Die Romantik der Masse

Marx oder Spinoza?

Nach­le­seno­tiz zu Kat­ja Diefen­bach: Speku­la­tiv­er Mate­ri­al­is­mus | 2018 | Wien: Turia+Kant | 604 Seit­en | 978–3‑85132–888‑2

Die vielz­i­tierte »Repro­duk­tion der Pro­duk­tionsver­hält­nisse« – sie ist nicht nur eine kom­plizierte Floskel für ein eigentlich banales Prob­lem, son­dern eine sozi­ol­o­gis­che und philosophis­che Her­aus­forderung. Man kann zwar heute berechtigter­weise der Mei­n­ung sein, dass das Phänomen der Sta­bil­ität, ja regel­recht­en Resilienz des Kap­i­tal­is­mus als his­torische For­ma­tion bess­er ohne den Bal­last von Althussers Struk­tu­ral­is­mus erk­lärt und bekämpft wer­den kann, auf den diese For­mulierung zurück­ge­ht. Doch selb­st dann kann es nicht schaden, sich die Sit­u­a­tion in den 1960er und 1970er Jahren bewusst zu machen und zu ver­ste­hen, auf welche Prob­leme die philosophis­chen Ver­suche dieser Jahre über­haupt reagieren, deren Lösungsvorschläge zwar oft in unseren heuti­gen Sprachge­brauch einge­gan­gen sind, ohne wir uns über ihre Trag­weite im Klaren wären.

Spinoza und die Fragestellung des Postmarxismus

Kat­ja Diefen­bachs Buch lässt sich als Beitrag zu einem solchen Forschung­spro­gramm zur Entste­hung von The­o­rien ver­ste­hen, das helfen soll, aktuelle Schwierigkeit­en bess­er zu umfahren. Alles begin­nt mit der Fest­stel­lung, dass die Philoso­phie des Nieder­län­ders Baruch de Spin­oza aus dem 17. Jahrhun­dert eine Menge zu den mod­er­nen Fra­gen zur poli­tis­chen Beru­fung der Philoso­phie zu sagen hat. Diefen­bach selb­st ver­ste­ht ihr Pro­jekt genau so: Nicht als scholastis­che Rekon­struk­tion, „son­dern als the­o­riepoli­tis­chen Ein­griff“, um den „dif­feren­zial­lo­gis­chen Charak­ter von Spin­ozas Denken und die damit ver­bun­dene poli­tis­che Orig­i­nal­ität … für die heuti­gen Kon­tro­ver­sen um den Begriff der Poli­tik“ (17) herauszuarbeiten.

Diefen­bach erin­nert dafür zunächst an die bekan­nte Prob­lemde­f­i­n­i­tion Althussers: Ger­ade weil die Lohnar­beit meist nicht durch unmit­tel­bare Gewalt erzwun­gen wird, son­dern ganz im Gegen­teil genau­so bezahlt wird, wie jede andere Ware, näm­lich auf Grund­lage der geschätzten Kosten für Ihre Her­stel­lung, herrscht im Kap­i­tal­is­mus eine immense Ide­olo­gie juris­tis­ch­er Gle­ich­heit – Kap­i­tal und Arbeit als gle­iche Part­ner, in deren Aus­tausch­prozess am Ende den­noch mehr Wert entste­ht, als am Anfang hineinge­wor­fen wurde. Man mag diesen Prozess zurecht kri­tisieren. Fakt ist aber, dass die Anerken­nung ein­er solchen abstrak­ten Gle­ich­heit einen erhe­blichen Inte­gra­tions­fak­tor für die mod­erne Gesellschaft darstellt. An vie­len Orten wur­den die Klassenkämpfe als schein­bare Motoren der Geschichte fast stillgestellt. Dies ist, laut Althuss­er, eben nicht nur ein poli­tis­ches, son­dern ein philosophis­ches Prob­lem, denn es berührt direkt unser Ver­ständ­nis von Kausal­ität im Bere­ich der Poli­tik. Wenn es nicht Ökonomie und Mehrw­ert sind, die die Poli­tik vorherbes­tim­men, was ist es dann? Gibt es dann über­haupt noch eine Möglichkeit, Poli­tik als etwas zu denken, was regeln gehorcht, oder muss man eingeste­hen, dass Poli­tik let­z­tendlich beliebig, zufäl­lig oder kontin­gent ist? Kann, mit anderen Worten, Mate­ri­al­is­mus über­haupt noch als Wis­senschaft von der Deter­mi­na­tion sozialer Sys­teme deuten? Diefen­bach fasst Althussers Prob­lem­stel­lung fol­gen­der­maßen zusammen:

“Für Althuss­er beze­ich­net der Begriff des Mehrw­erts nichts anderes als ‚seinen eige­nen Inadäqua­tions­bere­ich‘. Damit hört die Ökonomie auf, Träger von Essen­tial­is­mus und Notwendigkeit im Hegel’schen Sinne zu sein. … [D]ass ‚die ein­same Stunde der let­zten Instanz nie schlägt‘, drückt eine … Wider­spruchs­beziehung aus, in der das bes­tim­mende Momen­tum durch das, was es deter­miniert, rede­ter­miniert wird. Diesem Schema der Überde­ter­mi­na­tion gibt Althuss­er … einen neuen Namen – imma­nente, struk­tu­rale oder metonymis­che Kausal­ität.” (28)

An diesem Prob­lem der struk­tu­ralen Kausal­ität hat sich, ohne viele Erfolge vor­weisen zu kön­nen, eine ganze Gen­er­a­tion die Zähne aus­ge­bis­sen. Heute ist es weit­ge­hend in den Archiv­en ver­schwun­den, nach­dem sich das sozial­wis­senschaftliche Inter­esse in ganz andere Bere­iche ver­lagert hat. Diefen­bach tritt nun allerd­ings dafür ein, dass das Prob­lem bere­its lange vor Althuss­er, näm­lich bei Spin­oza, eine ganz her­vor­ra­gende prax­is­philosophis­che For­mulierung erfahren hat, die viele der gordis­chen Knoten der Ver­gan­gen­heit durch­schlägt und auch heute von großem Nutzen sein kön­nte, weshalb sie die diese For­mulierung durch alle Facetten, Phasen und späteren Inter­pre­ta­tio­nen hin­durch rekon­stru­ieren möchte. Schon allein durch den Umfang der Rekon­struk­tion, aber auch in ihrer poli­tis­chen Analyse, geht Diefen­bachs Arbeit weit über den Rah­men ver­gle­ich­bar­er Stu­di­en hin­aus.[1]

Deut­lich wer­den dabei vor allem zwei Dinge. Erstens: Die Aneig­nung von Spin­oza ist umkämpft. Zweit­ens: Spin­ozas Argu­menten ist, ver­gle­ich­bar vielle­icht mit dem Fall Anto­nio Gram­scis, nicht in rein­er Form hab­haft zu wer­den. Es find­et sich keine fokussierte Abhand­lung aus Spin­ozas eigen­er Fed­er, in der schon alles wesentliche über das Konzept der imma­nen­ten Kausal­ität enthal­ten wäre. In müh­samer Kleinar­beit müssen stattdessen aus allen Teilen von Spin­ozas Werk, das in großen Teilen immer zuerst auf Latein, und nur sekundär in nieder­ländis­ch­er Sprache vor­lag, mit nahezu detek­tivis­chem Feinsinn Frag­mente zusam­mengepflückt wer­den. Stets sind alle möglichen und unmöglichen poli­tis­chen, anthro­pol­o­gis­chen und the­ol­o­gis­chen Frag­mente miteinan­der in ein­er Weise verknüpft, die eine geord­nete Rezep­tion erhe­blich erschw­eren. Es liegt in der Natur der Sache, dass die the­ma­tis­che Ori­en­tierung dabei zu einem recht hohen Grad in der Hand der Autoren liegt. Der Stre­it um Spin­oza sollte jeden­falls nicht darum geführt wer­den, wer das orig­i­nale Mate­r­i­al am ortho­dox­esten repro­duziert, son­dern wessen Kon­strukt am sin­nig­sten auf gegen­wär­tige Prob­leme antwortet. Diefen­bach set­zt für ihre Erzäh­lung jeden­falls Spin­ozas The­o­rie des Cona­tus ins Zen­trum, von dem aus alle weit­eren Frag­mente ihren Platz zugewiesen bekommen.

