Die Romantik der Masse

Marx oder Spinoza?

Nach­le­se­no­tiz zu Kat­ja Die­fen­bach: Spe­ku­la­ti­ver Mate­ria­lis­mus | 2018 | Wien: Turia+Kant | 604 Sei­ten | 978–3‑85132–888‑2

Die viel­zi­tier­te »Repro­duk­ti­on der Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se« – sie ist nicht nur eine kom­pli­zier­te Flos­kel für ein eigent­lich bana­les Pro­blem, son­dern eine sozio­lo­gi­sche und phi­lo­so­phi­sche Her­aus­for­de­rung. Man kann zwar heu­te berech­tig­ter­wei­se der Mei­nung sein, dass das Phä­no­men der Sta­bi­li­tät, ja regel­rech­ten Resi­li­enz des Kapi­ta­lis­mus als his­to­ri­sche For­ma­ti­on bes­ser ohne den Bal­last von Althussers Struk­tu­ra­lis­mus erklärt und bekämpft wer­den kann, auf den die­se For­mu­lie­rung zurück­geht. Doch selbst dann kann es nicht scha­den, sich die Situa­ti­on in den 1960er und 1970er Jah­ren bewusst zu machen und zu ver­ste­hen, auf wel­che Pro­ble­me die phi­lo­so­phi­schen Ver­su­che die­ser Jah­re über­haupt reagie­ren, deren Lösungs­vor­schlä­ge zwar oft in unse­ren heu­ti­gen Sprach­ge­brauch ein­ge­gan­gen sind, ohne wir uns über ihre Trag­wei­te im Kla­ren wären.

Spinoza und die Fragestellung des Postmarxismus

Kat­ja Die­fen­bachs Buch lässt sich als Bei­trag zu einem sol­chen For­schungs­pro­gramm zur Ent­ste­hung von Theo­rien ver­ste­hen, das hel­fen soll, aktu­el­le Schwie­rig­kei­ten bes­ser zu umfah­ren. Alles beginnt mit der Fest­stel­lung, dass die Phi­lo­so­phie des Nie­der­län­ders Baruch de Spi­no­za aus dem 17. Jahr­hun­dert eine Men­ge zu den moder­nen Fra­gen zur poli­ti­schen Beru­fung der Phi­lo­so­phie zu sagen hat. Die­fen­bach selbst ver­steht ihr Pro­jekt genau so: Nicht als scho­las­ti­sche Rekon­struk­ti­on, „son­dern als theo­rie­po­li­ti­schen Ein­griff“, um den „dif­fe­ren­zi­al­lo­gi­schen Cha­rak­ter von Spi­no­zas Den­ken und die damit ver­bun­de­ne poli­ti­sche Ori­gi­na­li­tät … für die heu­ti­gen Kon­tro­ver­sen um den Begriff der Poli­tik“ (17) herauszuarbeiten.

Die­fen­bach erin­nert dafür zunächst an die bekann­te Pro­blem­de­fi­ni­ti­on Althussers: Gera­de weil die Lohn­ar­beit meist nicht durch unmit­tel­ba­re Gewalt erzwun­gen wird, son­dern ganz im Gegen­teil genau­so bezahlt wird, wie jede ande­re Ware, näm­lich auf Grund­la­ge der geschätz­ten Kos­ten für Ihre Her­stel­lung, herrscht im Kapi­ta­lis­mus eine immense Ideo­lo­gie juris­ti­scher Gleich­heit – Kapi­tal und Arbeit als glei­che Part­ner, in deren Aus­tausch­pro­zess am Ende den­noch mehr Wert ent­steht, als am Anfang hin­ein­ge­wor­fen wur­de. Man mag die­sen Pro­zess zurecht kri­ti­sie­ren. Fakt ist aber, dass die Aner­ken­nung einer sol­chen abs­trak­ten Gleich­heit einen erheb­li­chen Inte­gra­ti­ons­fak­tor für die moder­ne Gesell­schaft dar­stellt. An vie­len Orten wur­den die Klas­sen­kämp­fe als schein­ba­re Moto­ren der Geschich­te fast still­ge­stellt. Dies ist, laut Althus­ser, eben nicht nur ein poli­ti­sches, son­dern ein phi­lo­so­phi­sches Pro­blem, denn es berührt direkt unser Ver­ständ­nis von Kau­sa­li­tät im Bereich der Poli­tik. Wenn es nicht Öko­no­mie und Mehr­wert sind, die die Poli­tik vor­her­be­stim­men, was ist es dann? Gibt es dann über­haupt noch eine Mög­lich­keit, Poli­tik als etwas zu den­ken, was regeln gehorcht, oder muss man ein­ge­ste­hen, dass Poli­tik letzt­end­lich belie­big, zufäl­lig oder kon­tin­gent ist? Kann, mit ande­ren Wor­ten, Mate­ria­lis­mus über­haupt noch als Wis­sen­schaft von der Deter­mi­na­ti­on sozia­ler Sys­te­me deu­ten? Die­fen­bach fasst Althussers Pro­blem­stel­lung fol­gen­der­ma­ßen zusammen:

