Bericht zur Konferenz „Historical“ Materialism vom 5. bis 7. April 2024 in Istanbul
Historical Materialism – die „Branchenmesse“ für neue und alte Materialismen, Marxismen und kritischen Theorien – fand vom 5.–7. April 2024 an ihrem türkischen Standort in der Kadir Has Universität am Westufer des Goldenen Horns von Istanbul statt. Veranstaltet von einem Netzwerk rund um die gleichnamige Zeitschrift aus dem Brill-Verlag, treffen sich dort regelmäßig gesellschaftskritisch orientierte WissenschaftlerInnen, um sich über ihre Arbeit und die globale politische Konjunktur auszutauschen. Die nächste Sommerkonferenzen des Netzwerks werden von 24.–27. April 2025 in Athen und 26.–28. Juni 2025 in Paris stattfinden.
Westlicher Marxismus
Ege Çoban eröffnete die Themenkategorie westlicher Marxismus mit einem Vortrag über die melancholischen Unterströmung des Materialismus. Seine Ausgangsthese ist, dass gegenwärtige Trends der Philosophie – gemeint sind vor allem die New Materialisms, die Çoban lose mit den etwas älteren New Realisms in Verbindung bringt – als Reaktion auf das historische Scheitern materialistisch inspirierter Politikentwürfe zu verstehen sind.
Um diese These zu erhärten, erläutert Çoban seine Arbeiten zu dem ursprünglich apolitische gedachten Begriff der Philosophie in der Antike, die seiner Darstellung nach durch die Ausdifferenzierung und Emanzipation der Einzelwissenschaften zuerst in eine Identitätskrise als universale Wissenschaft verfällt, um sich sodann als politischePhilosophie neu zu erfinden. Diese Entwicklung erfährt einen Höhepunkt bei Hegel, der die Bedeutung der Philosophie unmittelbar an seine politische Verwirklichung knüpft – eine Argument, dass sich auch in der kritischen Theorie immer wieder findet, prominent zu Beginn von Adornos Negative Dialektik.
Auch bei Marx taucht dieses Motiv in der Form der Praxisorientierung auf (Philosophie könne nur durch Praxis verwirklicht werden); bei Engels findet sich die Idee, das Proletariat trete das „Erbe“ der Philosophie an. Çobans Argument ist nun, dass dieses Erbe in der Geschichte der modernen Philosophie mit unterschiedlichen Begründungen ausgeschlagen würde. Bei Nietzsche z.B. findet sich eine erste entschiedene Zurückweisung einer solchen Idee einer philosophischen Unterströmung oder Verwirklichung von Begriffen mit Verweis auf ein Modell einer stetigen Wiederholung des Immergleichen. Auch Heidegger hält einer solchen Entwicklungslogik der Geschichte die vermeintliche Eigengesetzlichkeit des Seins entgegen.
Unabhängig von den jeweiligen internen Problemen dieser Ansätze sieht Çoban sieht darin vor allem eine Verweigerung, sich mit der Aufgabe des Trauerns um eine verpasste Chance der Philosophie auseinanderzusetzen: Wo keine geschichtliche Entwicklung ist, kann man auch das Abreißen eines revolutionären Prozesses nicht betrauern. Diese Unfähigkeit zu trauern will Çoban auch in den gegenwärtigen New Materialisms erkennen. Wer z.B. mit Latour zum Schluss käme, „wir sind nie modern gewesen“, der kann angesichts des fortschreitenden Verlusts von spezifisch modernen sozialen Formen nicht zum Trauern übergehen: Der Verweis etwa auf einen Abbau subjektiven Bürgerrechten und die Reduktion oder Zerlegung des bürgerlichen Subjekts in disparate Einzelteile durch digitale und Bio-Technologien ist möglicherweise umso schwieriger zu kritisieren, je mehr davon ausgegangen wird, dass es sich bei der Einheit de Bürgerrechtssubjekts ohnehin um nur um eine Scharade handelte. Was es nie gab, kann man auch nicht verteidigen.
Antonis Balasopoulos (Utopian Studies an der Universität Zypern) berichtet über seine Sicht auf die Entwicklung der britischen marxistischen Kulturkritik rund um E.P. Thompson und Miguel Abensour. Zwischen 1926 und 1958 verließen viele Mitglieder die Kommunistische Partei Großbritanniens, besonders nach der sowjetischen Intervention in Ungarn. Die Suche nach politischen und philosophischen Alternativen zum Modell des Stalinismus war in vollem Gange, aber nicht einfach.