Zwei Grundlinien des Conatusprinzips

Was ist über­haupt ein Cona­tus? »Cona­tus« ist eine zunächst antiquiert anmu­tende philosophis­che Beze­ich­nung für eine nicht näher bes­timmte innere Essenz eines beliebi­gen physis­chen oder geisti­gen Gegen­standes. Er beze­ich­net einen ver­muteten, natür­lichen und inneren Drang, einen Trieb oder ein Streben hin zu einem bes­timmten Zus­tand. Ein Stück Holz hätte den »Cona­tus«, im Wass­er oben zu treiben, sprich sowohl die physikalis­che Möglichkeit als auch den „Willen“, nach oben zu schweben. Physikalis­che Materie hätte dementsprechend den »Cona­tus«, sich in Rich­tung eines Grav­i­ta­tion­szen­trums zu bewe­gen. Üblicher­weise ist das „Ziel“ des Cona­tus, also der zu erre­ichende Zus­tand, pos­i­tiv beset­zt, also etwas „das Leben“, „die Wahrhaftigkeit“, „die Fähigkeit“ oder dergleichen.

Was für heutige Ohren im Bere­ich des physikalis­chen Welt als hoff­nungs­los archais­che Aus­druck­sweise erscheint, soll in der poli­tis­chen Welt doch eine gewisse Gültigkeit haben. Die Physik hat zwar mod­erne Begriffe wie Trägheit und Impuls geschaf­fen, mit denen sie jeden Bezug auf einen Willen oder eine göt­tliche Kraft inner­halb der Materie ver­ab­schiedete. In der Gesellschaft­s­the­o­rie kann man aber noch nicht ohne weit­eres von solchen Erfol­gen sprechen, zumin­d­est nicht solange ihr Main­stream nicht müde wird, seine Rat­losigkeit angesichts der ange­blich so sehr aus den Fugen ger­ate­nen Welt zu beto­nen. Spin­oza jeden­falls baute den sicher­lich unglück­lichen gewählten Grund­be­griff des Cona­tus trotz allem zu ein­er umfassenden poli­tis­chen Lehre aus. Heute ist diese Lehre lei­der nicht mehr ohne weit­eres von seinem Beitrag zur imma­nen­ten Kausal­ität zu tren­nen, der uns hier eigentlich inter­essiert. Lei­der haben auch etwa die Beiträge von Anto­nio Negri oder Éti­enne Bal­ibar nicht dazu Beige­tra­gen diese Ver­wirrung aufzulösen, son­dern haben stattdessen sel­ber für eine noch größere Ver­bre­itung der Cona­tus­be­griffs gesorgt. Dafür gab es auch eine ein­fache kon­junk­turelle Erk­lärung gibt: Spin­oza bezog seine The­o­rie auf die Fähigkeit­en des Volks oder der Masse, wenn es um das Poten­tial zur demokratis­chen Umwälzung der Gesellschaft ging. Nichts lag also näher, als die Prob­leme von Marx­is­mus, die ja wirk­lich an nicht-triv­iale Gren­zen gestoßen waren, zu „lösen“, indem man die Ideen von Klasse und Rev­o­lu­tion durch die demokratis­che Trans­for­ma­tion des Volkes ersetzt.

Aus heutiger Sicht fällt die Bilanz post­op­erais­tis­ch­er und post­marx­is­tis­ch­er The­o­rie zwar je nach Sichtweise bisweilen dürftig aus. Die radikalen Demokrati­ethe­o­rien etwa, die eng mit Bal­ibar und der Idee eines Marx­is­mus nach Marx verknüpft sind, haben in den let­zten Jahren empfind­liche poli­tis­che Nieder­la­gen einge­fahren. Und auch die großen Auf­schläge von Anto­nio Negri blieben in viel­er Hin­sicht fol­gen­los: Sein Blick auf das Empire kon­nte die Lücke nicht füllen, die nach dem Nieder­gang der klas­sis­chen Impe­ri­al­is­mus­the­o­rien blieb. Seine Vorstel­lung von mul­ti­tude (=Negris mod­erne Wen­dung von Spin­ozas Masse) kon­nte bish­er noch nicht so recht auf wirk­liche Bewe­gun­gen verweisen.