“Für Althus­ser bezeich­net der Begriff des Mehr­werts nichts ande­res als ‚sei­nen eige­nen Inad­äqua­ti­ons­be­reich‘. Damit hört die Öko­no­mie auf, Trä­ger von Essen­tia­lis­mus und Not­wen­dig­keit im Hegel’schen Sin­ne zu sein. … [D]ass ‚die ein­sa­me Stun­de der letz­ten Instanz nie schlägt‘, drückt eine … Wider­spruchs­be­zie­hung aus, in der das bestim­men­de Momen­tum durch das, was es deter­mi­niert, rede­ter­mi­niert wird. Die­sem Sche­ma der Über­de­ter­mi­na­ti­on gibt Althus­ser … einen neu­en Namen – imma­nen­te, struk­tu­ra­le oder met­ony­mi­sche Kau­sa­li­tät.” (28)

An die­sem Pro­blem der struk­tu­ra­len Kau­sa­li­tät hat sich, ohne vie­le Erfol­ge vor­wei­sen zu kön­nen, eine gan­ze Genera­ti­on die Zäh­ne aus­ge­bis­sen. Heu­te ist es weit­ge­hend in den Archi­ven ver­schwun­den, nach­dem sich das sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Inter­es­se in ganz ande­re Berei­che ver­la­gert hat. Die­fen­bach tritt nun aller­dings dafür ein, dass das Pro­blem bereits lan­ge vor Althus­ser, näm­lich bei Spi­no­za, eine ganz her­vor­ra­gen­de pra­xis­phi­lo­so­phi­sche For­mu­lie­rung erfah­ren hat, die vie­le der gor­di­schen Kno­ten der Ver­gan­gen­heit durch­schlägt und auch heu­te von gro­ßem Nut­zen sein könn­te, wes­halb sie die die­se For­mu­lie­rung durch alle Facet­ten, Pha­sen und spä­te­ren Inter­pre­ta­tio­nen hin­durch rekon­stru­ie­ren möch­te. Schon allein durch den Umfang der Rekon­struk­ti­on, aber auch in ihrer poli­ti­schen Ana­ly­se, geht Die­fen­bachs Arbeit weit über den Rah­men ver­gleich­ba­rer Stu­di­en hin­aus.[1]

Deut­lich wer­den dabei vor allem zwei Din­ge. Ers­tens: Die Aneig­nung von Spi­no­za ist umkämpft. Zwei­tens: Spi­no­zas Argu­men­ten ist, ver­gleich­bar viel­leicht mit dem Fall Anto­nio Gram­scis, nicht in rei­ner Form hab­haft zu wer­den. Es fin­det sich kei­ne fokus­sier­te Abhand­lung aus Spi­no­zas eige­ner Feder, in der schon alles wesent­li­che über das Kon­zept der imma­nen­ten Kau­sa­li­tät ent­hal­ten wäre. In müh­sa­mer Klein­ar­beit müs­sen statt­des­sen aus allen Tei­len von Spi­no­zas Werk, das in gro­ßen Tei­len immer zuerst auf Latein, und nur sekun­där in nie­der­län­di­scher Spra­che vor­lag, mit nahe­zu detek­ti­vi­schem Fein­sinn Frag­men­te zusam­men­ge­pflückt wer­den. Stets sind alle mög­li­chen und unmög­li­chen poli­ti­schen, anthro­po­lo­gi­schen und theo­lo­gi­schen Frag­men­te mit­ein­an­der in einer Wei­se ver­knüpft, die eine geord­ne­te Rezep­ti­on erheb­lich erschwe­ren. Es liegt in der Natur der Sache, dass die the­ma­ti­sche Ori­en­tie­rung dabei zu einem recht hohen Grad in der Hand der Autoren liegt. Der Streit um Spi­no­za soll­te jeden­falls nicht dar­um geführt wer­den, wer das ori­gi­na­le Mate­ri­al am ortho­do­xes­ten repro­du­ziert, son­dern wes­sen Kon­strukt am sin­nigs­ten auf gegen­wär­ti­ge Pro­ble­me ant­wor­tet. Die­fen­bach setzt für ihre Erzäh­lung jeden­falls Spi­no­zas Theo­rie des Cona­tus ins Zen­trum, von dem aus alle wei­te­ren Frag­men­te ihren Platz zuge­wie­sen bekommen.

