Materialismus und Wahrheit

Leseno­tiz zu Alain Badiou/Jaques Ran­cière (2014) [1996]: Poli­tik der Wahrheit. Wien: Turia + Kant

Mate­ri­al­is­tis­che The­o­rie hat in der jüng­sten Zeit wieder einen leichteren Stand insoweit sie sich für eine materielle Analyse von Antidiskri­m­inierungs­diskursen in den Dienst nehmen lässt. So wird allerorten die the­o­retis­che Oper­a­tion vorgenom­men, Diskri­m­inierun­gen auf Basis von sozialer Schicht und sozialer Stel­lung, also materielle Merk­male mit eben­so materiellen Auswirkun­gen, mit anderen Diskri­m­inierungs­for­men zu verknüpfen. Schw­er­er hat es weit­er­hin eine ganz andere Dimen­sion des Begriffs des Mate­ri­al­is­mus, die auf den his­torischen und sys­tem­a­tis­chen Zusam­men­hang von mod­er­nen Staat­spro­jek­ten und deren Pro­duk­tion von Diskri­m­inierung zielt.

Zwei Philosophen, die bere­its vor knapp 30 Jahren Zweifel an der Wirk­samkeit dieser wesentlichen Strö­mung mate­ri­al­is­tis­ch­er The­o­rie hat­ten und sel­biger (und der gesamten restlichen poli­tis­chen Philoso­phie gle­ich mit) eine Art „Stil­prob­lem“ diag­nos­tizierten, sind Alain Badiou und Jaques Ran­cière. 1996 erschien in deutsch­er Sprache eine Samm­lung mehrerer ihrer Vor­lesun­gen unter dem Titel „Poli­tik der Wahrheit“.

Bedeutung und Erkenntnis

Badiou begin­nt mit ein­er knap­pen Kri­tik der 3 gegen­wär­ti­gen Haupt­strö­mungen der Philoso­phie: Hermeneu­tik (Hei­deg­ger, Gadamer), Ana­lytis­che Philoso­phie (Car­nap) und Post­mod­erne (Lyotard). Sie alle stim­men übere­in a) in einem Fokus auf die Sprache als eigentlich­es Medi­um der Philoso­phie, und b) in der Prokla­ma­tion des Endes der Meta­physik samt der zuge­höri­gen Kat­e­gorien wie dem Sub­jekt – und der Wahrheit. Badiou behauptet nun, diese drei ehe­mals radikalen Hal­tun­gen seien mit­tler­weile kon­formistisch gewor­den. Reine Sprach­spiele ohne Sub­jekt oder Wahrheit­sanspruch, die die Inkon­sis­tenz des medi­al ver­mit­tel­ten Diskurs­es eher über­bi­eten als kri­tisieren (sowohl in der Philoso­phie als auch in der bilden­den oder darstel­len­den Kun­st), fügen sich, ohne anzueck­en in die neolib­erale Gesellschaft der Beschle­u­ni­gung ein, sie sind angepasst (24). In Anlehnung an die Hal­tung Rene Descartes’ fordert Badiou dage­gen einen neuen philosophis­chen Stil: Er soll uni­ver­sal sein, kohärent und sich gegen die frag­men­tarische Anord­nung des post­mod­er­nen Wis­sens wen­dend einen Sinn für Kon­ti­nu­ität und Total­ität beson­ders des philosophis­chen und poli­tis­chen Wis­sens schär­fen (27), um so die poli­tis­che Urteils­fähigkeit der The­o­rie zu ret­ten. Damit unter­schei­det es sich in Hin­sicht der Wahrheit diame­tral von der Sichtweise Michel Fou­caults, der Wahrheit als Ergeb­nis eines bere­its beste­hen­den Machtzusam­men­hangs vorstellte.

Zur Frage ste­ht bei Badiou allerd­ings, wer hier eigentlich vor wem gerettet wird. Muss wirk­lich die Philoso­phie der Gesellschaft­s­the­o­rie zu Hil­fe eilen? Oder ist es nicht vielmehr umgekehrt das Philoso­phieren sel­ber, das fortwährend auf Kosten der Gesellschaft­s­the­o­rie gerettet wer­den muss, deren wahre Ret­tung darin bestünde, sich von der ide­ol­o­gis­chen Form der Philoso­phie freizu­machen? Badiou spricht dieses Prob­lem direkt an: „Kann Poli­tis­che The­o­rie Philoso­phie erset­zen?“ (29). Diese Frage wurde bish­er stets nur rhetorisch gestellt, die implizite Antwort darauf lautete bish­er immer „nein“. 