Dabei ist der Grundgedanke des poli­tis­chen Cona­tus­prinzips recht ein­fach: Wenn die Inspi­ra­tionskraft des Begriffs der Klasse erschöpft ist, muss der Begriff der Menge oder mul­ti­tude an seine Stelle treten. Gle­ichzeit­ig muss nach ein­er neuen the­o­retis­chen Begrün­dung gesucht wer­den, wie und warum die mul­ti­tude wirk­sam wer­den kann. Die Macht der Klasse (begrün­det im Streik, in ihrer ein­heitlichen Sozial­struk­tur, in ihrem intu­itiv­en Ver­ständ­nis für das all­ge­meine Unrecht etc.) war nicht schw­er zu plau­si­bil­isieren, warum aber ger­ade eine zusam­mengewür­felte Masse noch bessere Eigen­schaften haben sollte, musste erst­mal dargestellt wer­den. Diefen­bach zeich­net nun genau diese Debat­ten über eine mod­erne, sozial­wis­senschaftliche Wieder­aneig­nung des Cona­tus­prinzips nach. Der Natur dieses Begriffs entsprechend bleiben diese Debat­ten aber dunkel und schw­er nachvol­lziehbar. Zwei Grundlin­ien lassen sich jedoch darin ausmachen.

Zum einen der Leit­satz Spin­ozas, jed­er Staat ver­di­ene in etwa so viel Respekt, wie er es seinen Bürger*innen ermöglicht, ihr volles Poten­tial auszuleben: „tan­tum juris quan­tum poten­ti­ae“ (51). Hier wird deut­lich, wie der philosophis­che Gedanke eines natür­lichen inneren Lebens­drangs eines Men­schen oder ein­er Volks­masse bei Spin­oza in eine Staat­s­the­o­rie gegossen wird. Spin­oza würdigt hier das Staat­sprinzip Demokratie, jedoch auf eine ganz andere Art, als es zu Zeit­en der dom­i­nan­ten Ver­trags­the­o­rien gedacht wurde: Die Legit­im­ität der Demokratie beste­he nicht in ihrer über­lege­nen rechtlichen Fundierung im Rah­men freier ver­traglich­er Zusam­men­schlüsse, son­dern in der Fähigkeit, ständig den sozusagen natür­lichen Leben­sim­puls aller Men­schen, also den Cona­tus der Masse zu Gel­tung zu bringen.

Ander­er­seits ist Demokratie nach Spin­oza eben nicht nur legit­im, son­dern auch mächtig: Der natür­liche Drang zum demokratis­chen Leben existiert nicht nur so zum Spaß, son­dern stellt einen neuen, mächti­gen Motor der Geschichte (mächtiger als der Klassenkampf) und des sozialen Wan­dels dar – also genau das, wonach der frühe Post­marx­is­mus gesucht hat­te. Die poten­tia mul­ti­tu­di­nis quae una velu­ti mente duci­tur, also „die Macht der wie von einem Geist geleit­eten Menge“ (311), beste­ht in ihrer Fähigkeit, durch die vie­len tausenden kleinen Aus­tausch­prozesse, die in ein­er aktiv­en Men­schen­masse eben geschehen, „eine Intel­li­genz von unten zu induzieren, die sich egal­itär zu insti­tu­ieren ver­mag“ (325). Die angestrebte „Befreiung ist nicht auf eine sub­jek­tive Tathand­lung oder einen kollek­tiv­en Willen zurück­führbar“ (339); stattdessen müsse das nationale Genie des „Massen­imag­inären“ (328) für eine befreien­des Han­deln in Gang geset­zt werden.

Was ist: Spekulativer Materialismus?

Tat­säch­lich ist uns eine solche Denkweise heute nicht in erster Lin­ie durch Spin­oza, son­dern durch Michel Fou­cault über­liefert. Ihre Gemein­samkeit kann am besten durch die sie verbindende Zurück­weisung des Sub­jek­ts im Sinne von René Descartes dargestellt wer­den: „Wo das cog­i­to die ganze Welt reduziert und weg­n­immt, um sich in sein­er reinen Intellek­tu­al­ität zu erfahren, entste­ht das Denken bei Spin­oza aus der Wahrnehmung kör­per­lich­er Aus­tausch- und Affizierung­sprozesse“ (339).