Besonders die neue Marx Lektüre Althussers erschien Thompson unattraktiv. Althusser versuchte zwar, jenseits der Reduktion des Marxismus auf einfache Praxisanweisungen zu denken, geriet dabei laut Balasopoulos in die gegenteilige Schieflage, Praxis insgesamt skeptisch gegenüberzustehen. Die Strukturen eines solchen Marxismus seien so rigide ausgefallen, dass sie das Entstehen emanzipativer Handlungsmacht beinahe genauso effektiv verhinderten, wie tatsächliche Repression. Althusser, als die philologische „Theoriepolizei“ des Marxismus, habe diesen Effekt unfreiwillig verkörpert. Gerade Miguel Abensour stehe dagegen für eine Wiederaufnahme der – wiederum – spekulativen Kreativität des jungen Marx. Mit einer Auffassung der Realität als niemals geschlossenes, sondern widersprüchliches Ganzes, müsse sich Politik eben eher an der gelebten widersprüchlichen Erfahrung, als an Theorie des idealen Durchschnitts orientieren.
Doch was, wenn die Widersprüchlichkeit des Alltags mit der Zeit abnimmt und hinter andere Erfahrungen zurücktritt? Dieser für den Marxismus nicht untypische, einseitige Fokus auf vermeintliche Widersprüche als Motoren der Geschichte, gibt in vielen Beiträgen latent den Ton an. Gleichzeitig wird diesem Theorem auch selten so viel Aufmerksamkeit zu teil. Da es nicht nur im Materialismus präsent ist, sondern als Krisenerzählung auch in anderen Theorietraditionen weitläufig vorkommt, ließ sich von der Konferenz einiges lernen.
Kritik der Technologie – Marx, Lacan und Dating Portale
Im Stream zu Marxismus und Technologie berichtet Lea Kuhar (Slovenian Academy of Science and Arts) über die Entwicklung marxistischer Theorie in Jugoslawien. Da es im staatsoffiziell marxistisch orientierten System schwierig war, kritische Marxforschung zu betreiben, habe sich dort die eigentümliche Praxis entwickelt, Kritik zu äußern, die ihrer äußeren Form nach Marx und die Parteilinie rhetorisch links überholt, unabhängig vom tatsächlichen Inhalt. Diese Rhetorik habe aber auch den Raum dafür eröffnet, tatsächlich mit Marx über Marx hinaus zu denken, z.B. in der Praxis-Gruppe und der späteren slowenischen Schule der im Anschluss an Lacan.
Die auf diese Weise aus einer Auseinandersetzung mit Freud und Lacan hervorgegangene Position etwa eines Slavoj Žižek sei als transzendentaler Materialismus von anderen Spielarten klar unterscheidbar. Während der dialektische Materialismus in Begriffen des Werdens denkt, wo ein gespaltenes oder entfremdetes Subjekt seine Entfremdung überwindet, wähle der transzendentale Ansatz gerade die umgekehrte Begriffsstrategie: Eine ursprüngliche Einheit des Subjekts spalte sich unwiederbringlich auf. Die lacansche Kritik sei deshalb schon in ihren Grundbegriffen davor gefeit, sich in eine Forderung nach Rückkehr oder Umkehr zu einer vermeintlich besseren, weniger gespaltenen Welt zu ergehen. Diese beiden Ansätze informieren daher z.B. unterschiedliche Spielarten der Technologiekritik: Die Theorie vom Widerstandspotential eines ursprünglich gespaltenen Subjekts ergänzt die eher klassisch-marxistischen Entfremdungskritik, die auf die Einheit von Subjekt, Bildung und Tätigkeit zielt, und Widersprüchlichkeit als Entfremdung zurückweist.