Louis Althuss­er hat­te die Lösung dieser Frage im Bere­ich der Darstel­lungsweise gesucht: Nicht der konkrete Inhalt, son­dern die Darstel­lungsweise im „Kap­i­tal“ sei es, die den Über­gang vom Philoso­phieren zu ein­er wis­senschaftlichen The­o­rie der Gesellschaft aus­mache. Frieder Otto Wolf dage­gen for­muliert die Frage in Bezug auf die poli­tik­wis­senschaftliche Prax­is: Was sind eigentlich wis­senschaftliche Erken­nt­nisse und was bedeutet es, wis­senschaftliche Erken­nt­nisse zur Grund­lage poli­tis­chen Han­delns zu machen?

Badiou plädiert nun dafür, dass eine solche Über­tra­gung von Erken­nt­nis zu Prax­is nur im Rah­men eines „Wahrheit­sereigniss­es“ passieren kann, sie kann nicht geplant und nicht insze­niert wer­den. Poli­tis­che Dynamik lasse sich begreifen, aber nicht antizip­ieren. In diesem Rah­men entwick­elt Badiou eine Kri­tik des Lenin­schen Pro­gramms, das ja genau in ein­er solchen begrün­de­ten Speku­la­tion auf die kün­ftige Dynamik beste­ht. Auch die Demokratie, so Lenin, sei let­z­tendlich eine Form des sou­verä­nen Staats, und damit solle auch sie mit der Zeit abster­ben. Badiou nen­nt diese die Posi­tion des gener­ischen Kom­mu­nis­mus (37), also in etwa die Posi­tion, die Marx in den Paris­er Manuskripten 1844 ein­nahm. Badiou stuft dieser Herange­hensweise (die Lenins Dik­tatur des Pro­le­tari­ats, mit der der Staat dann langsam abstirbt) als eine Sack­gasse ein, eine solche Vor­weg­nahme der Entwick­lung sei viel zu genau schema­tisch. Stattdessen wirbt er dafür, Demokratisierung in einem weit­eren Sinn zum Bestandteil link­er Poli­tik zu machen. 

Badiou selb­st kommt in diesem wichti­gen Punkt mit sein­er for­malen Def­i­n­i­tion von Demokratie als „das, was das Beson­dere dem Gesetz der All­ge­mein­heit des poli­tis­chen Wil­lens unter­stellt, das, was diese Unter­stel­lung autorisiert“ (51) aber auch nicht weit­er als bis zu bere­its bei Rousseau vorge­fun­denes Para­dox, dass die Entschei­dung über die Grün­dung ein­er Sou­veränität sel­ber noch keine sou­veräne Entschei­dung sein kann. Es scheint, als ob alle berechtigten Ver­suche, das ja wirk­lich sehr speku­la­tive Schema Lenins aufzubrechen, zum sel­ben Schick­sal ver­dammt sind – sie führen zurück zu ein­er noch viel schema­tis­cheren Auf­fas­sung, wie sie heute eher durch die Posi­tion Laclaus bekan­nt ist: Der Kern der Demokratisierung ist let­z­tendlich leer, und muss ein­fach nur irgend­wie ange­füllt wer­den. Badious Def­i­n­i­tion durch die Autorisierung kann heute nur noch neg­a­tiv gele­sen wer­den: Die „All­ge­mein­heit des poli­tis­chen Wil­lens“ ist kein Hoff­nungsträger mehr, son­dern Teil des Sys­tems, das die Mis­ere pro­duziert. Es bleibt zu disku­tieren, warum Badiou hier vor rund 25 Jahren noch eine Hoff­nung erblick­te, und wie wir heute zu diesem Prob­lem ste­hen, dass die All­ge­mein­heit, auch da, wo sie zum demokratis­chen Zuge kommt, eben sel­ten eine pro­gres­sive Rolle einnimmt.

