Materialismus der Intervention

Bericht zur Konferenz „Historical“ Materialism vom 5. bis 7. April 2024 in Istanbul 

His­tor­i­cal Mate­ri­al­ism – die „Branchen­messe“ für neue und alte Mate­ri­al­is­men, Marx­is­men und kri­tis­chen The­o­rien – fand vom 5.–7. April 2024 an ihrem türkischen Stan­dort in der Kadir Has Uni­ver­sität am West­ufer des Gold­e­nen Horns von Istan­bul statt. Ver­anstal­tet von einem Net­zw­erk rund um die gle­ich­namige Zeitschrift aus dem Brill-Ver­lag, tre­f­fen sich dort regelmäßig gesellschaft­skri­tisch ori­en­tierte Wis­senschaft­lerIn­nen, um sich über ihre Arbeit und die glob­ale poli­tis­che Kon­junk­tur auszu­tauschen. Die näch­ste Som­merkon­feren­zen des Net­zw­erks wer­den von 24.–27. April 2025 in Athen und 26.–28. Juni 2025 in Paris stattfinden.

Westlicher Marxismus

Ege Çoban eröffnete die The­menkat­e­gorie west­lich­er Marx­is­mus mit einem Vor­trag über die melan­cholis­chen Unter­strö­mung des Mate­ri­al­is­mus. Seine Aus­gangs­these ist, dass gegen­wär­tige Trends der Philoso­phie – gemeint sind vor allem die New Mate­ri­alisms, die Çoban lose mit den etwas älteren New Realisms in Verbindung bringt – als Reak­tion auf das his­torische Scheit­ern mate­ri­al­is­tisch inspiri­ert­er Poli­tiken­twürfe zu ver­ste­hen sind.

Um diese These zu erhärten, erläutert Çoban seine Arbeit­en zu dem ursprünglich apoli­tis­che gedacht­en Begriff der Philoso­phie in der Antike, die sein­er Darstel­lung nach durch die Aus­d­if­feren­zierung und Emanzi­pa­tion der Einzel­wis­senschaften zuerst in eine Iden­tität­skrise als uni­ver­sale Wis­senschaft ver­fällt, um sich sodann als poli­tis­chePhiloso­phie neu zu erfind­en. Diese Entwick­lung erfährt einen Höhep­unkt bei Hegel, der die Bedeu­tung der Philoso­phie unmit­tel­bar an seine poli­tis­che Ver­wirk­lichung knüpft – eine Argu­ment, dass sich auch in der kri­tis­chen The­o­rie immer wieder find­et, promi­nent zu Beginn von Adornos Neg­a­tive Dialek­tik.

Auch bei Marx taucht dieses Motiv in der Form der Prax­isori­en­tierung auf (Philoso­phie könne nur durch Prax­is ver­wirk­licht wer­den); bei Engels find­et sich die Idee, das Pro­le­tari­at trete das „Erbe“ der Philoso­phie an. Çobans Argu­ment ist nun, dass dieses Erbe in der Geschichte der mod­er­nen Philoso­phie mit unter­schiedlichen Begrün­dun­gen aus­geschla­gen würde. Bei Niet­zsche z.B. find­et sich eine erste entsch­iedene Zurück­weisung ein­er solchen Idee ein­er philosophis­chen Unter­strö­mung oder Ver­wirk­lichung von Begrif­f­en mit Ver­weis auf ein Mod­ell ein­er steti­gen Wieder­hol­ung des Immer­gle­ichen. Auch Hei­deg­ger hält ein­er solchen Entwick­lungslogik der Geschichte die ver­meintliche Eigenge­set­zlichkeit des Seins entgegen. 

