20 Jahre Goldhagen-Debatte

Die Arbeit an einem zeit­ge­mä­ßen Begriff des Mate­ria­lis­mus muss nicht bei null begin­nen. Der Band Das Kon­zept Mate­ria­lis­mus der Initia­ti­ve Sozia­lis­ti­sches Forum (ISF) doku­men­tiert Aspek­te einer etwas über zwan­zig Jah­re alten Theo­rie­de­bat­te, die aus dem Wis­sens­be­stand der Gesell­schafts­theo­rie zu ver­schwin­den droht.[1] Gemeint ist die Dis­kus­si­on um Sinn und Unsinn einer lin­ken Rezep­ti­on von Theo­rien im Anschluss an Michel Fou­cault, die zwar an vie­len Orten in aller Brei­te, zumin­dest eini­ger­ma­ßen pro­mi­nent und poin­tiert aber vor allem in der Wochen­zei­tung jung­le world geführt wur­de.[2]

Ein lin­ker Historikerstreit?

Der dama­li­ge Streit begann mit der Publi­ka­ti­on eines Buches von Dani­el Jonah Gold­ha­gen über die Koope­ra­ti­on brei­ter Tei­le der deut­schen Mehr­heits­be­völ­ke­rung am Holo­caust.[3] In Form einer „lin­ken Meta­sta­se des His­to­ri­ker­streits“[4], wie es die ISF tref­fend zusam­men­fasst, sind dar­auf­hin aus allen mög­li­chen Rich­tun­gen Kri­ti­ken und Anti­kri­ti­ken rund um die Schuld der Deut­schen ins Kraut geschos­sen. Anstoß in der Lin­ken erreg­te die theo­re­ti­sche Kon­se­quenz, eine an Klas­sen­kämp­fen ori­en­tier­te Poli­tik allein kön­ne, beson­ders in Deutsch­land, die Dege­ne­ra­ti­on von anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen zu anti­se­mi­ti­schen Ein­stel­lun­gen nicht verhindern.

Beson­ders ein Band aus dem Ele­fan­ten­ver­lag, der Gold­ha­gen gegen Angrif­fe vor allem auch aus dem Feuil­le­ton in Schutz genom­men hat, erreg­te die Gemü­ter.[5] Laten­ter Dreh­punkt bei all die­sen Debat­ten war, wie direkt oder indi­rekt der Anti­se­mi­tis­mus der Deut­schen aus einer all­ge­mei­nen Dia­gno­se über den Kapi­ta­lis­mus erklärt wer­den kann. Bezie­hungs­wei­se, in wie­fern genau das eben unmög­lich sei und folg­lich auch die Ele­men­te einer bür­ger­lich-demo­kra­ti­schen und eben kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schafts­form gegen Anti­se­mi­tis­mus in Anschlag gebracht wer­den kön­nen und müs­sen – nichts ande­res also schein­bar, als der Kon­flikt zwi­schen Anti­im­pe­ria­lis­mus und anti­deut­scher Ideo­lo­gie­kri­tik, wie er auch heu­te bekannt ist.

Die ISF und auch ande­re Publi­ka­ti­on des ça ira haben es dabei dan­kens­wer­ter­wei­se stets ver­mocht, hin­ter die­sem Kon­flikt mehr zu erken­nen, als „nur“ einen Streit um Anti­se­mi­tis­mus. Die wis­sen­schaft­li­che Fra­ge, die das Dos­sier 02 des Jahr­gangs 1998 der jung­le world heim­sucht, lau­tet: Wie muss eine sinn­vol­le Theo­rie der Geschich­te aus­se­hen, um Pra­xis anzuleiten?

Eine Fra­ge der Ableitung?

Die seit den Feu­er­bach­the­sen bekann­te und auch ver­kann­te Lösung auf die­se Fra­ge lau­te­te: Eine sol­che Theo­rie muss mate­ria­lis­tisch beschaf­fen sein, d.h. sie muss den ablau­fen­den Wan­del von Gesell­schaf­ten im wei­te­ren Sin­ne (also inklu­si­ve nicht nur ihrer Pro­duk­ti­ons­wei­se son­dern auch z. B. der dar­aus her­vor­ge­hen­den ideo­lo­gi­schen Appa­ra­te) beschrei­ben kön­nen und damit erklä­ren, wel­che Pra­xis­for­men nur geeig­net sind, eine Rück­nah­me bereits erreich­ter Fort­schrit­te ein­zu­lei­ten, wel­che Pra­xis­for­men der Ent­wick­lung nur nach­tra­ben und wel­che Pra­xis schließ­lich geeig­net wäre, Fort­schrit­te wei­ter zu ver­all­ge­mei­nern bzw. per­spek­ti­visch das selbst­stän­di­ge –d. h. aus Sicht der Men­schen: unbe­wuss­te–Ablau­fen der Geschich­te durch einen bewuss­ten Pro­zess zu ersetzen.

