Lektionen in Marxismus

 

Buch­be­spre­chung zu Diethard Behrens/Cornelia Haf­ner: West­li­cher Mar­xis­mus. Eine Einführung. 

2017 | 902 Sei­ten | 39,80 € | Schmet­ter­ling Ver­lag | ISBN 978–3896570833

 

Der Mar­xis­mus ist und war immer eine Theo­rie der Pra­xis. Dar­in liegt schon das größ­te Pro­blem: Erkennt­nis als Hand­lungs­an­lei­tung hinkt der Pra­xis hin­ter­her. Die­sem Wider­spruch nach befin­det sich der Mar­xis­mus eigent­lich immer in Kri­sen­si­tua­tio­nen, die nicht zuletzt Motor sei­ner Ent­wick­lung sind. Der Begriff west­li­cher Mar­xis­mus ver­wies ursprüng­lich auf eine sol­che Kri­se und his­to­ri­sche Sack­gas­se. Gebraucht wird er aber heu­te als undeut­li­ches Syn­onym für undog­ma­ti­sche Gesell­schafts­kri­tik und Theo­rie­in­no­va­ti­on, die sich mit diver­sen Impuls­ge­bern wie Anto­nio Gram­sci, Lou­is Althus­ser oder Theo­dor Ador­no schmückt.

Weil das dem Pro­blem nicht gerecht wird, legen Diethard Beh­rens und Kor­ne­lia Haf­ner eine Ein­füh­rung mit auf­klä­re­ri­scher Absicht zum west­li­chen Mar­xis­mus vor. Die sug­ge­rier­te Ein­heit­lich­keit des Labels wird dabei als bloß for­ma­le Bestim­mung zurück­ge­wie­sen, auch gegen­über dem His­to­ri­ker Per­ry Ander­son, der den Begriff 1976 popu­la­ri­sier­te. Die­ser mar­kier­te den Ver­fall des tra­di­tio­nel­len Mar­xis­mus, in dem ein refor­me­ri­scher Anspruch die eige­nen Grund­la­gen auf­lös­te. Nicht das Ergeb­nis, son­dern gera­de die Aus­ein­an­der­set­zung sei aber das eigent­li­che Moment des ver­meint­li­chen Para­dig­mas und der Pro­zess damit ein wich­ti­ge­res Kri­te­ri­um als der Inhalt: Der west­li­che Mar­xis­mus sei »eigent­lich erst in Gene­se und Gestal­tung darzulegen«.

Die­se Dar­le­gung erfolgt ent­lang drei zusam­men­hän­gen­der Pro­blem­la­gen, die zugleich das Buch struk­tu­rie­ren. Aus Ander­sons Kri­tik am Mar­xis­mus wird als Ers­tes abge­lei­tet, die Ten­denz zur Teleo­lo­gie als »›laten­ter® Kata­stro­phis­mus‹ rüh­re letzt­end­lich vom Feh­len einer poli­ti­schen Theo­rie her«. Über Exkur­se zu zeit­ge­nös­si­schen Debat­ten wird damit das Pro­blem des Poli­ti­schen auf­ge­spannt, zum Bei­spiel zwi­schen den Polen Idea­lis­mus und Mate­ria­lis­mus. Gram­sci ver­han­de­le dies­be­züg­lich etwa Fra­gen der poli­ti­schen Mobi­li­sie­rung und Hege­mo­nie, errei­che aber nur die »Spe­zi­fi­ka­ti­on einer […] idea­lis­tisch-phi­lo­so­phi­schen Welt­an­schau­ung«. Die Span­nung zwi­schen Par­tei­lich­keit und objek­ti­ver Erkennt­nis ver­su­che auch Althus­ser mit der Erkennt­nis­theo­rie der Marx­schen Spät­wer­ke zu ver­mit­teln. Wäh­rend dies den zen­tra­len Impuls der Neu­en Marx Lek­tü­re dar­stell­te, führt die Aus­ein­an­der­set­zung noch viel wei­ter, etwa zur Debat­te zwi­schen der Revo­lu­ti­on gegen eine abs­trak­te Tota­li­tät (John Hol­lo­way) und dem radi­ka­len Refor­mis­mus (Joa­chim Hirsch).