Unab­hängig von den jew­eili­gen inter­nen Prob­le­men dieser Ansätze sieht Çoban sieht darin vor allem eine Ver­weigerung, sich mit der Auf­gabe des Trauerns um eine ver­passte Chance der Philoso­phie auseinan­derzuset­zen: Wo keine geschichtliche Entwick­lung ist, kann man auch das Abreißen eines rev­o­lu­tionären Prozess­es nicht betrauern. Diese Unfähigkeit zu trauern will Çoban auch in den gegen­wär­ti­gen New Mate­ri­alisms erken­nen. Wer z.B. mit Latour zum Schluss käme, „wir sind nie mod­ern gewe­sen“, der kann angesichts des fortschre­i­t­en­den Ver­lusts von spez­i­fisch mod­er­nen sozialen For­men nicht zum Trauern überge­hen: Der Ver­weis etwa auf einen Abbau sub­jek­tiv­en Bürg­er­recht­en und die Reduk­tion oder Zer­legung des bürg­er­lichen Sub­jek­ts in dis­parate Einzel­teile durch dig­i­tale und Bio-Tech­nolo­gien ist möglicher­weise umso schwieriger zu kri­tisieren, je mehr davon aus­ge­gan­gen wird, dass es sich bei der Ein­heit de Bürg­er­rechtssub­jek­ts ohne­hin um nur um eine Scha­rade han­delte. Was es nie gab, kann man auch nicht vertei­di­gen

Anto­nis Bal­a­sopou­los (Utopi­an Stud­ies an der Uni­ver­sität Zypern) berichtet über seine Sicht auf die Entwick­lung der britis­chen marx­is­tis­chen Kul­turkri­tik rund um E.P. Thomp­son und Miguel Aben­sour. Zwis­chen 1926 und 1958 ver­ließen viele Mit­glieder die Kom­mu­nis­tis­che Partei Großbri­tan­niens, beson­ders nach der sow­jetis­chen Inter­ven­tion in Ungarn. Die Suche nach poli­tis­chen und philosophis­chen Alter­na­tiv­en zum Mod­ell des Stal­in­is­mus war in vollem Gange, aber nicht einfach. 

Beson­ders die neue Marx Lek­türe Althussers erschien Thomp­son unat­trak­tiv. Althuss­er ver­suchte zwar, jen­seits der Reduk­tion des Marx­is­mus auf ein­fache Prax­isan­weisun­gen zu denken, geri­et dabei laut Bal­a­sopou­los in die gegen­teilige Schieflage, Prax­is ins­ge­samt skep­tisch gegenüberzuste­hen. Die Struk­turen eines solchen Marx­is­mus seien so rigide aus­ge­fall­en, dass sie das Entste­hen emanzi­pa­tiv­er Hand­lungs­macht beina­he genau­so effek­tiv ver­hin­derten, wie tat­säch­liche Repres­sion. Althuss­er, als die philol­o­gis­che „The­o­riepolizei“ des Marx­is­mus, habe diesen Effekt unfrei­willig verkör­pert. Ger­ade Miguel Aben­sour ste­he dage­gen für eine Wieder­auf­nahme der – wiederum – speku­la­tiv­en Kreativ­ität des jun­gen Marx. Mit ein­er Auf­fas­sung der Real­ität als niemals geschlossenes, son­dern wider­sprüch­lich­es Ganzes, müsse sich Poli­tik eben eher an der gelebten wider­sprüch­lichen Erfahrung, als an The­o­rie des ide­alen Durch­schnitts orientieren. 

Doch was, wenn die Wider­sprüch­lichkeit des All­t­ags mit der Zeit abn­immt und hin­ter andere Erfahrun­gen zurück­tritt? Dieser für den Marx­is­mus nicht untyp­is­che, ein­seit­ige Fokus auf ver­meintliche Wider­sprüche als Motoren der Geschichte, gibt in vie­len Beiträ­gen latent den Ton an. Gle­ichzeit­ig wird diesem The­o­rem auch sel­ten so viel Aufmerk­samkeit zu teil. Da es nicht nur im Mate­ri­al­is­mus präsent ist, son­dern als Krisen­erzäh­lung auch in anderen The­o­ri­etra­di­tio­nen weitläu­fig vorkommt, ließ sich von der Kon­ferenz einiges lernen.