Eleonora Antonakaki Giannisi (German Studies, Northwestern University) wendet sich für eine zeitgenössische Technologiekritik dagegen den Differenzen und Ähnlichkeiten in der Geldtheorie bei Marx und Simmel zu, und untersucht die These vom Geld als eine Sozialtechnologie. Als zweischneidiges Schwert generiert die Geldwirtschaft nämlich einerseits die Möglichkeit und Notwendigkeit der Abstraktion von der konkreten Person. Andererseits wird diese Abstraktion in der Kombination von Geldwirtschaft und digitaler Maschinerie aber zu einem selbstablaufenden Prozess. Denn unweigerlich – so die These – verlagert sich die generalisierte Attacke der Maschine auf die Sinne des Arbeiters, die schon Marx beschreibt, in die Gegenwart. So wie der Arbeiter nicht mehr die Maschine anwendet, sondern die Maschine den Arbeiter verwendet, sind im digitalen Kapitalismus ebenfalls die „AnwenderInnen“ von digitalen Produkten diejenigen, die eigentlich verwendet bzw. verwertet werden. Schon Simmel habe beschrieben, wie die Mechanisierung der Fabriken auch die Mechanisierung des Alltagslebens besonders in den Städten nach sich zieht. Regressiver Autoritarismus entstehe dann genau dort, wo sich der Widerstand nicht gegen die Überreizung, sondern gegen diejenigen richtet, die diesem überdrehten Standard nicht mehr genügen (können). Sie fordern dann die Rückkehr zu vermeintlich besseren und authentischeren Verhältnissen, die nur so erscheinen, als trügen sie nicht den Kern der Überreizung ebenso in sich.
Die Quintessenz ist hier, dass Entfremdungskritik zwar tatsächlich potenziell mit regressiven Vorstellungen Resonanz erzeugt, trotzdem aber faktisch ständig und alltäglich Entfremdungserfahrungen gemacht werden. Diese müssen auch von einer marxistischen Kritik, die sich auf eine strukturale oder transzendentale Schule bezieht, ernst genommen werden, wenn das Mobilisierungspotential dieser Erfahrungen nicht nach rechts abwandern soll. Ein herausragendes Beispiel wäre hier zum Beispiel das Phänomen der sogenannten trad-wifes, also der massenmedial wirksamen Darstellung von vermeintlich traditioneller Weiblichkeit als Ehefrau und Mutter, die sich in sozialen Medien findet: Diese kanalisieren auf „erfolgreiche“ Weise die Entfremdungserfahrungen, die Frauen* z.B. auf Online-Dating-Portalen machen, und leben ein vermeintlich ganzheitliches Familienleben als „Alternative“ vor. Eine materialistische Kritik wäre schlecht beraten, wenn sie hier nur einen ständigen gegenseitige Unterbietungswettbewerb anzubieten habe um darauf zu bestehen, dass eine nicht-entfremdete Erfahrung von Partnerschaftlichkeit ein vergangenes oder gar reaktionäres Bedürfnis sei.
Einen ganz anderen Blick auf die Psychologie der Masse im Spätkapitalismus bringt Jana Kujundzic (Northumbria University) mit. Sie bringt die steigenden Zahlen an Gefängnisinsassen im Vereinigten Königreich mit dem laufenden Prozess der Novellierung der sexual fraud Gesetzgebung in Verbindung, die prinzipiell vor Missbrauch schützt und regelt, ab wann das implizite Vorspiegeln falscher Tatsachen einen expliziten Bruch mit dem Konsensprinzip darstellt, und somit strafbar sein kann. Die Gesetzgebung selbst geht auf die viktorianische Zeit zurück und erzeugt bei der Anwendung heute problematische Effekte. Während tatsächliche und z.T. vorsätzliche Täuschungen von dem Gesetz oft nicht abgedeckt sind – z.B. der Fall von verdeckten ErmittlerInnen in politische Gruppierungen, die dort auch langfristige Liebesbeziehungen eingehen – führe die Anwendung der Bestimmungen paradoxerweise immer wieder gerade dann zu Schlagzeilen, wenn es sich um in ihrer sexuellen Orientierung oder Gender-Selbstverständnis unentschlossene Minderjährige, oder um Beziehungen zu queeren Personen in Nachtclubs handelt. Die Mixtur aus vermeintlichem Schutz von Kindern und Frauen, die in Kontrolle und dem Zwang, sich in eine normative Matrix einzuordnen mündet, bei gleichzeitiger Nichtbeachtung von vorsätzlichen Rechtsbrüchen sei daher parallel zu den moral panics bei Foucault zu verstehen.