Die Theorie der Gründe und das negative Ganze

Jaques Ran­cière hat diesen Auf­schlag ein­er for­malen Def­i­n­i­tion der Demokratie als Auf­gabe für die Philoso­phie erhe­blich dif­feren­ziert­er angenom­men. Er formt Badious vage Bes­tim­mung von „Demokratie als Gegen­stand der Philoso­phie“ in eine offene Frage um: „Welch­er Typ der Begeg­nung zwis­chen der Ausübung des Poli­tis­chen und der Ausübung der Philoso­phie wird mit dem Aus­druck »poli­tis­che Philoso­phie« benan­nt?“ (81). Im Gegen­satz zu Lenin und Althuss­er definiert Ran­cière die Ausübung des Poli­tis­chen nicht im Sinne der Staat­sap­pa­rate: „Der Begriff des Staat­sap­pa­rates set­zt eine Ent­ge­genset­zung von Staat und Gesellschaft voraus, die dem Leben des zweit­en ihre straffe Ord­nung aufzwingt“. Er ver­sucht stattdessen, „etwas anderes zu denken: Dass näm­lich staatliche Funk­tio­nen jen­er Dis­tri­b­u­tion von Stellen und Funk­tio­nen ange­hören, von der eine gesellschaftliche Ord­nung gebildet wird“ (82). Nicht unähn­lich dem Argu­ment bei Fou­cault ist die Diszi­plin­ierung der Sub­jek­te diesen nicht äußer­lich, son­dern bringt ihre Ord­nung mit her­vor. Wir kön­nen es uns etwa so vorstellen, dass z.B. ras­sis­tis­che polizeiliche Repres­sion nicht ein­fach nur gegen schwarze Men­schen gerichtet ist, son­dern dass die Repres­sion gle­ichzeit­ig die Sub­jek­t­po­si­tion erst prak­tisch mit her­vor­bringt. Poli­tisch ist nun für Ran­cière nicht nur die Zurück­weisung der Diszi­plin­ierung an sich, son­dern die Zurück­weisung der Aufteilung des Raumes, in dem sie wirkt.

Poli­tisch ist dann jede Tätigkeit, „von der diese Dis­tri­b­u­tion in Frage gestellt und auf ihre Kontin­genz, auf die Abwe­sen­heit ihres Grun­des zurück­ge­führt wird“ (83, Herv. FG). Doch auch hin­ter dieser Hal­tung steckt let­ztlich ein For­mal­is­mus. Denn die Gründe für die so erfol­gte Aufteilung des Raums, seien es nun z.B. ras­sis­tis­che oder sex­is­tis­che Topolo­gien, sind natür­lich keineswegs ein­fach abwe­send. Es sind sicher­lich falsche Gründe, aber sie erfol­gen ja nicht als diskur­siv­er Zufall. Es scheint die richtige Spur zu sein, Staat und Gesellschaft nicht als reinen Gegen­satz zu denken in dem Sinn, dass der („böse“) Staat die („gute“) Gesellschaft diszi­plin­iert – vielver­sprechen­der ist es, sie als Ein­heit zu denken, aber eben als eine neg­a­tive Ein­heit, als Ver­schränkung schlechter Gründe mit falschen Mitteln.

Ran­cière weist zu Recht darauf hin, dass in der bish­eri­gen Geschichte die großen sozialen Allianzen und poli­tis­chen Wahrheit­sereignisse immer unge­plant und radikal zufäl­lig passiert sind (94). Die „große Erzäh­lung“ und „großen Kollek­tiv­sub­jek­te“ wird meist erst in der Ret­ro­spek­tive hinein­in­ter­pretiert wer­den kön­nen, fol­glich auch die The­sen vom „Ende der Geschichte“ oder vom „Ende der großen Erzäh­lun­gen“ buch­stäblich ins Leere laufen, weil die Erzäh­lun­gen stets Aus­druck des jew­eils aktuellen Kampfes um die Deu­tung­shoheit über die Geschichte sind. Trotz­dem klingt seine Empfehlung, in diesem Sinne Poli­tik in Wahrheit, also in etwa: „mit Aufrichtigkeit auf das größt­mögliche Erfol­gsmo­ment zie­lend“ zu betreiben (alei­thos politheuesthai) sehr stark danach, das aufk­lärerische Pro­jekt aufzugeben, die Men­schheit könne sich über ihre Geschichte wirk­lich bewusst­wer­den. Wahrheit ist dann immer nur das, was übrig­bleibt, wenn sich der Staub nach dem Diskurs wieder legt.

Auch Wolf fordert gle­ich zu Beginn sein­er let­zten Vor­lesung zur Radikalen Philoso­phie, dass dieser Reduzierung der The­o­rie auf das Handge­menge am besten mit einem starken Wahrheits­be­griff (und hier ist expliz­it Badiou genan­nt) ent­ge­genge­treten wer­den kann: Nur insofern die Kri­tik der Gesellschaft und gle­ichzeit­ig die „Spiel­regeln“ dieser Kri­tik sich selb­st in einem Zusam­men­hang aus wahrheits­fähi­gen Sätzen kon­sti­tu­ieren kann, ist Kri­tik möglich und wirk­mächtig. Der Mate­ri­al­is­mus hat eben für alle mod­er­nen, neuen sozialen Bewe­gun­gen keine rel­e­vante Rolle mehr gespielt, weil die Ver­suche, ihn so zu begrün­den, aus­ge­blieben sind.

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