Kritik der Technologie – Marx, Lacan und Dating Portale

Im Stream zu Marx­is­mus und Tech­nolo­gie berichtet Lea Kuhar (Sloven­ian Acad­e­my of Sci­ence and Arts) über die Entwick­lung marx­is­tis­ch­er The­o­rie in Jugoslaw­ien. Da es im staat­sof­fiziell marx­is­tisch ori­en­tierten Sys­tem schwierig war, kri­tis­che Marx­forschung zu betreiben, habe sich dort die eigen­tüm­liche Prax­is entwick­elt, Kri­tik zu äußern, die ihrer äußeren Form nach Marx und die Parteilin­ie rhetorisch links über­holt, unab­hängig vom tat­säch­lichen Inhalt. Diese Rhetorik habe aber auch den Raum dafür eröffnet, tat­säch­lich mit Marx über Marx hin­aus zu denken, z.B. in der Prax­is-Gruppe und der späteren slowenis­chen Schule der im Anschluss an Lacan. 

Die auf diese Weise aus ein­er Auseinan­der­set­zung mit Freud und Lacan her­vorge­gan­gene Posi­tion etwa eines Slavoj Žižek sei als tran­szen­den­taler Mate­ri­al­is­mus von anderen Spielarten klar unter­schei­d­bar. Während der dialek­tis­che Mate­ri­al­is­mus in Begrif­f­en des Wer­dens denkt, wo ein ges­paltenes oder ent­fremdetes Sub­jekt seine Ent­frem­dung über­windet, wäh­le der tran­szen­den­tale Ansatz ger­ade die umgekehrte Begriff­sstrate­gie: Eine ursprüngliche Ein­heit des Sub­jek­ts spalte sich unwieder­bringlich auf. Die lacan­sche Kri­tik sei deshalb schon in ihren Grund­be­grif­f­en davor gefeit, sich in eine Forderung nach Rück­kehr oder Umkehr zu ein­er ver­meintlich besseren, weniger ges­pal­te­nen Welt zu erge­hen. Diese bei­den Ansätze informieren daher z.B. unter­schiedliche Spielarten der Tech­nolo­giekri­tik: Die The­o­rie vom Wider­standspo­ten­tial eines ursprünglich ges­pal­te­nen Sub­jek­ts ergänzt die eher klas­sisch-marx­is­tis­chen Ent­frem­dungskri­tik, die auf die Ein­heit von Sub­jekt, Bil­dung und Tätigkeit zielt, und Wider­sprüch­lichkeit als Ent­frem­dung zurückweist.

Eleono­ra Anton­aka­ki Gian­nisi (Ger­man Stud­ies, North­west­ern Uni­ver­si­ty) wen­det sich für eine zeit­genös­sis­che Tech­nolo­giekri­tik dage­gen den Dif­feren­zen und Ähn­lichkeit­en in der Geldthe­o­rie bei Marx und Sim­mel zu, und unter­sucht die These vom Geld als eine Sozial­tech­nolo­gie. Als zweis­chnei­di­ges Schw­ert gener­iert die Geld­wirtschaft näm­lich ein­er­seits die Möglichkeit und Notwendigkeit der Abstrak­tion von der konkreten Per­son. Ander­er­seits wird diese Abstrak­tion in der Kom­bi­na­tion von Geld­wirtschaft und dig­i­taler Maschiner­ie aber zu einem selb­stablaufend­en Prozess. Denn unweiger­lich – so die These – ver­lagert sich die gen­er­al­isierte Attacke der Mas­chine auf die Sinne des Arbeit­ers, die schon Marx beschreibt, in die Gegen­wart. So wie der Arbeit­er nicht mehr die Mas­chine anwen­det, son­dern die Mas­chine den Arbeit­er ver­wen­det, sind im dig­i­tal­en Kap­i­tal­is­mus eben­falls die „Anwen­derIn­nen“ von dig­i­tal­en Pro­duk­ten diejeni­gen, die eigentlich ver­wen­det bzw. ver­w­ertet wer­den. Schon Sim­mel habe beschrieben, wie die Mech­a­nisierung der Fab­riken auch die Mech­a­nisierung des All­t­agslebens beson­ders in den Städten nach sich zieht. Regres­siv­er Autori­taris­mus entste­he dann genau dort, wo sich der Wider­stand nicht gegen die Über­reizung, son­dern gegen diejeni­gen richtet, die diesem über­dreht­en Stan­dard nicht mehr genü­gen (kön­nen). Sie fordern dann die Rück­kehr zu ver­meintlich besseren und authen­tis­cheren Ver­hält­nis­sen, die nur so erscheinen, als trü­gen sie nicht den Kern der Über­reizung eben­so in sich.