Der zwei­te gro­ße Pro­blem­kom­plex betrifft die Fra­ge nach der Geschich­te, mit­hin nach einer »kri­ti­schen His­to­ri­zi­tät«. Die kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaft ist einer­seits Resul­tat his­to­ri­scher Pro­zes­se und zugleich immer wei­ter im Wer­den. Wenn es folg­lich um deren Erkennt­nis geht, bewegt sich die­se zwi­schen abs­trak­ter Theo­rie und blo­ßem Posi­ti­vis­mus. Das betrifft sowohl das Selbst­ver­ständ­nis des Mar­xis­mus als offe­ne Theo­rie, wie an der Dis­kus­si­on zwi­schen Micha­el Hein­rich und Wolf­gang Haug gezeigt wird, als auch die Metho­dik des his­to­ri­schen Mate­ria­lis­mus selbst. Beh­rens und Haf­ner gehen hier detail­liert auf Aus­ein­an­der­set­zun­gen der Geschichts­wis­sen­schaft ein, etwa die Debat­te um den Über­gang vom Feu­da­lis­mus zum Kapi­ta­lis­mus, und unter­neh­men dabei den Ver­such, selbst einen Begriff kri­ti­scher His­to­ri­zi­tät anzudeuten.

Der letz­te und bei wei­tem umfang­reichs­te Teil dient einer »all­ge­mei­nen Spu­ren­le­se« und lässt sich am ehes­ten dem Pro­blem der gesell­schaft­li­chen Tota­li­tät zuord­nen. Ent­ge­gen den tra­di­tio­nel­len Gewiss­hei­ten des Mar­xis­mus sei der west­li­che Mar­xis­mus Aus­druck der Suche nach einer Neu­for­mu­lie­rung, in der, Mau­rice Mer­leau-Pon­ty zufol­ge, »eine spe­zi­fi­sche erkennt­nis­theo­re­ti­sche Dimen­si­on rekla­miert [wird]: Refle­xi­vi­tät«. Die Aus­ein­an­der­set­zung dar­um sei nir­gends prä­sen­ter als im Frank­reich des 20. Jahr­hun­derts. Aus­führ­lich rekon­stru­ie­ren Beh­rens und Haf­ner deren Sta­tio­nen: die begin­nen­de Hegel­re­zep­ti­on in Frank­reich, die Phä­no­me­no­lo­gie, die etwa Jean-Paul Sar­tres revo­lu­tio­nä­ren Huma­nis­mus inspi­riert, sowie die Ein­flüs­se Hei­deg­gers, des­sen onto­lo­gi­sches Nichts als Mög­lich­keit zur Über­win­dung des mar­xis­ti­schen Erkennt­nis­pro­blems erschien.

Im gesam­ten Buch neh­men die Quer­ver­wei­se und Exkur­se dabei kaum ein Ende. Neben den ori­gi­nä­ren Ver­tre­tern des Mar­xis­mus geht es über Spi­no­za zur klas­si­schen Sozio­lo­gie oder zu Jür­gen Haber­mas. Es ist einer­seits beein­dru­ckend, welch unfass­ba­re Mate­ri­al­fül­le hier auf 900 Sei­ten (mit immer­hin über 6000 Fuß­no­ten) refe­riert wird. Beh­rens und Haf­ner zei­gen Pro­ble­me und Ent­wick­lungs­li­ni­en der Sozi­al­wis­sen­schaft im All­ge­mei­nen, aber vor allem die heu­te schwer vor­stell­ba­re Tie­fe der intern mar­xis­ti­schen Dis­kus­si­on. Ande­rer­seits lie­fert die Auf­ar­bei­tung kaum bis gar kei­ne Hil­fe gegen die Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit und Ver­wir­rung gegen­über die­ser Theo­rie­ge­schich­te. Man muss die Debat­ten bereits ken­nen, um allein der for­ma­len Glie­de­rung des Buches Sinn abzu­rin­gen, geschwei­ge denn den ein­zel­nen Bei­trä­gen. Man geht schlicht ver­lo­ren in die­sem Werk, offen­bar eben­so wie die AutorIn­nen, die unan­ge­kün­digt zwi­schen eigen­stän­di­gem mar­x­olo­gi­schen Bei­trag und Werk­re­kon­struk­tio­nen chan­gie­ren. Als Ein­füh­rung, mit »ihrer ›begin­nen­den‹ auf­klä­re­ri­schen Funk­ti­on«, geht das nicht auf. Eher han­delt es sich um eine Bestands­auf­nah­me, unter ande­rem der Schwie­rig­keit mar­xis­ti­scher Theorie.

 

von Alex Struwe

 

Der Bei­trag erschien zuerst in Pha­se 2. Zeit­schrift gegen die Rea­li­tät, 55, Lite­ra­tur­bei­la­ge Kil­by, 5.

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