Viele heute mit einiger Berechtigung nicht mehr an die einstmals vermuteten krisenhaften Pfadabhängigkeiten des Kapitalismus glauben, ist in dieser Einführung schlicht kein Thema. Es stellt sich schlicht der Eindruck ein, dass der in diesen Fällen schulmeisterlich gehobene Zeigefinger der Wertformtheorie – „Die Befreiung aus familiärer Abhängigkeit beseitigte patriarchale Zwänge, nicht jedoch die strukturellen Zwänge des Kapitalismus“ (76) – um einiges deterministischer daherkommt als die historischen Vorgänger, von denen man sich zurecht so sehr abgrenzen wollte.
von Florian Geisler
Literatur:
- Recht deutlich reflektieren dankbarerweise z. B. Christine Buchholz und David Maienreis diese Entwicklung, ders. (2016): Als Tiger gesprungen… Syriza ein Jahr an der Regierung, in: theorie21 (1/2016), 5. Jahrgang, Nr. 6, 141–168, 142 ↑
- Moritz Zeiler (2009): Staatsfragen. Die materialistische Staatskritik zwischen der Renaissance alter Theorien und aktuellen Herausforderungen, in: associazione delle talpe/Rosa-Luxemburg-Initiative Bremen (Hrsg.), Staatsfragen. Einführungen in die materialistische Staatskritik, 3–9. Online unter: www.rosalux.de/publikation/id/4321/ ↑
- Z. B. aus seinen Auseinandersetzungen mit Feuerbach, in denen Marx um eine Definition darum ringt, was sinnvollerweise als Materialismus oder als materialistische Wissenschaft bezeichnet werden kann und welchen Grundsätzen diesen Folgen müsste. ↑
- Eine Vorstellung übrigens, die schon in den 70er Jahren mit dem Verzicht der kommunistischen Parteien auf leninistische Formeln ins Wanken geraten musste und auch in dieser Gestalt als Fragestellung diskutiert wurde, vgl. z. B. Heiko Asseln/Frank Deppe 1977, Die „Staatsfrage“ und die Strategie der Arbeiterbewegung, in: Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.), Probleme der materialistischen Staatstheorie. Staat und Monopole (II), Das Argument: Argument Sonderband 16, 84–132, bes. 85f. ↑
- Wladimir I. Lenin 1960, Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: ders., Werke, Band 22, Berlin: Dietz, 189–309., 211 ↑
- Ebd., 245. ↑
- vgl. affirmativ dazu Oliver Marchart 2013, Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp. ↑