Die Quin­tes­senz ist hier, dass Ent­frem­dungskri­tik zwar tat­säch­lich poten­ziell mit regres­siv­en Vorstel­lun­gen Res­o­nanz erzeugt, trotz­dem aber fak­tisch ständig und alltäglich Ent­frem­dungser­fahrun­gen gemacht wer­den. Diese müssen auch von ein­er marx­is­tis­chen Kri­tik, die sich auf eine struk­tu­rale oder tran­szen­den­tale Schule bezieht, ernst genom­men wer­den, wenn das Mobil­isierungspo­ten­tial dieser Erfahrun­gen nicht nach rechts abwan­dern soll. Ein her­aus­ra­gen­des Beispiel wäre hier zum Beispiel das Phänomen der soge­nan­nten trad-wifes, also der massen­medi­al wirk­samen Darstel­lung von ver­meintlich tra­di­tioneller Weib­lichkeit als Ehe­frau und Mut­ter, die sich in sozialen Medi­en find­et: Diese kanal­isieren auf „erfol­gre­iche“ Weise die Ent­frem­dungser­fahrun­gen, die Frauen* z.B. auf Online-Dat­ing-Por­tal­en machen, und leben ein ver­meintlich ganzheitlich­es Fam­i­lien­leben als „Alter­na­tive“ vor. Eine mate­ri­al­is­tis­che Kri­tik wäre schlecht berat­en, wenn sie hier nur einen ständi­gen gegen­seit­ige Unter­bi­etungswet­tbe­werb anzu­bi­eten habe um darauf zu beste­hen, dass eine nicht-ent­fremdete Erfahrung von Part­ner­schaftlichkeit ein ver­gan­ge­nes oder gar reak­tionäres Bedürf­nis sei.

Einen ganz anderen Blick auf die Psy­cholo­gie der Masse im Spätkap­i­tal­is­mus bringt Jana Kujundz­ic (Northum­bria Uni­ver­si­ty) mit. Sie bringt die steigen­den Zahlen an Gefäng­nisin­sassen im Vere­inigten Kön­i­gre­ich mit dem laufend­en Prozess der Nov­el­lierung der sex­u­al fraud Geset­zge­bung in Verbindung, die prinzip­iell vor Miss­brauch schützt und regelt, ab wann das implizite Vor­spiegeln falsch­er Tat­sachen einen expliziten Bruch mit dem Kon­sen­sprinzip darstellt, und somit straf­bar sein kann. Die Geset­zge­bung selb­st geht auf die vik­to­ri­an­is­che Zeit zurück und erzeugt bei der Anwen­dung heute prob­lema­tis­che Effek­te. Während tat­säch­liche und z.T. vorsät­zliche Täuschun­gen von dem Gesetz oft nicht abgedeckt sind – z.B. der Fall von verdeck­ten Ermit­t­lerIn­nen in poli­tis­che Grup­pierun­gen, die dort auch langfristige Liebes­beziehun­gen einge­hen – führe die Anwen­dung der Bes­tim­mungen para­dox­er­weise immer wieder ger­ade dann zu Schlagzeilen, wenn es sich um in ihrer sex­uellen Ori­en­tierung oder Gen­der-Selb­stver­ständ­nis unentschlossene Min­der­jährige, oder um Beziehun­gen zu queeren Per­so­n­en in Nacht­clubs han­delt. Die Mix­tur aus ver­meintlichem Schutz von Kindern und Frauen, die in Kon­trolle und dem Zwang, sich in eine nor­ma­tive Matrix einzuord­nen mün­det, bei gle­ichzeit­iger Nicht­beach­tung von vorsät­zlichen Rechts­brüchen sei daher par­al­lel zu den moral pan­ics bei Fou­cault zu verstehen.