Zwei Grundlinien des Conatusprinzips

Was ist über­haupt ein Cona­tus? »Cona­tus« ist eine zunächst anti­quiert anmu­ten­de phi­lo­so­phi­sche Bezeich­nung für eine nicht näher bestimm­te inne­re Essenz eines belie­bi­gen phy­si­schen oder geis­ti­gen Gegen­stan­des. Er bezeich­net einen ver­mu­te­ten, natür­li­chen und inne­ren Drang, einen Trieb oder ein Stre­ben hin zu einem bestimm­ten Zustand. Ein Stück Holz hät­te den »Cona­tus«, im Was­ser oben zu trei­ben, sprich sowohl die phy­si­ka­li­sche Mög­lich­keit als auch den „Wil­len“, nach oben zu schwe­ben. Phy­si­ka­li­sche Mate­rie hät­te dem­entspre­chend den »Cona­tus«, sich in Rich­tung eines Gra­vi­ta­ti­ons­zen­trums zu bewe­gen. Übli­cher­wei­se ist das „Ziel“ des Cona­tus, also der zu errei­chen­de Zustand, posi­tiv besetzt, also etwas „das Leben“, „die Wahr­haf­tig­keit“, „die Fähig­keit“ oder dergleichen.

Was für heu­ti­ge Ohren im Bereich des phy­si­ka­li­schen Welt als hoff­nungs­los archai­sche Aus­drucks­wei­se erscheint, soll in der poli­ti­schen Welt doch eine gewis­se Gül­tig­keit haben. Die Phy­sik hat zwar moder­ne Begrif­fe wie Träg­heit und Impuls geschaf­fen, mit denen sie jeden Bezug auf einen Wil­len oder eine gött­li­che Kraft inner­halb der Mate­rie ver­ab­schie­de­te. In der Gesell­schafts­theo­rie kann man aber noch nicht ohne wei­te­res von sol­chen Erfol­gen spre­chen, zumin­dest nicht solan­ge ihr Main­stream nicht müde wird, sei­ne Rat­lo­sig­keit ange­sichts der angeb­lich so sehr aus den Fugen gera­te­nen Welt zu beto­nen. Spi­no­za jeden­falls bau­te den sicher­lich unglück­li­chen gewähl­ten Grund­be­griff des Cona­tus trotz allem zu einer umfas­sen­den poli­ti­schen Leh­re aus. Heu­te ist die­se Leh­re lei­der nicht mehr ohne wei­te­res von sei­nem Bei­trag zur imma­nen­ten Kau­sa­li­tät zu tren­nen, der uns hier eigent­lich inter­es­siert. Lei­der haben auch etwa die Bei­trä­ge von Anto­nio Negri oder Éti­en­ne Bali­bar nicht dazu Bei­getra­gen die­se Ver­wir­rung auf­zu­lö­sen, son­dern haben statt­des­sen sel­ber für eine noch grö­ße­re Ver­brei­tung der Cona­tus­be­griffs gesorgt. Dafür gab es auch eine ein­fa­che kon­junk­tu­rel­le Erklä­rung gibt: Spi­no­za bezog sei­ne Theo­rie auf die Fähig­kei­ten des Volks oder der Mas­se, wenn es um das Poten­ti­al zur demo­kra­ti­schen Umwäl­zung der Gesell­schaft ging. Nichts lag also näher, als die Pro­ble­me von Mar­xis­mus, die ja wirk­lich an nicht-tri­via­le Gren­zen gesto­ßen waren, zu „lösen“, indem man die Ideen von Klas­se und Revo­lu­ti­on durch die demo­kra­ti­sche Trans­for­ma­ti­on des Vol­kes ersetzt.

Aus heu­ti­ger Sicht fällt die Bilanz post­ope­rais­ti­scher und post­mar­xis­ti­scher Theo­rie zwar je nach Sicht­wei­se bis­wei­len dürf­tig aus. Die radi­ka­len Demo­kra­tie­theo­rien etwa, die eng mit Bali­bar und der Idee eines Mar­xis­mus nach Marx ver­knüpft sind, haben in den letz­ten Jah­ren emp­find­li­che poli­ti­sche Nie­der­la­gen ein­ge­fah­ren. Und auch die gro­ßen Auf­schlä­ge von Anto­nio Negri blie­ben in vie­ler Hin­sicht fol­gen­los: Sein Blick auf das Empi­re konn­te die Lücke nicht fül­len, die nach dem Nie­der­gang der klas­si­schen Impe­ria­lis­mus­theo­rien blieb. Sei­ne Vor­stel­lung von mul­ti­tu­de (=Negris moder­ne Wen­dung von Spi­no­zas Mas­se) konn­te bis­her noch nicht so recht auf wirk­li­che Bewe­gun­gen verweisen.