Der Holo­caust hat­te eine sol­che Vor­stel­lung in Fra­ge gestellt. Es stand zur Debat­te, ob es über­haupt noch mög­lich wäre, gesell­schaft­li­chen Wan­del ratio­nal –im Sin­ne von Gesetz­mä­ßig­kei­ten fol­gend– zu beschrei­ben, wenn eine sol­che Erklä­rung auch schein­bar Unbe­greif­li­ches umfas­sen müss­te. Glücklicher‑, oder eben je nach Per­spek­ti­ve: unglück­li­cher­wei­se, stand zu dem gege­be­nen Zeit­punkt ein neu­es Theo­rie­an­ge­bot zur Ver­fü­gung, das die­se Schwie­rig­keit schein­bar umschiff­te: Die Mög­lich­keit, gesell­schaft­li­che Posi­tio­nie­run­gen nicht als Aus­druck ihrer mate­ri­el­len Anord­nung, son­dern als Dis­kurs zu begrei­fen. Im direk­ten Gegen­zug zu der Über­le­gung, die mate­ri­el­len Grund­la­gen von Dis­kur­sen zu begrei­fen, geht es dabei dar­um, zu unter­su­chen, wie sich Dis­kur­se mate­ria­li­sie­ren, so dass sie im Nach­hin­ein als Ergeb­nis von Ver­hält­nis­sen erscheinen.

Lin­ke Theo­rie hat­te sich über meh­re­re teils haus­ge­mach­te Pro­ble­me der­art ver­wund­bar gemacht, dass sie durch sol­che Über­le­gun­gen leicht aus dem Tritt zu brin­gen war. Dar­über gab das Dos­sier in der jung­le world unfrei­wil­lig Aus­kunft. Die Fra­ge etwa, „Gibt es für den Holo­caust eine logi­sche Not­wen­dig­keit?“[6] stör­te sich gar nicht wirk­lich dar­an, dass aus­ge­rech­net der Holo­caust logisch erklärt wer­den soll (wie es die Rhe­to­rik der Ideo­lo­gie­kri­tik bis heu­te nahe­legt) son­dern viel­mehr an der Vor­stel­lung, dass es über­haupt logi­sche Not­wen­dig­kei­ten in der Geschich­te gibt. Geset­ze, Logik und Geschich­te kom­men dar­in nur mehr in Anfüh­rungs­zei­chen vor. Die Vor­stel­lung, es sei mög­lich, eine „Posi­ti­on außer­halb des sozia­len Gesche­hens, von der aus des­sen ver­schlei­er­te Funk­ti­ons­me­cha­nis­men aus­ge­lo­tet wer­den kön­nen“ zu fin­den, erscheint den Autor*innen als ver­ächt­lich „pri­vi­le­giert“.[7] Der Dis­kurs hat­te sich bereits sehr weit von einem Kon­zept Mate­ria­lis­mus ent­fernt, dass sei­ne Begrün­dun­gen in irgend­ei­ner Wei­se auf eine mate­ri­el­le Grund­la­ge von gesell­schaft­li­chem Wan­del bezieht.

Dop­pel­deg­ger

Die­se Mode der Kon­tin­genz, die sich bis heu­te hält, erreg­te beson­de­ren Anstoß, weil sie schein­bar auf Phi­lo­so­phie zurück­geht, die mit dem Holo­caust selbst in engs­ter Ver­bin­dung steht. Gemeint ist der star­ke theo­re­ti­sche Bezug sol­cher lin­ker Erneue­rungs­ver­su­che mit dem Dis­kurs­be­griff auf Mar­tin Hei­deg­ger, der wohl ohne vie­le Umschwei­fe heu­te wie damals als auf­rech­ter Natio­nal­so­zia­list bezeich­net wer­den darf.