Modelle der Ökonomie, Modelle der Kritik

Der tech­nol­o­gis­chen und psy­chol­o­gis­chen Kul­turkri­tik stand aber auch ein Stream zu Marx und neuen ökonomis­chen Tech­nolo­gien zur Seite. Ein klas­sis­ch­er The­men­schw­er­punkt ist hier stets die marx­is­tis­che Krisen­the­o­rie. Baver Yeşi­lyurtVolkan Ahıskalı und Ekin Bal (Hacettepe/METU/Ankara Uni­ver­si­ty) stell­ten dazu ein neues math­e­ma­tis­ches Mod­ell zur Entwick­lung von Prof­i­trat­en unter der Bedin­gung von Konkur­renz und Inno­va­tions­druck vor, in dem sie sich auf Anwar Shaiks The­o­ry of Real Com­pe­ti­tion stützen. 

Ihre hand­lung­sori­en­tierte The­o­rie geht davon aus, dass die han­del­nden Agen­ten des Kap­i­tals nicht mit einem anges­tammten Wis­sen über die Regeln des Mark­tes geboren wer­den: „Cap­i­tal­ists do not have a man­u­al“. Konkrete, kap­i­tal­is­tisch han­del­nde Unternehmen erler­nen ihre Ver­hal­tensstrate­gien vielmehr erst in der Mark­t­si­t­u­a­tion. Diese Lern­prozesse ließen sich dig­i­tal mod­el­lieren, um sie sodann mit unter­schiedlichen Sit­u­a­tio­nen zu kon­fron­tieren, wie z.B. dem Auftreten ein­er neuen Tech­nolo­gie, die das Ver­hält­nis von Investi­tio­nen zu Stück­kosten ver­schiebt. Welche Unternehmen wer­den wann und aus welchen Grün­den die neue Tech­nolo­gie annehmen? Und welche Fol­gen hat dies für die Mark­t­po­si­tion des jew­eili­gen Lan­des? Der Sim­u­la­tion im Mod­ell nach ändert sich die organ­is­che Zusam­menset­zung des Kap­i­tals – anders als oft­mals angenom­men – nicht ein­fach für alle lin­ear. Vielmehr kön­nen mehrere Ver­hal­tensstrate­gien nebeneinan­der existieren, und konkret auch z.B. in unter­schiedliche volk­swirtschaftliche Reg­ulierungsräume einge­bet­tet sein. Unter­schiedliche Strate­gien ziehen also auch unter­schiedliche Neben­fol­gen für die betrof­fe­nen Gesellschaften nach sich. Ein Beispiel hier­für wäre z.B. der Blick auf den Gegen­satz zwis­chen den Akku­mu­la­tion­sstrate­gien der EU und Rus­s­lands, die wohl ein Grund unter mehreren für den aktuellen Kon­flikt darstellen. Unter­schiedliche Strate­gien führen z.B. zur Priv­i­legierung von je ver­schiede­nen Bevölkerungs­grup­pen, und sor­gen so für ein lokales und dann über­re­gionales Kon­flik­t­poten­zial, wenn sie nicht in einem Reg­ulierungsraum ver­wirk­lichen lassen. Das Mod­ell ver­sucht zu zeigen, warum ein ein­fach The­o­rie des Monopolka­p­i­tal­is­mus nicht zutrifft: Es gibt empirisch neben der Monopol­strate­gie andere dauer­hafte Strate­gien der Akku­mu­la­tionEine poli­tis­che Strate­gie, die Arbeits­bevölkerung zusam­men mit den Mit­tel­stän­den gegen das jew­eilig am meis­ten fort­geschrit­tene Monopol zusam­men­zubrin­gen, ist aus dieser Sicht wenig erfol­gre­ich. Das gilt damit auch und ger­ade für große tech­nol­o­gis­che Impe­rien unser­er Zeit, wobei solche poli­tis­chen Inter­pre­ta­tio­nen natür­lich außer­halb der Sim­u­la­tion des Mod­ells liegen