Dabei ist der Grund­ge­dan­ke des poli­ti­schen Cona­tus­prin­zips recht ein­fach: Wenn die Inspi­ra­ti­ons­kraft des Begriffs der Klas­se erschöpft ist, muss der Begriff der Men­ge oder mul­ti­tu­de an sei­ne Stel­le tre­ten. Gleich­zei­tig muss nach einer neu­en theo­re­ti­schen Begrün­dung gesucht wer­den, wie und war­um die mul­ti­tu­de wirk­sam wer­den kann. Die Macht der Klas­se (begrün­det im Streik, in ihrer ein­heit­li­chen Sozi­al­struk­tur, in ihrem intui­ti­ven Ver­ständ­nis für das all­ge­mei­ne Unrecht etc.) war nicht schwer zu plau­si­bi­li­sie­ren, war­um aber gera­de eine zusam­men­ge­wür­fel­te Mas­se noch bes­se­re Eigen­schaf­ten haben soll­te, muss­te erst­mal dar­ge­stellt wer­den. Die­fen­bach zeich­net nun genau die­se Debat­ten über eine moder­ne, sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Wie­der­an­eig­nung des Cona­tus­prin­zips nach. Der Natur die­ses Begriffs ent­spre­chend blei­ben die­se Debat­ten aber dun­kel und schwer nach­voll­zieh­bar. Zwei Grund­li­ni­en las­sen sich jedoch dar­in ausmachen.

Zum einen der Leit­satz Spi­no­zas, jeder Staat ver­die­ne in etwa so viel Respekt, wie er es sei­nen Bürger*innen ermög­licht, ihr vol­les Poten­ti­al aus­zu­le­ben: „tan­tum juris quan­tum poten­tiae“ (51). Hier wird deut­lich, wie der phi­lo­so­phi­sche Gedan­ke eines natür­li­chen inne­ren Lebens­drangs eines Men­schen oder einer Volks­mas­se bei Spi­no­za in eine Staats­theo­rie gegos­sen wird. Spi­no­za wür­digt hier das Staats­prin­zip Demo­kra­tie, jedoch auf eine ganz ande­re Art, als es zu Zei­ten der domi­nan­ten Ver­trags­theo­rien gedacht wur­de: Die Legi­ti­mi­tät der Demo­kra­tie bestehe nicht in ihrer über­le­ge­nen recht­li­chen Fun­die­rung im Rah­men frei­er ver­trag­li­cher Zusam­men­schlüs­se, son­dern in der Fähig­keit, stän­dig den sozu­sa­gen natür­li­chen Lebens­im­puls aller Men­schen, also den Cona­tus der Mas­se zu Gel­tung zu bringen.

Ande­rer­seits ist Demo­kra­tie nach Spi­no­za eben nicht nur legi­tim, son­dern auch mäch­tig: Der natür­li­che Drang zum demo­kra­ti­schen Leben exis­tiert nicht nur so zum Spaß, son­dern stellt einen neu­en, mäch­ti­gen Motor der Geschich­te (mäch­ti­ger als der Klas­sen­kampf) und des sozia­len Wan­dels dar – also genau das, wonach der frü­he Post­mar­xis­mus gesucht hat­te. Die poten­tia mul­ti­tu­di­nis quae una veluti men­te duci­tur, also „die Macht der wie von einem Geist gelei­te­ten Men­ge“ (311), besteht in ihrer Fähig­keit, durch die vie­len tau­sen­den klei­nen Aus­tausch­pro­zes­se, die in einer akti­ven Men­schen­mas­se eben gesche­hen, „eine Intel­li­genz von unten zu indu­zie­ren, die sich ega­li­tär zu insti­tu­ie­ren ver­mag“ (325). Die ange­streb­te „Befrei­ung ist nicht auf eine sub­jek­ti­ve Tat­hand­lung oder einen kol­lek­ti­ven Wil­len zurück­führ­bar“ (339); statt­des­sen müs­se das natio­na­le Genie des „Mas­sen­ima­gi­nä­ren“ (328) für eine befrei­en­des Han­deln in Gang gesetzt werden.

Was ist: Spekulativer Materialismus?

Tat­säch­lich ist uns eine sol­che Denk­wei­se heu­te nicht in ers­ter Linie durch Spi­no­za, son­dern durch Michel Fou­cault über­lie­fert. Ihre Gemein­sam­keit kann am bes­ten durch die sie ver­bin­den­de Zurück­wei­sung des Sub­jekts im Sin­ne von René Des­car­tes dar­ge­stellt wer­den: „Wo das cogi­to die gan­ze Welt redu­ziert und weg­nimmt, um sich in sei­ner rei­nen Intel­lek­tua­li­tät zu erfah­ren, ent­steht das Den­ken bei Spi­no­za aus der Wahr­neh­mung kör­per­li­cher Aus­tausch- und Affi­zie­rungs­pro­zes­se“ (339).