Die­se berech­tig­te Empö­rung dar­über, den Holo­caust gera­de mit dem intel­lek­tu­el­len „Hand­werks­zeug“ der Täter erklä­ren und bekämp­fen zu wol­len –und die müßi­ge Fra­ge, inwie­fern sich der Nazis­mus Hei­deg­gers in die kri­ti­sche Dis­kurs­ana­ly­se fort­führt oder nicht– lenkt aber bis heu­te von einem viel wich­ti­ge­ren Pro­blem ab.

Denn die hei­deg­ger­sche Wen­de in der Lin­ken, sei es in der lin­gu­is­tisch-dis­kurs­ana­ly­ti­schen Metho­de oder im lin­ken Popu­lis­mus, sind offen­bar kein Werk von Hei­deg­ger selbst oder einer dif­fu­sen Ver­schwö­rung gewe­sen. Der Popu­la­ri­sie­rung der hei­deg­ger­schen Denk­art lässt sich genau datie­ren. Sie fällt in eine Zeit, in der der Welt an Theo­rie wahr­lich man­gel­te. Sie beginnt fak­tisch mit dem Auf­stieg der Dis­kurs­theo­rie Michel Foucaults.

Die­ser Auf­stieg geht dabei gera­de nicht auf die zwei­fel­lo­se indi­vi­du­el­le Genia­li­tät Fou­caults zurück. Auch Jean-Paul Sart­re war als indi­vi­du­el­ler Schrift­stel­ler sehr talen­tiert, doch sei­ne Art, mit Das Sein und das Nichts an Sein und Zeit anzu­knüp­fen, ist im Gegen­satz zu Fou­caults Ansatz so gut wie rest­los unter­ge­gan­gen und spielt heu­te nir­gend­wo mehr eine Rol­le. Der Unter­schied bestand dar­in, dass sich der eine noch wenigs­tens de jure dem Mar­xis­mus und dem Huma­nis­mus ver­pflich­tet fühl­te und ver­such­te, den Exis­ten­zia­lis­mus als einen sol­chen aus­zu­zeich­nen, wäh­rend der ande­re rund­her­aus durch Des­in­ter­es­se an der­glei­chen glänz­te, ja das Des­in­ter­es­se an Theo­rie und am Begrei­fen en vogue setz­te. Es ist die­se Gering­schät­zung an dem Anspruch, tat­säch­lich einen Begriff von Gesell­schaft zu haben, die sich auch in Tho­mas Sei­berts Ein­las­sung gegen die Kri­tik des IFS äußert.[8]

Die Abkehr von mate­ria­lis­ti­scher Theo­rie traf wohl den Nerv der Zeit. Tat­säch­lich zeigt ein Blick zurück, wie schwie­rig die Bedin­gun­gen vor 1968 waren, Theo­rie zu machen, wel­che Defor­ma­tio­nen Anti­kom­mu­nis­mus und Sta­li­nis­mus an der Erkennt­nis­fä­hig­keit der Min­der­heit hin­ter­las­sen hat­ten, die sich einer Bewusst­wer­dung der Geschich­te annah­men und wie flat­te­rig gera­de mar­xis­ti­sche Theo­rie auf­ge­stellt war. Doch nichts­des­to­trotz pas­siert damals ein veri­ta­bler Bruch, im Zuge des­sen beschlos­sen wur­de, sich dem Bal­last des Mar­xis­mus lie­ber ganz zu ent­le­di­gen, als sei­ne Schwie­rig­kei­ten wirk­lich zu lösen. Bis heu­te hat sich die­ser Modus stil­bil­dend erhal­ten: Wir ste­hen vor einem Berg an Lite­ra­tur, die aller­hand Schwä­chen, Lücken und Leer­stel­len des Mar­xis­mus beweist, ohne jemals sich dar­an zu machen, die­se Pro­ble­me wirk­lich aus­zu­räu­men.  Es ist an der Zeit, die­sen Bruch von 1968 mit mate­ria­lis­ti­scher Theo­rie als bewuss­ten Rück­zug der Lin­ken von einem umfas­sen­den Theo­rie­pro­gramm zu begreifen.