Anto­nis Far­ras und Zamile Kam­pa (Uni­ver­si­ty of Athens) unter­sucht­en statt der konkreten Tech­nolo­gie dage­gen die Kon­junk­turen von Kri­tik an tech­nol­o­gis­chen Inno­va­tio­nen. Die Kri­tik durch­läuft ihren Ergeb­nis­sen nach einen vergifteten Reife­prozess, der annäh­ernd den Sta­di­en von Inno­va­tion, Über­in­vesti­tion, Crash und langfristiger Durch­set­zung der Tech­nolo­gie entspricht. Im Moment der Inno­va­tion ist die Kri­tik empirisch oft­mals flap­sig, um dann in der Phase der Über­in­vesti­tion, auf dem Höhep­unkt der Kap­i­tal­isierung eines neuen Mark­tes zynisch zu wer­den. Der Zynis­mus entlädt sich dann im Crash, wenn der Mark­twert plöt­zlich sinkt, wie z.B. bei Bit­coins oder im Fall der Fir­ma Meta für Online-Anwen­dun­gen, deren Aktien­be­w­er­tung mit dem Beginn der Covid-Pan­demie einen erhe­blichen Hype, von 2021–22 dann einen umso tief­er­en Kurssturz erlit­ten hat­te. Ger­ade aber in der wichti­gen let­zten Phase, der all­ge­meinen Durch­set­zung ein­er neuen risikobe­hafteten Tech­nolo­gie, ver­s­tumme die poli­tis­che Kri­tik an den Inno­va­tio­nen dann häu­fig.

Digitale Formen von Ausbeutung

Der ökonomis­che und der kul­turkri­tis­che Aspekt gin­gen zusam­men in einem Pan­el über die konkreten Arbeits­be­din­gun­gen in tech­nol­o­gisch rev­o­lu­tion­ierten Feldern wie Medi­en­pro­duk­tion, Liefer­di­en­sten und in den Ver­suchen der EU, KI zu reg­ulieren. Peter Sek­loča unter­sucht die Fol­gen der tech­nol­o­gis­chen Fähigkeit von Nachrichten­net­zw­erken, die Textpro­duk­tion an Schein­selb­st­ständi­ge auszu­lagern, die für jew­eils einzelne Texte bezahlt wer­den, anstatt in ein­er Nachricht­e­na­gen­tur eine feste Anstel­lung zu haben. Diese Prax­is führe zu ein­er erhe­blichen Depro­fes­sion­al­isierung und in Folge auch zu ein­er Ero­sion des Pub­likums, dass keine Ver­ant­wortlichkeitsstruk­turen in den Medi­en mehr erken­nen kann – weil es keine mehr gibt – und so selb­st zur Tat schre­it­et und „alter­na­tive Nachricht­en“ kon­sum­iert. Lau­ra Valle Gon­ti­jo unter­sucht das Wieder­auf­tauchen von „Piece­work Remu­ner­a­tion“, also der Bezahlung nicht nach Stun­den, son­dern nach kle­in­sten pro­duzierten Ein­heit­en oder Arbeit­sauf­gaben, wie es in der Plat­tfor­mar­beit und dort beson­ders in Liefer­di­en­sten ver­bre­it­et ist. Das tech­nol­o­gis­che Kap­i­tal entledigt sich so ganz von Risiko und Ver­ant­wor­tung für Belegschaften, Urlaubs- und Arbeit­szeit­pla­nung, indem sie einen tech­nol­o­gis­chen, unmit­tel­baren und qua­si blitzschnellen Zugriff auf Arbeit­skraft aus der „indus­triellen Reservearmee“ find­en. Diese Arbeit­skräfte treten darin als Selb­st­ständi­ge auf und ver­ste­hen sich empirisch auch häu­fig selb­st auf diese Wiese. Die tech­nol­o­gis­chen Lösun­gen mit Apps und Algo­rith­men sind so gebaut, dass sie struk­turell ein Selb­stver­ständ­nis als freier Unternehmer fördern, das den realen Bedin­gun­gen zweifel­los Hohn spricht, aber deswe­gen nicht weniger wirk­sam ist, und in manchen Fällen auch expliz­it klein­bürg­er­liche und antipro­le­tarische Überzeu­gun­gen mit sich bringt. Das Zusam­men­spiel von in jed­er Hin­sicht pro­le­tarisch­er Arbeit­stätigkeit bei gle­ichzeit­iger massen­haftem pseu­do-selb­st­ständi­gen Entre­pre­neur­ship sei dabei his­torisch neuartig.