Die Dif­fe­renz besteht also im Ver­hält­nis von Sub­jekt und Mate­ria­li­tät: Wäh­rend das Sub­jekt im klas­si­schen Sin­ne der euro­päi­schen Auf­klä­rung nach Des­car­tes sich gera­de durch die Tren­nung von der Mate­rie kon­sti­tu­iert, und sich inso­fern zum Ver­stand erklärt, als dass es nur sei­nem eige­nen, wohl­über­leg­ten Urteil traut und dar­auf ver­traut, dass – einen guten Wil­len zur Erkennt­nis vor­aus­ge­setzt (sprich: nicht schum­meln!) – kei­ne exter­ne Kraft in den unbe­stech­li­chen Ver­stand inter­vie­ren kann, sich kei­ne ideel­le Wahr­heit sich lan­ge vor der Ver­nunft im Gewim­mel des Mate­ri­el­len ver­ste­cken kann, und sich erst so auch ein mate­ria­lis­ti­scher Zugang zur Welt eröff­net, die ja nicht ein­fach „tote“ Mate­rie ist, son­dern aus dyna­mi­schen Ver­hält­nis­sen besteht, ist es im Spe­ku­la­ti­ven Mate­ria­lis­mus ten­den­zi­ell umge­kehrt: Nicht das Sub­jekt, son­dern das Ver­hält­nis Sub­jekt-Mate­rie an sich ist das pri­mä­re, das Sub­jekt ent­steht erst aus der sub­jek­tiv-objek­ti­ven Ursup­pe her­aus und bleibt stets sei­ner Gewor­fen­heit in die Ver­hält­nis­se ver­haf­tet, sei­ne Unab­hän­gig­keit sei ima­gi­när und irre­füh­rend. Die­se Umdre­hung ist, neben­bei gesagt, auch über­haupt stil­bil­dend im Über­gang von den „klas­si­schen“ zu den „neu­en“ Mate­ria­lis­men, die inso­fern auf völ­lig ent­ge­gen­ge­setz­ten Fun­da­men­ten stehen.

In der Kon­se­quenz bedeu­tet das, dass auch die ent­spre­chen­den Auf­fas­sun­gen von Ideo­lo­gie und Wahr­heit genau ent­ge­gen­ge­setzt sind. Wir sto­ßen auf…

“… Ele­men­te einer Ideo­lo­gie­theo­rie, in der in Umkeh­rung zu Marx’ Vor­stel­lung nicht die Ideen der herr­schen­den Klas­se als wirk­lich­keits­ver­schlei­ern­de Zei­chen, son­dern die Ima­gi­na­tio­nen der Beherrsch­ten als wirk­lich­keits­er­zeu­gen­de Prak­ti­ken gel­ten. Die Indi­vi­du­en arbei­ten ihre Bezie­hun­gen … in der Pro­duk­ti­on gemein­sa­mer Wahr­neh­mungs­bil­der … aus, in denen kodi­fi­ziert ist, was … als Gleich­heit und Glück, Gerech­tig­keit und Frei­heit … gilt. Die­ser Pro­zess ist kei­ne Wider­spie­ge­lung von Rea­li­tät. … Er indu­ziert kein fal­sches Bewusst­sein, son­dern er pro­du­ziert … den Schau­platz, auf dem die Indi­vi­du­en die kol­lek­ti­ven Vor­stel­lun­gen von ihren Lebens­for­men … immer wie­der erneu­ern.” (327)

Der Deter­mi­na­ti­ons­fak­tor der Ver­hält­nis­se auf das Bewusst­sein ist damit weit­ge­hend neu­tra­li­siert, oder eben bes­ser gesagt: umge­dreht. Die The­se die­ses Modells muss daher ernst genom­men wer­den, sei­ne Vor- und Nach­tei­le abge­wo­gen. Die­fen­bach geht etwa ab der Mit­te des Ban­des genau die­sen Weg, die The­se des spe­ku­la­ti­ve Mate­ria­lis­mus in all ihren bis­he­ri­gen Aus­prä­gun­gen nach­zu­voll­zie­hen. In Anleh­nung an Pierre Mache­reys Stu­die Hegel oder Spi­no­za oder auch in Anleh­nung an Die­fen­bachs eige­ne Anord­nung „Spi­no­za oder Des­car­tes“ (408) geht es für die poli­ti­sche Theo­rie heu­te dabei letzt­end­lich um die Fra­ge Marx oder Spi­no­za. Wie immer bei sol­chen Fra­gen steht aber nicht der Zusam­men­prall zwei­er aka­de­mi­scher Kul­tu­ren als Selbst­zweck im Vor­der­grund, son­dern das abwä­gen­de Suchen nach geeig­ne­ten Posi­tio­nen für die anste­hen­den Herausforderungen.