Die Dif­ferenz beste­ht also im Ver­hält­nis von Sub­jekt und Mate­ri­al­ität: Während das Sub­jekt im klas­sis­chen Sinne der europäis­chen Aufk­lärung nach Descartes sich ger­ade durch die Tren­nung von der Materie kon­sti­tu­iert, und sich insofern zum Ver­stand erk­lärt, als dass es nur seinem eige­nen, wohlüber­legten Urteil traut und darauf ver­traut, dass – einen guten Willen zur Erken­nt­nis voraus­ge­set­zt (sprich: nicht schum­meln!) – keine externe Kraft in den unbestech­lichen Ver­stand inter­vieren kann, sich keine ideelle Wahrheit sich lange vor der Ver­nun­ft im Gewim­mel des Materiellen ver­steck­en kann, und sich erst so auch ein mate­ri­al­is­tis­ch­er Zugang zur Welt eröffnet, die ja nicht ein­fach „tote“ Materie ist, son­dern aus dynamis­chen Ver­hält­nis­sen beste­ht, ist es im Speku­la­tiv­en Mate­ri­al­is­mus ten­den­ziell umgekehrt: Nicht das Sub­jekt, son­dern das Ver­hält­nis Sub­jekt-Materie an sich ist das primäre, das Sub­jekt entste­ht erst aus der sub­jek­tiv-objek­tiv­en Ursuppe her­aus und bleibt stets sein­er Gewor­fen­heit in die Ver­hält­nisse ver­haftet, seine Unab­hängigkeit sei imag­inär und irreführend. Diese Umdrehung ist, neben­bei gesagt, auch über­haupt stil­bildend im Über­gang von den „klas­sis­chen“ zu den „neuen“ Mate­ri­al­is­men, die insofern auf völ­lig ent­ge­genge­set­zten Fun­da­menten stehen.

In der Kon­se­quenz bedeutet das, dass auch die entsprechen­den Auf­fas­sun­gen von Ide­olo­gie und Wahrheit genau ent­ge­genge­set­zt sind. Wir stoßen auf…

“… Ele­mente ein­er Ide­olo­gi­ethe­o­rie, in der in Umkehrung zu Marx’ Vorstel­lung nicht die Ideen der herrschen­den Klasse als wirk­lichkeitsver­schleiernde Zeichen, son­dern die Imag­i­na­tio­nen der Beherrscht­en als wirk­lichkeit­serzeu­gende Prak­tiken gel­ten. Die Indi­viduen arbeit­en ihre Beziehun­gen … in der Pro­duk­tion gemein­samer Wahrnehmungs­bilder … aus, in denen kod­i­fiziert ist, was … als Gle­ich­heit und Glück, Gerechtigkeit und Frei­heit … gilt. Dieser Prozess ist keine Wider­spiegelung von Real­ität. … Er induziert kein falsches Bewusst­sein, son­dern er pro­duziert … den Schau­platz, auf dem die Indi­viduen die kollek­tiv­en Vorstel­lun­gen von ihren Lebens­for­men … immer wieder erneuern.” (327)

Der Deter­mi­na­tions­fak­tor der Ver­hält­nisse auf das Bewusst­sein ist damit weit­ge­hend neu­tral­isiert, oder eben bess­er gesagt: umge­dreht. Die These dieses Mod­ells muss daher ernst genom­men wer­den, seine Vor- und Nachteile abge­wogen. Diefen­bach geht etwa ab der Mitte des Ban­des genau diesen Weg, die These des speku­la­tive Mate­ri­al­is­mus in all ihren bish­eri­gen Aus­prä­gun­gen nachzu­vol­lziehen. In Anlehnung an Pierre Machereys Studie Hegel oder Spin­oza oder auch in Anlehnung an Diefen­bachs eigene Anord­nung „Spin­oza oder Descartes“ (408) geht es für die poli­tis­che The­o­rie heute dabei let­z­tendlich um die Frage Marx oder Spin­oza. Wie immer bei solchen Fra­gen ste­ht aber nicht der Zusam­men­prall zweier akademis­ch­er Kul­turen als Selb­stzweck im Vorder­grund, son­dern das abwä­gende Suchen nach geeigneten Posi­tio­nen für die anste­hen­den Herausforderungen.