Modelle der Ökonomie, Modelle der Kritik
Der technologischen und psychologischen Kulturkritik stand aber auch ein Stream zu Marx und neuen ökonomischen Technologien zur Seite. Ein klassischer Themenschwerpunkt ist hier stets die marxistische Krisentheorie. Baver Yeşilyurt, Volkan Ahıskalı und Ekin Bal (Hacettepe/METU/Ankara University) stellten dazu ein neues mathematisches Modell zur Entwicklung von Profitraten unter der Bedingung von Konkurrenz und Innovationsdruck vor, in dem sie sich auf Anwar Shaiks Theory of Real Competition stützen.
Ihre handlungsorientierte Theorie geht davon aus, dass die handelnden Agenten des Kapitals nicht mit einem angestammten Wissen über die Regeln des Marktes geboren werden: „Capitalists do not have a manual“. Konkrete, kapitalistisch handelnde Unternehmen erlernen ihre Verhaltensstrategien vielmehr erst in der Marktsituation. Diese Lernprozesse ließen sich digital modellieren, um sie sodann mit unterschiedlichen Situationen zu konfrontieren, wie z.B. dem Auftreten einer neuen Technologie, die das Verhältnis von Investitionen zu Stückkosten verschiebt. Welche Unternehmen werden wann und aus welchen Gründen die neue Technologie annehmen? Und welche Folgen hat dies für die Marktposition des jeweiligen Landes? Der Simulation im Modell nach ändert sich die organische Zusammensetzung des Kapitals – anders als oftmals angenommen – nicht einfach für alle linear. Vielmehr können mehrere Verhaltensstrategien nebeneinander existieren, und konkret auch z.B. in unterschiedliche volkswirtschaftliche Regulierungsräume eingebettet sein. Unterschiedliche Strategien ziehen also auch unterschiedliche Nebenfolgen für die betroffenen Gesellschaften nach sich. Ein Beispiel hierfür wäre z.B. der Blick auf den Gegensatz zwischen den Akkumulationsstrategien der EU und Russlands, die wohl ein Grund unter mehreren für den aktuellen Konflikt darstellen. Unterschiedliche Strategien führen z.B. zur Privilegierung von je verschiedenen Bevölkerungsgruppen, und sorgen so für ein lokales und dann überregionales Konfliktpotenzial, wenn sie nicht in einem Regulierungsraum verwirklichen lassen. Das Modell versucht zu zeigen, warum ein einfach Theorie des Monopolkapitalismus nicht zutrifft: Es gibt empirisch neben der Monopolstrategie andere dauerhafte Strategien der Akkumulation. Eine politische Strategie, die Arbeitsbevölkerung zusammen mit den Mittelständen gegen das jeweilig am meisten fortgeschrittene Monopol zusammenzubringen, ist aus dieser Sicht wenig erfolgreich. Das gilt damit auch und gerade für große technologische Imperien unserer Zeit, wobei solche politischen Interpretationen natürlich außerhalb der Simulation des Modells liegen.
Antonis Farras und Zamile Kampa (University of Athens) untersuchten statt der konkreten Technologie dagegen die Konjunkturen von Kritik an technologischen Innovationen. Die Kritik durchläuft ihren Ergebnissen nach einen vergifteten Reifeprozess, der annähernd den Stadien von Innovation, Überinvestition, Crash und langfristiger Durchsetzung der Technologie entspricht. Im Moment der Innovation ist die Kritik empirisch oftmals flapsig, um dann in der Phase der Überinvestition, auf dem Höhepunkt der Kapitalisierung eines neuen Marktes zynisch zu werden. Der Zynismus entlädt sich dann im Crash, wenn der Marktwert plötzlich sinkt, wie z.B. bei Bitcoins oder im Fall der Firma Meta für Online-Anwendungen, deren Aktienbewertung mit dem Beginn der Covid-Pandemie einen erheblichen Hype, von 2021–22 dann einen umso tieferen Kurssturz erlitten hatte. Gerade aber in der wichtigen letzten Phase, der allgemeinen Durchsetzung einer neuen risikobehafteten Technologie, verstumme die politische Kritik an den Innovationen dann häufig.