Die Neubewertung der Rationalismusdebatte

Um es vor­weg­zu­neh­men: Die­fen­bach wird sich am Ende ihres Ban­des weit­ge­hend vor­be­halt­los auf die Sei­te der Spe­ku­la­ti­ven schla­gen; in ihrer Kri­tik von Des­car­tes bis Lenin bleibt letzt­end­lich kein gutes Haar an den Theo­rien poli­ti­scher Deter­mi­na­ti­on. In die­sem Rah­men kommt Die­fen­bach den­noch zu einer über­ra­schen­den Ana­ly­se des alten Streits inner­halb der fran­zö­si­schen Phi­lo­so­phie, der als eine Par­al­le­le zu den deut­schen Ratio­na­lis­mus­streits begrif­fen wer­den kann. Voll­zog sich in Deutsch­land der Streit um Ratio­na­lis­mus und Mate­ria­lis­mus größ­ten­teils in Bah­nen von Geschichts­phi­lo­so­phie und Sozio­lo­gie[2], fand die ver­gleich­ba­re Aus­ein­an­der­set­zung in Frank­reich erst ab den 1950er Jah­ren statt und kon­zen­trier­te sich auf phi­lo­so­phi­sche und anthro­po­lo­gi­sche The­men­be­rei­che, was einen nicht weni­ger als 30 Jah­re anhal­ten­den Streit zwi­schen phä­no­me­no­lo­gi­schen und struk­tu­ra­lis­ti­schen Posi­tio­nen (427) nach sich zog.

Die haupt­säch­li­chen Kon­tra­hen­ten hie­ßen Fer­di­nand Alquié und Mar­ti­al Gue­r­oult. Alquié inter­pre­tier­te Des­car­tes aus einer exis­ten­tia­lis­ti­schen Per­spek­ti­ve. Je stär­ker Des­car­tes im Ver­lauf sei­nes Lebens auf die Kraft der rei­nen Ver­nunft gesetz­te habe, des­to deut­li­cher wäre ihm die prin­zi­pi­el­le Unmög­lich­keit eines geschlos­se­nen ver­nünf­ti­gen Den­kens ent­ge­gen­ge­tre­ten. In die­sem Man­gel, bes­ser gesagt im Über­schuss an der „exis­ten­zi­el­len Erfah­rung mensch­li­cher Unvoll­stän­dig­keit vis à vis Got­tes Unend­lich­keit“ (409), sei Des­car­tes’ eigent­li­che Poin­te zu sehen. Die Phi­lo­so­phie der Erfah­rung, des Sinns oder des Sub­jekts sei des­we­gen ein not­wen­di­ges, nicht redu­zier­ba­res Kor­re­lat zur Ver­nunft. Die (politische/soziale/philosophische) Welt sei eben nicht allein ratio­nal zu erfas­sen. Dage­gen stand Gue­r­oult mit sei­ner kon­ven­tio­nel­len und ratio­na­lis­ti­schen Descartes-Lesart.

Doch in der fran­zö­si­schen Kon­stel­la­ti­on kommt es, auf­bau­end auf die­ser Situa­ti­on, zu einer bedeu­tungs­schwe­ren Neu­be­wer­tung des Ratio­na­lis­mus­streits, die den Dis­kurs bis heu­te prägt. Denn Des­car­tes’ auf­klä­re­ri­sche Posi­tio­nen hat­ten ja tat­säch­lich gro­ße Begrün­dungs­pro­ble­me – wenn es auch nicht die­je­ni­gen waren, die Alquié im Auge hat­te. Deut­lich wird das nicht zuletzt an den poli­ti­schen Posi­tio­nen des his­to­ri­schen Des­car­tes, die, wie uns Die­fen­bach erin­nert, aus heu­ti­ger Sicht durch­aus ambi­va­lent waren, und sich auch in die katho­li­sche Gegen­re­for­ma­ti­on ein­rei­hen lassen.