Die Neubewertung der Rationalismusdebatte

Um es vor­wegzunehmen: Diefen­bach wird sich am Ende ihres Ban­des weit­ge­hend vor­be­halt­los auf die Seite der Speku­la­tiv­en schla­gen; in ihrer Kri­tik von Descartes bis Lenin bleibt let­z­tendlich kein gutes Haar an den The­o­rien poli­tis­ch­er Deter­mi­na­tion. In diesem Rah­men kommt Diefen­bach den­noch zu ein­er über­raschen­den Analyse des alten Stre­its inner­halb der franzö­sis­chen Philoso­phie, der als eine Par­al­lele zu den deutschen Ratio­nal­is­musstre­its begrif­f­en wer­den kann. Vol­l­zog sich in Deutsch­land der Stre­it um Ratio­nal­is­mus und Mate­ri­al­is­mus größ­ten­teils in Bah­nen von Geschicht­sphiloso­phie und Sozi­olo­gie[2], fand die ver­gle­ich­bare Auseinan­der­set­zung in Frankre­ich erst ab den 1950er Jahren statt und konzen­tri­erte sich auf philosophis­che und anthro­pol­o­gis­che The­men­bere­iche, was einen nicht weniger als 30 Jahre anhal­tenden Stre­it zwis­chen phänom­e­nol­o­gis­chen und struk­tu­ral­is­tis­chen Posi­tio­nen (427) nach sich zog.

Die haupt­säch­lichen Kon­tra­hen­ten hießen Fer­di­nand Alquié und Mar­tial Guer­oult. Alquié inter­pretierte Descartes aus ein­er exis­ten­tial­is­tis­chen Per­spek­tive. Je stärk­er Descartes im Ver­lauf seines Lebens auf die Kraft der reinen Ver­nun­ft geset­zte habe, desto deut­lich­er wäre ihm die prinzip­ielle Unmöglichkeit eines geschlosse­nen vernün­fti­gen Denkens ent­ge­genge­treten. In diesem Man­gel, bess­er gesagt im Über­schuss an der „exis­ten­ziellen Erfahrung men­schlich­er Unvoll­ständigkeit vis à vis Gottes Unendlichkeit“ (409), sei Descartes’ eigentliche Pointe zu sehen. Die Philoso­phie der Erfahrung, des Sinns oder des Sub­jek­ts sei deswe­gen ein notwendi­ges, nicht reduzier­bares Kor­re­lat zur Ver­nun­ft. Die (politische/soziale/philosophische) Welt sei eben nicht allein ratio­nal zu erfassen. Dage­gen stand Guer­oult mit sein­er kon­ven­tionellen und ratio­nal­is­tis­chen Descartes-Lesart.

Doch in der franzö­sis­chen Kon­stel­la­tion kommt es, auf­bauend auf dieser Sit­u­a­tion, zu ein­er bedeu­tungss­chw­eren Neube­w­er­tung des Ratio­nal­is­musstre­its, die den Diskurs bis heute prägt. Denn Descartes’ aufk­lärerische Posi­tio­nen hat­ten ja tat­säch­lich große Begrün­dung­sprob­leme – wenn es auch nicht diejeni­gen waren, die Alquié im Auge hat­te. Deut­lich wird das nicht zulet­zt an den poli­tis­chen Posi­tio­nen des his­torischen Descartes, die, wie uns Diefen­bach erin­nert, aus heutiger Sicht dur­chaus ambiva­lent waren, und sich auch in die katholis­che Gegen­re­for­ma­tion ein­rei­hen lassen.