Alexan­dros Mino­takis bringt seine kri­tis­che Per­spek­tive auf ver­schiedene Inter­essen im Prozess der Reg­ulierung von kün­stlich­er Intel­li­genz in der EU ein. Mino­takis erk­lärt die ver­schiede­nen Schicht­en des Risiko-basierten Mod­ells der EU zur Ein­schätzung der Gefahren von KI in ver­schiede­nen Feldern; und erk­lärt mehrere enthal­tene Prob­leme. Zwar seien bes­timmte Tech­nolo­gien mit hohem Risiko­fak­tor von der freien Zirku­la­tion aus­geschlossen, z.B. leis­tungs­fähige Gesicht­serken­nung, gle­ichzeit­ig behal­ten sich EU-Län­der selb­st dur­chaus die Nutzung dieser Tech­nolo­gien vor – und ver­trauen wohl darauf, dass es in ihren Hän­den nicht zu Risiken wie Daten­lecks kom­men könne. Auch der teil­weise unver­mei­d­bare gigan­tis­che Ver­brauch von Ressourcen, wie Wass­er, kri­tis­ch­er Mate­ri­alien und Energie, kommt laut Mino­takis nicht mehr in der finalen Fas­sung der EU-Leg­is­latur vor, obwohl er in früheren Entwür­fen bere­its darin angelegt war. Mino­takis ver­ste­ht den EU-AI-Act daher weniger als Schutz der Verbraucher*Innen, son­dern als Ver­such der EU, ihren KI-Rück­stand gegenüber den USA und poten­ziell Chi­na aufzuholen.

Philosophie der Intervention?

Pana­gi­o­tis Sotiris (Hel­lenic Open Uni­ver­si­ty) rollt den Dual­is­mus von The­o­rie und Begrün­dungsstrate­gien für Kri­tik Inter­ven­tion, der in den Debat­ten des Net­zw­erks stets eine Rolle spielt und auch in hier eine kon­sti­tu­tive Span­nung darstellte, von der Seite konkreter sozi­ol­o­gis­chen Forschung her auf. Denn an welchem Punkt und – mit welchem Impe­tus – begin­nt die Forschung wirk­lich? Zweifel­los sei sozial­wis­senschaftlich­es Wis­sen immer bis zu einem gewis­sen Grad situ­iert, d.h., es ist nicht ganz ohne seine Ver­wurzelung in ein­er konkreten Per­son und deren sozialen Erfahrun­gen und poli­tis­chen Welt­bildern zu haben. Der akademis­che Prozess mag zwar einige dieser Effek­te kon­trol­lieren. Es wäre aber zu opti­mistisch davon auszuge­hen, die Rel­a­tiv­ität von Wis­sen könne method­isch völ­lig neu­tral­isiert wer­den – das gilt beson­ders für Felder, für die wieder­hol­bare Exper­i­mente aus­geschlossen sind, also ger­ade für die meis­ten der drän­gen­den sozi­ol­o­gis­chen Fragestel­lun­gen. Es sei deswe­gen so gut wie unmöglich, sozial­wis­senschaftliche Forschung auf ein klares und geteiltes Prob­lem zu beziehen, weil nie sichergestellt wer­den kann, dass die spez­i­fis­che Fas­sung des Prob­lems nicht zu einen großen Teil nur in der existieren­den Kon­stel­la­tion von par­tiku­laren und ver­ma­chteten Def­i­n­i­tio­nen grün­det. Reell ste­ht Forschung damit sel­ten auf dem Boden von Tat­sachen, son­dern beginne empirisch stets als Inter­ven­tion. Als Gewährs­mann für seine Posi­tion zieht Sotiris Louis Althussers her­an, wobei diese rela­tionale Inter­pre­ta­tion von der althusser­schen Philoso­phiekri­tik als umstrit­ten gel­ten muss.