Denn die Theo­rie Fou­caults war nie und nim­mer eine Ergän­zung oder Wei­ter­ent­wick­lung einer mar­xis­ti­schen Fra­ge­stel­lung, son­dern mit Ansa­ge ein Abbruch eines mate­ria­lis­ti­schen Gesamt­kon­zepts der Gesell­schafts­theo­rie. Die Art und Wei­se, wie die­ser Bruch voll­zo­gen wur­de, war hoch­pro­ble­ma­tisch – denn an kei­ner pro­mi­nen­ten Stel­le wur­de über etwai­ge Grün­de dafür Aus­kunft gege­ben. Man möch­te fast den­ken, der Bruch sei damals bewusst so radi­kal kon­zi­piert wor­den, dass sich die neu­en Ant­wor­ten Fou­caults nicht ein­mal aus Fra­gen erge­ben durf­ten, die mit einem mate­ria­lis­ti­schen Voka­bu­lar denk­bar waren. Und tat­säch­lch ist bis heu­te kei­ne Ant­wort auf die Fra­ge in Sicht, wel­che Pro­ble­me in der mate­ria­lis­ti­schen Theo­rie­bil­dung, die es ja zuhauf gab und gibt, einen so radi­ka­len Bruch mit Lenin, Marx und Hegel nötig mach­ten – auch des­halb, weil die Theo­re­ti­ker bei­der Sei­ten viel öfter damit beschäf­tigt sind, ihre Ver­ein­bar­keit zu beteu­ern, statt kla­rer Gren­zen zu mar­kie­ren. Auch Sei­bert äußert sich damals ähn­lich vage:

„Was Fou­cault u.a. an Hei­deg­ger inter­es­siert hat, war gera­de nicht jene Aus­strei­chung der Dif­fe­renz von All­ge­mei­nem und Beson­de­rem, von Wesen und Erschei­nung, von Sein und Sei­en­dem, die die Frei­bur­ge­rIn­nen ihm zuschrei­ben. Son­dern umge­kehrt die Wei­se, in der Hei­deg­ger die­se Dif­fe­renz de-stru­iert, abbaut (was eben nicht heißt: leug­net). Indem er zeigt, wie sie in der Geschich­te der euro­päi­schen Meta­phy­sik stets in einem “Grund” und einer “Basis” zen­triert wird: Idee, Wesen, Gott, Sub­jekt.“[9]

Das mag sein – und doch darf zurecht gefragt wer­den, was denn der Sinn dar­in sein soll, den Fun­da­men­ta­lis­mus der euro­päi­schen Meta­phy­sik auf­zu­zei­gen? In der Aus­ein­an­der­set­zung mit Anhän­gern der an Fou­cault ori­en­tier­ten Theo­rie wird oft ent­geg­net, es rei­che nicht hin, eine Dif­fe­renz von Marx und Fou­cault zu zei­gen, um damit eine Über­le­gen­heit des ers­te­ren zu bewei­sen. Das stimmt aller­dings. Doch umge­kehrt reicht es auch nicht hin, die Kern­ele­men­te von Fou­caults Theo­rie zu refe­rie­ren, um damit allein schon deren Pro­duk­ti­vi­tät zu bewei­sen. Das Unter­neh­men der post­mo­der­nen Meta­phy­sik­kri­tik ver­bleibt offen­sicht­lich per design ohne eine geord­ne­te Distanz­be­stim­mung zu ande­ren For­men, sich dem herr­schaft­li­chen Cha­rak­ter der Phi­lo­so­phie ent­ge­gen­zu­stel­len. Auch Mate­ria­lis­mus und Dia­lek­tik waren ja ange­tre­ten, eben die­ser Herr­schaft ent­ge­gen­zu­tre­ten, auch wenn beson­ders letz­te­re sich dabei eher als Über­angsform erwie­sen hat, die heu­te nur noch eine unter­gord­ne­te Rol­le spielt.

Wahr­heit in der Geschich­te vs. Geschich­te der Wahrheit

Die –wir heu­te also umso kla­rer sehen kön­nen– unbe­grün­de­te Ver­mu­tung, eine Öff­nung des Mar­xis­mus für Ele­men­te der Dis­kurs­theo­rie wür­de der Gesell­schafts­theo­rie neu­es kri­ti­sches Leben ein­hau­chen, bestimm­te die Debat­te. So steht in einem ande­ren Part des Dos­siers zu lesen:

„Die Unter­schie­de zwi­schen Öko­no­mie, Poli­tik und Kul­tur wur­den eben­so in der alten Wei­se behan­delt wie die bekann­te Tra­di­ti­on des stra­te­gi­schen Spe­ku­lie­rens fort­ge­setzt wur­de. Vor allem aber wur­den die tra­di­ti­ons­mar­xis­ti­schen, essen­tia­lis­ti­schen und uni­ver­sa­lis­ti­schen Kate­go­rien wie Iden­ti­tät, Sub­jekt, Ent­frem­dung, Not­wen­dig­keit, Haupt­wi­der­spruch etc. gegen jeden “post­mo­der­nen” Ein­fluss — Dis­kurs­theo­rie, Ideo­lo­gie­theo­rie, anti-essen­tia­lis­ti­scher Femi­nis­mus, “Hedo­nis­mus”, “Indi­vi­dua­lis­mus” etc. — abge­dich­tet.“[10]

Und es stimmt, dass die Prot­ago­nis­ten die­ses „Abdich­tens“ dem Irr­tum ver­haf­tet blei­ben, der Mar­xis­mus wäre nicht schon zuvor an allen Ecken und Enden leck­ge­schla­gen. Es besteht heu­te nach all den Jah­ren Phi­lo­lo­gie und Neu­er Marx Lek­tü­re gar kein Zwei­fel mehr dar­in, dass die use­ca­ses der Marx­schen Theo­rie alle­samt gro­ße Pro­ble­me der inne­ren Kohä­renz haben. Das gilt von der Theo­rie der Lohn­ar­beit[11], der Theo­rie der ursprüng­li­chen Akku­mu­la­ti­on[12], der Kri­sen- und Revo­lu­ti­ons­theo­rien[13], der mate­ria­lis­ti­schen Staats­theo­rie[14] u.v.m. Wir kön­nen aber sehen, dass die soge­nann­te Öff­nung des Mar­xis­mus –die z. B. in der jung­le world eben gegen das Abdich­ten ein­ge­for­dert wird– in all die­sen Berei­chen selbst kaum Fort­schrit­te erzie­len konn­te. Der weni­ge Fort­schritt besteht dar­in, dass die tra­di­tio­nel­len Kate­go­rien zer­stört sind, beson­ders die­je­ni­ge vom Haupt­wi­der­spruch, die sich aller­dings schon im Rah­men eines erns­ten Mate­ria­lis­mus eigent­lich nicht hal­ten lässt.

Kein Zwei­fel, dass Ver­le­gen­heits­kon­zep­te wie der Wider­spruch in einer zeit­ge­mä­ßen Theo­rie über­haupt nicht viel zu suchen haben und sich schon bei Marx selbst eher einer ver­he­gel­ten Poli­tik­auf­fas­sung ver­dan­ken und in mate­ria­lis­ti­schen Ana­ly­sen nur noch eine sehr gerin­ge Rol­le spie­len kön­nen. Auf die Fra­ge, wie ver­schie­de­ne gesell­schaft­li­che Herr­schafts­ver­hält­nis­se zusam­men­hän­gen, konn­te bis­her weder der Mate­ria­lis­mus, noch die Dia­lek­tik noch die Dis­kurs­theo­rie Ant­wort geben – mit dem ein­zi­gen Unter­schied, dass die Unfä­hig­keit, eine Per­spek­ti­ve auf das Gan­ze der Geschich­te zu ent­wi­ckeln, für ers­te­re noch ein Pro­blem dar­stellt und für zwei­te­re zumin­dest zu Den­ken gibt, wäh­rend letz­te­re in der Kri­se der Tota­li­tät einen Befrei­ungs­schlag sieht: end­lich ist Kri­tik nicht mehr auf eine sys­te­ma­ti­sche Ein­ord­nung in Geschich­te ange­wie­sen. Bei­spiels­wei­se Tho­mas Lem­ke stell­te die­se Neue­rung in sei­nem Bei­trag zum Dos­sier Dis­kurs essen Lin­ke auf dar, das damals ver­schie­de­ne Ant­wor­ten auf die ursprüng­li­che Kri­tik des ISF enthielt:

„Fou­cault ist weder Phi­lo­soph noch His­to­ri­ker, son­dern stellt in sei­ner Arbeit eine Bezie­hung zwi­schen Phi­lo­so­phie und Geschichts­schrei­bung her. Damit ver­schie­ben sich die (ursprüng­li­chen) Grenz­zie­hun­gen zwi­schen bei­den “Dis­zi­pli­nen”: Wenn die Wahr­heit eine Geschich­te hat, wie kann die Geschich­te dann wahr sein?