Je mehr Guer­oult sich in den Stre­it um Descartes’ Ratio­nal­is­mus ver­wick­eln ließ, desto tiefer ver­strick­te er sich in genau diese Lück­en und Schwierigkeit­en – und je mehr Alquié phänom­e­nol­o­gisch und hermeneutisch über den exis­ten­ziellen Über­schuss des Sub­jek­ts ins göt­tliche spekulierte, desto mehr stand er in manch­er Hin­sicht als der viel ratio­nalere Über­prüfer der Ver­nun­ft und ihrer eige­nen Gren­zen da. Der Hermeneu­tik­er Alquié – schreibt Macherey – liest „Descartes mit den Augen Kants“, während Guer­oult – fol­gert Diefen­bach – ihn „durch die Augen Spin­ozas“ (420) liest. Durch diese Umdrehung geht in Frankre­ich ger­ade Spin­oza als der Ratio­nal­ist in den Kanon ein, während Descartes for­t­an zu den Bewusst­seins­meta­physik­ern gezählt wird! Hier liegt also der Ursprung für das mod­erne Missver­ständ­nis, aus­gerech­net das Umstoßen des Carte­sian­is­mus würde die Men­schen wieder für den Kampf gegen die entsub­jek­tivierende Verge­sellschaf­tung des Neolib­er­al­is­mus rüsten, während der autoritäre Plat­tform-Kap­i­tal­is­mus sich in der Real­ität ja nichts sehn­lich­er wün­scht, als ger­ade die völ­lige Ver­flüs­si­gung des autonomen Sub­jek­ts. Der Schlussstein hin­ter der Debat­te, Alquiés 1981 erschienenes Buch, hieß dann auch pro­gram­ma­tisch: Le ratio­nal­isme de Spin­oza. „Spin­oza gilt [damit] … als kohärenter Sys­tem­atik­er eines absoluten Ratio­nal­is­mus …, der … das Okkulte und Unbe­grei­fliche aus dem Denken des Unendlichen ver­trieben hat“ (425).

Die Aus­gangspo­si­tio­nen des Stre­its hat­ten sich damit um 180 Grad gedreht, die Seite der Aufk­lärungskri­tik­er war erhe­blich gestärkt aus der Debat­te her­vorge­gan­gen: Sartre, Mer­lau-Pon­ty, Lacan, Deleuze (sein­er­seits Schüler Alquiés) und natür­lich Fou­cault soll­ten erhe­blichen Ein­fluss bekom­men, während die Arbeit­en von Can­guil­hem, Cavail­lès, Koyré und Bachelard for­t­an eine gerin­gere Rolle spielten.

Marx oder Spinoza?

Die let­zte wirk­mächtige Inkar­na­tion dieses bemerkenswerten find­et sich in Slavoj Žižeks „Wieder­aneig­nung“ von Lenin. Žižek ist näm­lich der Mei­n­ung, dass die mod­erne poli­tis­che Kon­stel­la­tion am besten mit Lenin begrif­f­en wer­den kann, weil dieser ange­blich den prinzip­iell kontin­gen­ten Charak­ter der Poli­tik am besten erkan­nt habe (504): Die Rev­o­lu­tion sei zu machen oder wenig­stens zu denken, aber nicht abzuwarten.

Žižek gewin­nt diese Posi­tion, soweit Diefen­bachs Rekon­struk­tion, aus der Tra­di­tion eines „laca­ni­an­is­chen Carte­sian­is­mus“ (498). Wie dieser allerd­ings genau ausse­hen soll, wurde doch ger­ade von Diefen­bach selb­st Lacan in eine anti-carte­sian­is­che Tra­di­tion­slin­ie ein­ge­ord­net, bleibt offen. Žižeks Lesart Lenins, die auf eine Apolo­gie der Schwächen der bolschewis­tis­chen The­o­rie her­aus­läuft, basiere auf ein­er Hegelian­is­chen und Jakobinis­chen Tra­di­tion: Die Rev­o­lu­tion darf nicht auf halbem Wege steck­en bleiben, deswe­gen wird die rev­o­lu­tionäre, fast dezi­sion­is­tis­che Gewalt zum Mit­tel der Wahl, um den Prozess auch gegen Bedenken am Laufen zu hal­ten. (514).