Was nun, schlägt Sotiris vor, wenn sozi­ol­o­gis­che The­o­riebil­dung diesen Umstand nicht als Defiz­it, son­dern schlicht als Aus­gangspunkt und vielle­icht sog­ar als Stärke for­mulieren würde? Für den Bere­ich der Sozial­philoso­phie hat Sotiris ein altes, aber wichtiges Argu­ment in der Tasche: Das Scheit­ern der abwartenden Strate­gie der sozialdemokratis­chen Poli­tik zu Beginn des 20. Jahrhun­derts. Sotiris iden­ti­fiziert ein­mal mehr beson­ders die deutsche Poli­tik des Burgfriedens, sprich die in Worten radikale Hal­tung der SPD, die in Tat­en aber auf Kom­pro­miss und Aus­gle­ich mit den Inter­essen von Monar­chie und Bürg­er­tum zielte, mit ein­er wis­senschaftlichen Hal­tung: Die umfassenden poli­tis­chen The­sen von Marx und sein­er Anhänger haben sich nicht in ein wis­senschaftlich­es Pro­gramm über­set­zen lassen, fol­glich habe die Poli­tik eben­falls ihre rev­o­lu­tionären Ambi­tio­nen zurück­stellen müssen, und sich stattdessen auf Maß­nah­men mit­tlerer Reich­weite begren­zen müssen. Ger­ade diese mit­tlere Reich­weite erwies sich aber als ein Kampf auf ver­loren­em Posten.

Gegen diese Sack­gasse beschwört Sotiris den Geist des Inter­ven­tion­is­mus. Die Poli­tik dürfe nicht auf die Richtigkeit ihres Stand­punk­ts warten. Das Inter­ve­nieren an sich sei bere­its ein eigen­er Wert. Der Über­gang von der Ide­olo­giepro­duk­tion zur Wis­senschaft sei kein his­torisch datier­bares Ereig­nis, son­dern eine immer fortwährende Hal­tung. Die Parteilichkeit komme zuerst. Trotz aller Kri­tik sieht Sotiris diese Hal­tung ger­ade bei Lux­em­burg und Lenin zum Aus­druck gebracht.

Auch der kroat­is­che Sozi­ologe Ozren Pupo­vac zweifelt Sotiris’ prax­isori­en­tierte Wis­senschaft­s­the­o­rie an. Wis­sen, so Pupo­vac, gehe für Althuss­er ger­ade nicht aus Prax­is oder Inter­ven­tion her­vor. Beson­ders the­o­retis­che Begriffe seien eben nicht von Erfahrung geformt und auch nicht das Ergeb­nis der Syn­these von Ein­drück­en. Begriffe entstün­den vielmehr durch den Bruch mit der Evi­denz der Erfahrung. Jede Inter­ven­tion set­ze dage­gen doch immer schon ein wie auch immer bruch­stück­haftes Vor­wis­sen über den Sin­nge­halt der Inter­ven­tion voraus, wom­it am Ende doch das Wis­sen ein Pri­mat vor der Prax­is genießen muss.

Fazit

Diese wis­senschaft­s­the­o­retis­che Diskus­sion darf – neben den man­nig­falti­gen Impulsen für empirische Forschung, die sich auch heute noch aus ein­er tra­di­tionell mate­ri­al­is­tisch ori­en­tierten Forschung­se­in­stel­lung ergeben (die vie­len Pan­els zu Tech­nolo­gie und ihrer Reg­u­la­tion haben es bewiesen) gut und gerne als ein­er der wesentlichen Erträge der Kon­ferenz gel­ten. Auch das Abschlusspan­el drehte sich um dieses The­ma. Der Sozi­ologe Kevin Ander­son (UC San­ta Bar­bara) entkräftete darin das oft bemüht­en Nar­ra­tiv über den Marx­is­mus, er sei ein­gleisig auf die poli­tis­che Funk­tion ein­er neuen Klasse von Indus­triear­beit­ern fokussiert, und set­zte dem eine detail­lierte Quel­len­studie ent­ge­gen, die auf die einen Plu­ral­is­mus von Poli­tik- und Rev­o­lu­tion­skonzepten in Marx hin­weist. Auch Ayça Çubukçu (Lon­don School of Eco­nom­ics) erin­nerte mit ihrem Beitrag über den kür­zlich ver­stor­be­nen Anto­nio Negri an die mate­ri­al­is­tis­che Tra­di­tion des Exper­i­men­tierens mit poli­tis­chen For­men, die sich nicht deter­min­is­tisch aus ein­er vorge­fassten The­o­rie von wider­sprüch­lichen oder ent­frem­den­den sozialen For­men ableit­en, sich aber eben­so wenig auf eine Kontin­genz des Wan­dels ver­lassen dürfen.

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