Die­se “Geschich­te der Wahr­heit” inter­es­siert sich nicht dafür, was die Din­ge an sich sind oder wie sie sich his­to­risch ver­än­dern, son­dern sie fragt danach, wie sie für uns zu einem kon­kre­ten his­to­ri­schen Zeit­punkt exis­tie­ren[…]“[15]

Zugu­te­ge­hal­ten wer­den kann hier aller­dings, dass hier so deut­lich wie in der Zukunft kaum noch die Dif­fe­renz einer mate­ria­lis­ti­schen Ein­stel­lung und einem Dis­kurs­an­satz aus­ge­spro­chen wur­de.[16]

Alfred Schobert schob im sel­ben Dos­sier auch schon längst eine Ver­ein­bar­keits­er­klä­rung nach: „die Poin­te, die den ver­schie­de­nen Vor­schlä­gen, Gold­ha­gens Buch gegen die Inten­ti­on des Autors als Dis­kurs­ana­ly­se zu lesen, gemein ist; sie alle näm­lich fun­die­ren ihre Dis­kurs­ana­ly­se mate­ria­lis­tisch“, ent­geg­net Schobert den­je­ni­gen, die Vor­be­hal­te gegen eine sol­che Ana­ly­se gel­tend machen.[17] Gibt es also gar kein Pro­blem? Ist die gan­ze Debat­te letzt­lich ein non-issue? Doch wor­in besteht denn das Erkennt­nis­pro­blem des Mate­ria­lis­mus, wenn er sich ande­rer­seits so ein­fach als mate­ri­el­les Fun­da­ment für eine Dis­kurs­ana­ly­se zu eig­nen scheint?

Die Tyran­nei des Problems

Viel­leicht lässt sich am Ende ein gro­ßer Teil der Debat­te der­art auf die Fra­ge redu­zie­ren, wie kri­ti­sche Wis­sen­schaft funk­tio­nie­ren soll. Tra­di­tio­nell ste­hen hier sehr tech­ni­sche Model­le im Vor­der­grund: Aus­ge­hend von einem bestimm­ten Pro­blem wird nach einer For­mel gesucht, die sich mit den Beob­ach­tun­gen ver­ein­ba­ren lässt. Solan­ge dies funk­tio­niert, glau­ben wir an die Gül­tig­keit der Theo­rie, auch und beson­ders dann, wenn ihre Schluss­fol­ge­run­gen uns nicht gefallen.

His­to­risch stell­te die­se Auf­fas­sung einen gro­ßen Fort­schritt dar: Mathe­ma­tik, Phy­sik, Bio­lo­gie, Astro­no­mie etc. sind uns auch des­we­gen lieb und teu­er, weil sie eine Ori­en­tie­rung des mensch­li­chen Den­kens anhand der Gesetz­mä­ßig­kei­ten der Natur sym­bo­li­sie­ren. Wir glau­ben dar­an, dass die Erde mehr oder weni­ger regel­mä­ßig um die Son­ne kreist, weil die The­se, es wäre umge­kehrt, sich nicht mit unse­ren Beob­ach­tun­gen ver­ei­nen lässt. Wir glau­ben dar­an, weil es wahr ist und weil es das Pro­blem löst, von A nach B zu gelangen.

Die­se Fest­stel­lung hat der Mensch­heit gat­tungs­ge­schicht­lich nicht immer gefal­len. Aus heu­ti­ger Sicht bewer­ten wir die Krän­kung, die den Men­schen wie­der­fah­ren ist, als sie rea­li­sier­ten, nicht im Zen­trum des Uni­ver­sums zu resi­die­ren, als heil­sam: Die Zer­schla­gung des Nar­ziss­mus des geo­zen­tri­schen Welt­bilds, der zugleich Aus­druck und Legi­ti­ma­ti­on unter­drü­cke­ri­scher Gesell­schafts­for­men gewe­sen zu sein scheint[19], gilt gemein­hin als Fort­schritt, weil sich die Lebens­qua­li­tät aller Men­schen schein­bar ein­deu­tig ver­bes­sert hat, trotz allem ein Schritt hin zum guten Leben für Alle, die Ur-For­de­rung der Lin­ken. In alle­dem führt von einem wis­sen­schaft­li­chen (mathe­ma­ti­schen, astro­no­mi­schen, sozio­lo­gi­schen, …) Pro­blem ein direk­ter Weg zur Lösung. Und auch der Mate­ria­lis­mus denkt, in der über­wäl­ti­gen­den Mehr­heit sei­ner Erschei­nungs­for­men, in die­ser Wei­se. Von der „Ablei­tung“ der Bedin­gun­gen des Holo­caust, über die „Staats­ab­lei­tungs­de­bat­te“ zurück bis zum Lenin‘schen „Was tun?“.