Diefen­bachs Kri­tik trifft Žižek insofern, als das solche kri­tis­che Aneig­nun­gen von Lenin heute zwar weit ver­bre­it­et sind, sich im Wesentlichen aber meis­tens dadurch ausze­ich­nen, von den inhaltlichen Arbeit­en des „nach­les­baren Lenin“ so weit zu abstrahieren, dass am Ende keine wahrheits­fähige Aus­sage über den Zusam­men­hang von ökonomis­ch­er und poli­tis­ch­er Sphäre übrig bleibt, die doch zweifel­los zu Lenins Kern­the­men gehörte. Kaum ein­er hat die eigentliche Auf­gabe der poli­tis­chen Ökonomie, näm­lich die geord­nete Ableitung von poli­tis­chen Pro­gram­men aus ökonomis­chen Unter­suchun­gen, so entsch­ieden vor­angetrieben wie Lenin. Die vie­len Wieder­aneig­nun­gen begin­nen aber niemals dort, son­dern stets bei dif­feren­zial­lo­gis­chen und radikaldemokratis­chen Spezial­prob­le­men, die mit der ursprünglichen Fragestel­lung der Deter­mi­na­tion­szusam­men­hänge über­haupt nichts mehr zu tun haben. Und so appro­pri­iert dann auch Diefen­bach Lenin und verk­lärt ihn zu einem Denker der „anti­de­ter­min­is­tis­chen Posi­tion“ (503).

Der ganze Clou der Debat­te liegt dann am Ende darin, eine spin­ozis­tisch aufge­ladene Fik­tion der Demokratie der Massen gegen den dämon­isierten Lenin­is­mus in Stel­lung zu brin­gen, der seine ein­stige Erken­nt­nis des „Pri­mats des Poli­tis­chen“ ver­schenkt habe. Die zunehmende Auss­chal­tung der Rätestruk­turen sei der Sün­den­fall der Bolschewi­ki, weil so „die Massen, die die Rev­o­lu­tion getra­gen haben“ (522), nach und nach aus dem Prozess aus­geschlossen wur­den. Nun kann man das aber natür­lich nur anprangern, wenn im Rah­men ein­er roman­tis­chen Erzäh­lung von der tugend­haften Masse davon aus­ge­gan­gen wird, dass diese ganz natur­wüch­sig und von selb­st eine pro­gres­siv­eren Stand­punkt entwick­elt, als die Partei ihn je haben kön­nte – also ganz genau entsprechend dem Konzept des Cona­tus, in dem der Stand­punkt der Masse eine natür­liche innere Ten­denz zum Pro­gres­siv­en hat. Dass aber his­torisch natür­lich die Kräftev­er­hält­nisse oft ger­ade ander­sherum ste­hen, wird als Bezugsprob­lem damit ele­gant aus dem Weg geschafft.

Die Frage wie Rev­o­lu­tion zu machen sei, wird dadurch paz­i­fiziert und in einen für die bürg­er­liche Ord­nung akzept­ablen Rah­men trans­formiert. Zu machen sei sie durch die spon­tane Mehrheits­bil­dung des Volks: „Die Kon­sti­tu­tion von Mass­en­in­tellek­tu­al­ität … kann nicht das Ergeb­nis äußer­er Aufk­lärung sein, denn nie­mand kann zur Demokratie erzo­gen wer­den. Sie kann auf kein­er Tugend der mul­ti­tu­do basieren …. Sie kann nur das Resul­tat ihrer eige­nen prak­tis­chen Selb­stin­sti­tu­ierung und Selb­st­bestä­ti­gung sein“ (579 f.). Offen­bar kann die Philoso­phie mit ihren eige­nen Mit­teln diesen vol­un­taris­tis­chen Hor­i­zont nicht über­winden, der ja nichts anderes ist als der Lei­dens­druck der dre­it­eili­gen Depres­sion aus ver­baler Radikalität, fak­tis­ch­er Macht­losigkeit und dem tiefen Bedürf­nis nach plöt­zlich­er Erlö­sung durch spon­taneis­tis­che Auflehnung, der die Erschei­n­ung gegen­wär­tiger west­lich­er Wider­stands­be­we­gun­gen so nach­haltig prägt.

  1. Vgl. z.B.: Mar­tin Saar: Die Imma­nenz der Macht. Poli­tis­che The­o­rie nach Spin­oza. Berlin: Suhrkamp

  2. Vgl. Horkheimer, Max: Mate­ri­al­is­mus und Meta­physik, in ders.: Gesam­melte Schriften, Bd. 3., Frank­furt: Fis­ch­er (1988) [1933] S. 70–105.

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