Je mehr Gue­r­oult sich in den Streit um Des­car­tes’ Ratio­na­lis­mus ver­wi­ckeln ließ, des­to tie­fer ver­strick­te er sich in genau die­se Lücken und Schwie­rig­kei­ten – und je mehr Alquié phä­no­me­no­lo­gisch und her­me­neu­tisch über den exis­ten­zi­el­len Über­schuss des Sub­jekts ins gött­li­che spe­ku­lier­te, des­to mehr stand er in man­cher Hin­sicht als der viel ratio­na­le­re Über­prü­fer der Ver­nunft und ihrer eige­nen Gren­zen da. Der Her­me­neu­ti­ker Alquié – schreibt Mache­rey – liest „Des­car­tes mit den Augen Kants“, wäh­rend Gue­r­oult – fol­gert Die­fen­bach – ihn „durch die Augen Spi­no­zas“ (420) liest. Durch die­se Umdre­hung geht in Frank­reich gera­de Spi­no­za als der Ratio­na­list in den Kanon ein, wäh­rend Des­car­tes fort­an zu den Bewusst­seins­me­ta­phy­si­kern gezählt wird! Hier liegt also der Ursprung für das moder­ne Miss­ver­ständ­nis, aus­ge­rech­net das Umsto­ßen des Car­te­sia­nis­mus wür­de die Men­schen wie­der für den Kampf gegen die ent­sub­jek­ti­vie­ren­de Ver­ge­sell­schaf­tung des Neo­li­be­ra­lis­mus rüs­ten, wäh­rend der auto­ri­tä­re Platt­form-Kapi­ta­lis­mus sich in der Rea­li­tät ja nichts sehn­li­cher wünscht, als gera­de die völ­li­ge Ver­flüs­si­gung des auto­no­men Sub­jekts. Der Schluss­stein hin­ter der Debat­te, Alquiés 1981 erschie­ne­nes Buch, hieß dann auch pro­gram­ma­tisch: Le ratio­na­lisme de Spi­no­za. „Spi­no­za gilt [damit] … als kohä­ren­ter Sys­te­ma­ti­ker eines abso­lu­ten Ratio­na­lis­mus …, der … das Okkul­te und Unbe­greif­li­che aus dem Den­ken des Unend­li­chen ver­trie­ben hat“ (425).

Die Aus­gangs­po­si­tio­nen des Streits hat­ten sich damit um 180 Grad gedreht, die Sei­te der Auf­klä­rungs­kri­ti­ker war erheb­lich gestärkt aus der Debat­te her­vor­ge­gan­gen: Sart­re, Mer­lau-Pon­ty, Lacan, Deleu­ze (sei­ner­seits Schü­ler Alquiés) und natür­lich Fou­cault soll­ten erheb­li­chen Ein­fluss bekom­men, wäh­rend die Arbei­ten von Can­guil­hem, Cavail­lès, Koy­ré und Bachel­ard fort­an eine gerin­ge­re Rol­le spielten.

Marx oder Spinoza?

Die letz­te wirk­mäch­ti­ge Inkar­na­ti­on die­ses bemer­kens­wer­ten fin­det sich in Sla­voj Žižeks „Wie­der­an­eig­nung“ von Lenin. Žižek ist näm­lich der Mei­nung, dass die moder­ne poli­ti­sche Kon­stel­la­ti­on am bes­ten mit Lenin begrif­fen wer­den kann, weil die­ser angeb­lich den prin­zi­pi­ell kon­tin­gen­ten Cha­rak­ter der Poli­tik am bes­ten erkannt habe (504): Die Revo­lu­ti­on sei zu machen oder wenigs­tens zu den­ken, aber nicht abzuwarten.

Žižek gewinnt die­se Posi­ti­on, soweit Die­fen­bachs Rekon­struk­ti­on, aus der Tra­di­ti­on eines „laca­nia­ni­schen Car­te­sia­nis­mus“ (498). Wie die­ser aller­dings genau aus­se­hen soll, wur­de doch gera­de von Die­fen­bach selbst Lacan in eine anti-car­te­sia­ni­sche Tra­di­ti­ons­li­nie ein­ge­ord­net, bleibt offen. Žižeks Les­art Lenins, die auf eine Apo­lo­gie der Schwä­chen der bol­sche­wis­ti­schen Theo­rie her­aus­läuft, basie­re auf einer Hege­lia­ni­schen und Jako­bi­ni­schen Tra­di­ti­on: Die Revo­lu­ti­on darf nicht auf hal­bem Wege ste­cken blei­ben, des­we­gen wird die revo­lu­tio­nä­re, fast dezisio­nis­ti­sche Gewalt zum Mit­tel der Wahl, um den Pro­zess auch gegen Beden­ken am Lau­fen zu hal­ten. (514).