Doch was, wenn die­ser Form des Den­kens, des Ablei­tens von Lösun­gen sel­ber nur in einer bestimm­ten Pha­se der Geschich­te beson­de­re Gel­tung zukommt? Kann es sein, dass etwa die digi­ta­le Ver­än­de­rung der Welt, die neu­en Pro­duk­tiv­kräf­te, die Natur selbst oder –wie Fou­cault eben mein­te– die „bio­lo­gi­sche Moder­ni­täts­schwel­le“ die­se Form des Den­kens tat­säch­lich an ihr Ende bringt? Lässt sich die­ser Wan­del wie­der­um ratio­nal und mate­ria­lis­tisch beschrei­ben? Es scheint, als ob mate­ria­lis­ti­sche Theo­rie auch an die­ser Fra­ge nicht vorbeikommt.

    1. Susann Witt-Stahl hat zum 20-jäh­ri­gen Jubi­lä­um der Gold­ha­gen-Debat­te eben­falls ein län­ge­res Dos­sier zusam­men­ge­stellt, das sich aber eher um bewe­gungs­po­li­ti­sche Fra­gen, bzw. Deu­tungs­ho­hei­ten in der Lin­ken dreht, und nicht um ein dahin­ter­lie­gen­des Theo­rie­pro­blem, vgl. ders. 2016, Meta­phy­sik statt Marx, Jun­ge Welt 04.08.2016, online unter: www.jungewelt.de/artikel/291172.metaphysik-statt-marx.html
    1. Einen Über­blick über die Debat­te gibt die Redak­ti­on der jung­le world selbst, https://jungle.world/artikel/1998/31/whats-left
    1. Vgl. Axel Gab­lik, Rezen­si­on zu: Dani­el Jonah Gold­ha­gen: Hit­lers wil­li­ge Voll­stre­cker. Ber­lin: 1996, in: Por­tal für Poli­tik­wis­sen­schaft, http://pw-portal.de/rezension/1783-hitlers-willige-vollstrecker_2049, ver­öf­fent­licht am 01.01.2006
    2. Initia­ti­ve Sozia­lis­ti­sches Forum (Hrsg.) 2009 – Das Kon­zept Mate­ria­lis­mus. Pam­phle­te und Trak­ta­te, Frei­burg: ça ira, 50
    1. Vgl. Ste­fan Lembke, Rezen­si­on zu: Ulri­ke Becker / Frank Behn / Cla­ra Fall / Mat­thi­as Künt­zel / Wla­di­mir Schnei­der / Jür­gen Starck / Klaus Thör­ner / Rolf Wol­ters­dorf: Gold­ha­gen und die deut­sche Lin­ke oder Die Gegen­wart des Holo­caust Ber­lin: 1997, in: Por­tal für Poli­tik­wis­sen­schaft, http://pw-portal.de/rezension/4133-goldhagen-und-die-deutsche-linke-oder-die-gegenwart-des-holocaust_5840, ver­öf­fent­licht am 01.01.2006
    1. Regi­na Beh­rendt et al. 1998, Gibt es für den Holo­caust eine logi­sche Not­wen­dig­keit?, in: jung­le world 02/1998, Dos­sier Gold­ha­gen und die anti­na­tio­na­le Lin­ke, online unter: https://jungle.world/artikel/1998/02/gibt-es-fuer-den-holocaust-eine-logische-notwendigkeit
    1. Beh­rendt et al. 1998, Fal­sches Bewußt­sein oder dis­kur­si­ve Pra­xis, in: jung­le world 02/1998, a.a.O., online unter: https://jungle.world/artikel/1998/02/falsches-bewusstsein-oder-diskursive-praxis
    1. Tho­mas Sei­bert 1998, Dia­lek­tik und Sophis­tik, Wozu und wie Kri­tik geübt wird, in: jung­le world 11/1998, Dos­sier Dis­kurs essen Lin­ke auf, online unter: https://jungle.world/artikel/1998/11/dialektik-und-sophistik
    1. Ebd.
    1. Beh­rendt et al. 1998, Fein­de des Vater­lan­des. Eine kur­ze Geschich­te der anti­na­tio­na­len Lin­ken, in: jung­le world 02/1998, a.a.O., online unter: https://jungle.world/artikel/1998/02/feinde-des-vaterlandes