Digitale Formen von Ausbeutung
Der ökonomische und der kulturkritische Aspekt gingen zusammen in einem Panel über die konkreten Arbeitsbedingungen in technologisch revolutionierten Feldern wie Medienproduktion, Lieferdiensten und in den Versuchen der EU, KI zu regulieren. Peter Sekloča untersucht die Folgen der technologischen Fähigkeit von Nachrichtennetzwerken, die Textproduktion an Scheinselbstständige auszulagern, die für jeweils einzelne Texte bezahlt werden, anstatt in einer Nachrichtenagentur eine feste Anstellung zu haben. Diese Praxis führe zu einer erheblichen Deprofessionalisierung und in Folge auch zu einer Erosion des Publikums, dass keine Verantwortlichkeitsstrukturen in den Medien mehr erkennen kann – weil es keine mehr gibt – und so selbst zur Tat schreitet und „alternative Nachrichten“ konsumiert. Laura Valle Gontijo untersucht das Wiederauftauchen von „Piecework Remuneration“, also der Bezahlung nicht nach Stunden, sondern nach kleinsten produzierten Einheiten oder Arbeitsaufgaben, wie es in der Plattformarbeit und dort besonders in Lieferdiensten verbreitet ist. Das technologische Kapital entledigt sich so ganz von Risiko und Verantwortung für Belegschaften, Urlaubs- und Arbeitszeitplanung, indem sie einen technologischen, unmittelbaren und quasi blitzschnellen Zugriff auf Arbeitskraft aus der „industriellen Reservearmee“ finden. Diese Arbeitskräfte treten darin als Selbstständige auf und verstehen sich empirisch auch häufig selbst auf diese Wiese. Die technologischen Lösungen mit Apps und Algorithmen sind so gebaut, dass sie strukturell ein Selbstverständnis als freier Unternehmer fördern, das den realen Bedingungen zweifellos Hohn spricht, aber deswegen nicht weniger wirksam ist, und in manchen Fällen auch explizit kleinbürgerliche und antiproletarische Überzeugungen mit sich bringt. Das Zusammenspiel von in jeder Hinsicht proletarischer Arbeitstätigkeit bei gleichzeitiger massenhaftem pseudo-selbstständigen Entrepreneurship sei dabei historisch neuartig.
Alexandros Minotakis bringt seine kritische Perspektive auf verschiedene Interessen im Prozess der Regulierung von künstlicher Intelligenz in der EU ein. Minotakis erklärt die verschiedenen Schichten des Risiko-basierten Modells der EU zur Einschätzung der Gefahren von KI in verschiedenen Feldern; und erklärt mehrere enthaltene Probleme. Zwar seien bestimmte Technologien mit hohem Risikofaktor von der freien Zirkulation ausgeschlossen, z.B. leistungsfähige Gesichtserkennung, gleichzeitig behalten sich EU-Länder selbst durchaus die Nutzung dieser Technologien vor – und vertrauen wohl darauf, dass es in ihren Händen nicht zu Risiken wie Datenlecks kommen könne. Auch der teilweise unvermeidbare gigantische Verbrauch von Ressourcen, wie Wasser, kritischer Materialien und Energie, kommt laut Minotakis nicht mehr in der finalen Fassung der EU-Legislatur vor, obwohl er in früheren Entwürfen bereits darin angelegt war. Minotakis versteht den EU-AI-Act daher weniger als Schutz der Verbraucher*Innen, sondern als Versuch der EU, ihren KI-Rückstand gegenüber den USA und potenziell China aufzuholen.
Philosophie der Intervention?
Panagiotis Sotiris (Hellenic Open University) rollt den Dualismus von Theorie und Begründungsstrategien für Kritik Intervention, der in den Debatten des Netzwerks stets eine Rolle spielt und auch in hier eine konstitutive Spannung darstellte, von der Seite konkreter soziologischen Forschung her auf. Denn an welchem Punkt und – mit welchem Impetus – beginnt die Forschung wirklich? Zweifellos sei sozialwissenschaftliches Wissen immer bis zu einem gewissen Grad situiert, d.h., es ist nicht ganz ohne seine Verwurzelung in einer konkreten Person und deren sozialen Erfahrungen und politischen Weltbildern zu haben. Der akademische Prozess mag zwar einige dieser Effekte kontrollieren. Es wäre aber zu optimistisch davon auszugehen, die Relativität von Wissen könne methodisch völlig neutralisiert werden – das gilt besonders für Felder, für die wiederholbare Experimente ausgeschlossen sind, also gerade für die meisten der drängenden soziologischen Fragestellungen. Es sei deswegen so gut wie unmöglich, sozialwissenschaftliche Forschung auf ein klares und geteiltes Problem zu beziehen, weil nie sichergestellt werden kann, dass die spezifische Fassung des Problems nicht zu einen großen Teil nur in der existierenden Konstellation von partikularen und vermachteten Definitionen gründet. Reell steht Forschung damit selten auf dem Boden von Tatsachen, sondern beginne empirisch stets als Intervention. Als Gewährsmann für seine Position zieht Sotiris Louis Althussers heran, wobei diese relationale Interpretation von der althusserschen Philosophiekritik als umstritten gelten muss.