Die­fen­bachs Kri­tik trifft Žižek inso­fern, als das sol­che kri­ti­sche Aneig­nun­gen von Lenin heu­te zwar weit ver­brei­tet sind, sich im Wesent­li­chen aber meis­tens dadurch aus­zeich­nen, von den inhalt­li­chen Arbei­ten des „nach­les­ba­ren Lenin“ so weit zu abs­tra­hie­ren, dass am Ende kei­ne wahr­heits­fä­hi­ge Aus­sa­ge über den Zusam­men­hang von öko­no­mi­scher und poli­ti­scher Sphä­re übrig bleibt, die doch zwei­fel­los zu Lenins Kern­the­men gehör­te. Kaum einer hat die eigent­li­che Auf­ga­be der poli­ti­schen Öko­no­mie, näm­lich die geord­ne­te Ablei­tung von poli­ti­schen Pro­gram­men aus öko­no­mi­schen Unter­su­chun­gen, so ent­schie­den vor­an­ge­trie­ben wie Lenin. Die vie­len Wie­der­an­eig­nun­gen begin­nen aber nie­mals dort, son­dern stets bei dif­fe­ren­zi­al­lo­gi­schen und radi­kal­de­mo­kra­ti­schen Spe­zi­al­pro­ble­men, die mit der ursprüng­li­chen Fra­ge­stel­lung der Deter­mi­na­ti­ons­zu­sam­men­hän­ge über­haupt nichts mehr zu tun haben. Und so appro­pri­iert dann auch Die­fen­bach Lenin und ver­klärt ihn zu einem Den­ker der „anti­de­ter­mi­nis­ti­schen Posi­ti­on“ (503).

Der gan­ze Clou der Debat­te liegt dann am Ende dar­in, eine spi­no­zis­tisch auf­ge­la­de­ne Fik­ti­on der Demo­kra­tie der Mas­sen gegen den dämo­ni­sier­ten Leni­nis­mus in Stel­lung zu brin­gen, der sei­ne eins­ti­ge Erkennt­nis des „Pri­mats des Poli­ti­schen“ ver­schenkt habe. Die zuneh­men­de Aus­schal­tung der Räte­struk­tu­ren sei der Sün­den­fall der Bol­sche­wi­ki, weil so „die Mas­sen, die die Revo­lu­ti­on getra­gen haben“ (522), nach und nach aus dem Pro­zess aus­ge­schlos­sen wur­den. Nun kann man das aber natür­lich nur anpran­gern, wenn im Rah­men einer roman­ti­schen Erzäh­lung von der tugend­haf­ten Mas­se davon aus­ge­gan­gen wird, dass die­se ganz natur­wüch­sig und von selbst eine pro­gres­si­ve­ren Stand­punkt ent­wi­ckelt, als die Par­tei ihn je haben könn­te – also ganz genau ent­spre­chend dem Kon­zept des Cona­tus, in dem der Stand­punkt der Mas­se eine natür­li­che inne­re Ten­denz zum Pro­gres­si­ven hat. Dass aber his­to­risch natür­lich die Kräf­te­ver­hält­nis­se oft gera­de anders­her­um ste­hen, wird als Bezugs­pro­blem damit ele­gant aus dem Weg geschafft.

Die Fra­ge wie Revo­lu­ti­on zu machen sei, wird dadurch pazi­fi­ziert und in einen für die bür­ger­li­che Ord­nung akzep­ta­blen Rah­men trans­for­miert. Zu machen sei sie durch die spon­ta­ne Mehr­heits­bil­dung des Volks: „Die Kon­sti­tu­ti­on von Mas­sen­in­tel­lek­tua­li­tät … kann nicht das Ergeb­nis äuße­rer Auf­klä­rung sein, denn nie­mand kann zur Demo­kra­tie erzo­gen wer­den. Sie kann auf kei­ner Tugend der mul­ti­tu­do basie­ren …. Sie kann nur das Resul­tat ihrer eige­nen prak­ti­schen Selbst­in­sti­tu­ie­rung und Selbst­be­stä­ti­gung sein“ (579 f.). Offen­bar kann die Phi­lo­so­phie mit ihren eige­nen Mit­teln die­sen vol­un­ta­ris­ti­schen Hori­zont nicht über­win­den, der ja nichts ande­res ist als der Lei­dens­druck der drei­tei­li­gen Depres­si­on aus ver­ba­ler Radi­ka­li­tät, fak­ti­scher Macht­lo­sig­keit und dem tie­fen Bedürf­nis nach plötz­li­cher Erlö­sung durch spon­tan­eis­ti­sche Auf­leh­nung, der die Erschei­nung gegen­wär­ti­ger west­li­cher Wider­stands­be­we­gun­gen so nach­hal­tig prägt.

  1. Vgl. z.B.: Mar­tin Saar: Die Imma­nenz der Macht. Poli­ti­sche Theo­rie nach Spi­no­za. Ber­lin: Suhr­kamp

  2. Vgl. Hork­hei­mer, Max: Mate­ria­lis­mus und Meta­phy­sik, in ders.: Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 3., Frank­furt: Fischer (1988) [1933] S. 70–105.

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