    1. Die kei­nen halt­ba­ren Begriff von not­wen­di­ger und nicht­not­wen­di­ger Arbeits­zeit bzw. Pro­duk­ti­vi­tät und monu­men­ta­le Pro­ble­me wie die Haus­ar­beits­de­bat­te nie abschlie­ßen beant­wor­tet hat.
    1. Deren Ele­men­te von Zeit­ge­nos­sen wie David Har­vey und Klaus Dör­re ver­wal­tet wer­den, denen aber die Mit­tel feh­len um Kon­zep­te von Ent­eig­nung, Land­nah­me etc. auf Ebe­ne der Gesamt­ge­sell­schaft ernst­haft zu ope­ra­tio­na­li­sie­ren, vgl. z.B. David Har­vey 2004, Die Geo­gra­phie des „neu­en“ Impe­ria­lis­mus: Akku­mu­la­ti­on durch Ent­eig­nung, in: Chris­ti­an Zel­ler (Hrsg.) 2004, Die glo­ba­le Ent­eig­nungs­öko­no­mie, Müns­ter: West­fä­li­sches Dampf­boot, 183–215
    1. Die gro­ßen Unru­hen an den inter­na­tio­na­len Finanz­märk­ten ab 2007 gin­gen fak­tisch vor­bei, ohne dass in den impe­ria­len Zen­tren wesent­li­cher Wider­stand sich geregt hät­te.
    1. Deren gro­ßer Wurf, Mate­ria­lis­mus, die Ana­ly­sen Gram­scis und die Metho­do­lo­gie Fou­caults zu ver­ei­nen, zwar einen gro­ßen Teil des deutsch­spra­chi­gen sta­te of the art der kri­ti­schen Gesell­schafts­theo­rie reprä­sen­tiert, jedoch ohne in einer poli­ti­schen Bewe­gung Fuß fas­sen zu kön­nen noch gar anzu­tre­ten, eine sol­che anzu­lei­ten.
    1. Tho­mas Lem­ke 1998, Rela­ti­vis­mus revi­si­ted. Fou­cault, die Genea­lo­gie und die His­to­rie, in jung­le world 11/1998, a.a.O., online unter: https://jungle.world/artikel/1998/11/relativismus-revisited
    1. Der popu­lä­re Ein­füh­rungs­band von Andre­as Fol­kers und Tho­mas Lem­ke zu Fou­caults Kon­zept der Bio­po­li­tik etwa stellt so gut wie aus­schließ­lich die Genea­lo­gie der Bio­po­li­tik dar, ohne Fou­caults Vor­schlag, wie die­se ange­nom­me­ne his­to­ri­sche Zäsur zu ana­ly­sie­ren sei, in Bezug zu ande­ren Ana­ly­se­for­men zu set­zen, allen vor­an eben dem Mate­ria­lis­mus. Das ist prin­zi­pi­ell berech­tigt, doch die Hoff­nung, die­se ganz ande­re Fra­ge wür­de schon an einer ande­ren Stel­le im wis­sen­schaft­li­chen Betrieb auf­ge­fan­gen, ist nicht ein­ge­tre­ten, vgl. ders. (Hrsg.) 2014, Bio­po­li­tik. Ein Rea­der, Frank­furt am Main: Suhr­kamp
    1. Alfred Schobert 1998, Let’s go, Auf­klä­rer!, in jung­le world 11/98, a.a.O., online unter https://jungle.world/artikel/1998/11/lets-go-aufklaerer
  1. Und in die­sem Schein liegt eine beson­de­re Schwie­rig­keit. Was, wenn das Geschichts­bild, moder­ne Gesell­schaf­ten hät­ten zwar eige­ne Unter­drü­ckungs­for­men, ins­ge­samt aber Befrei­ung mit sich gebracht, nur ein­ge­schränkt zutrifft? Beson­ders die Her­aus­for­de­run­gen mate­ria­lis­tisch-femi­nis­ti­scher Theo­rie, die z.B. vor­schla­gen, die Ent­ste­hung des Kapi­ta­lis­mus als Kon­ter­re­vo­lu­ti­on zu inter­pre­tie­ren, i.e. als Reak­ti­on auf eine eben nicht voll­stän­dig ver­ach­tens­wer­te und vllt. sogar ‚com­mo­nis­ti­sche‘ Gesell­schafts­for­men?

von Flo­ri­an Geisler

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