Was nun, schlägt Sotiris vor, wenn soziologische Theoriebildung diesen Umstand nicht als Defizit, sondern schlicht als Ausgangspunkt und vielleicht sogar als Stärke formulieren würde? Für den Bereich der Sozialphilosophie hat Sotiris ein altes, aber wichtiges Argument in der Tasche: Das Scheitern der abwartenden Strategie der sozialdemokratischen Politik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sotiris identifiziert einmal mehr besonders die deutsche Politik des Burgfriedens, sprich die in Worten radikale Haltung der SPD, die in Taten aber auf Kompromiss und Ausgleich mit den Interessen von Monarchie und Bürgertum zielte, mit einer wissenschaftlichen Haltung: Die umfassenden politischen Thesen von Marx und seiner Anhänger haben sich nicht in ein wissenschaftliches Programm übersetzen lassen, folglich habe die Politik ebenfalls ihre revolutionären Ambitionen zurückstellen müssen, und sich stattdessen auf Maßnahmen mittlerer Reichweite begrenzen müssen. Gerade diese mittlere Reichweite erwies sich aber als ein Kampf auf verlorenem Posten.
Gegen diese Sackgasse beschwört Sotiris den Geist des Interventionismus. Die Politik dürfe nicht auf die Richtigkeit ihres Standpunkts warten. Das Intervenieren an sich sei bereits ein eigener Wert. Der Übergang von der Ideologieproduktion zur Wissenschaft sei kein historisch datierbares Ereignis, sondern eine immer fortwährende Haltung. Die Parteilichkeit komme zuerst. Trotz aller Kritik sieht Sotiris diese Haltung gerade bei Luxemburg und Lenin zum Ausdruck gebracht.
Auch der kroatische Soziologe Ozren Pupovac zweifelt Sotiris’ praxisorientierte Wissenschaftstheorie an. Wissen, so Pupovac, gehe für Althusser gerade nicht aus Praxis oder Intervention hervor. Besonders theoretische Begriffe seien eben nicht von Erfahrung geformt und auch nicht das Ergebnis der Synthese von Eindrücken. Begriffe entstünden vielmehr durch den Bruch mit der Evidenz der Erfahrung. Jede Intervention setze dagegen doch immer schon ein wie auch immer bruchstückhaftes Vorwissen über den Sinngehalt der Intervention voraus, womit am Ende doch das Wissen ein Primat vor der Praxis genießen muss.
Fazit
Diese wissenschaftstheoretische Diskussion darf – neben den mannigfaltigen Impulsen für empirische Forschung, die sich auch heute noch aus einer traditionell materialistisch orientierten Forschungseinstellung ergeben (die vielen Panels zu Technologie und ihrer Regulation haben es bewiesen) gut und gerne als einer der wesentlichen Erträge der Konferenz gelten. Auch das Abschlusspanel drehte sich um dieses Thema. Der Soziologe Kevin Anderson (UC Santa Barbara) entkräftete darin das oft bemühten Narrativ über den Marxismus, er sei eingleisig auf die politische Funktion einer neuen Klasse von Industriearbeitern fokussiert, und setzte dem eine detaillierte Quellenstudie entgegen, die auf die einen Pluralismus von Politik- und Revolutionskonzepten in Marx hinweist. Auch Ayça Çubukçu (London School of Economics) erinnerte mit ihrem Beitrag über den kürzlich verstorbenen Antonio Negri an die materialistische Tradition des Experimentierens mit politischen Formen, die sich nicht deterministisch aus einer vorgefassten Theorie von widersprüchlichen oder entfremdenden sozialen Formen ableiten, sich aber ebenso wenig auf eine Kontingenz des Wandels verlassen dürfen.