Zum zweiten Mal fand die jährliche internationale Historical Materialism im November 2021 ausschließlich online statt. Anlässlich der gewaltigen nationalstaatlichen Anstrengungen zur Bekämpfung des Coronavirus, der dem zuvor noch bestimmenden Thema der Ökologie große Konkurrenz zu machen schien, stand die Konferenz unter dem Motto The Return of the State? Anticapitalist Politics in a New Ecological Landscape. Es ist kaum möglich, die zahlreichen Beiträge auch nur in Stichworten wiederzugeben. Stattdessen stehen hier im Folgenden nur ein paar Notizen zu drei der wichtigsten Stichworte, die sich im Laufe der Konferenz herauskristallisierten: 1) Das Verschwinden einer Forschungsfrage für den Historischen Materialismus, 2) Das Wiederauftauchen von Louis Althusser als zentrale Bezugsperson, 3) Das Verhältnis von Historischem Materialismus und Kritischer Theorie.
Natalia Romé spricht gleich zu Beginn ein ganz grundlegendes Problem an: Für eine überwältigende Mehrheit der Menschheit allgemein, aber auch konkreter für eine Mehrheit aller SozialwissenschaftlerInnen, gehört die Forschungsfrage, auf die der Historische Materialismus [HM] eine Antwort zu geben versuchte, der Vergangenheit an. Eine materialistische »Theorie der Geschichte« – man merkt es schon an dieser sperrigen Namensgebung – erscheint heute nicht etwa deswegen obsolet, weil es modernere, bessere Antworten auf ihren Gegenstandsbereich gäbe, sondern weil sich der gesellschaftliche Diskurs von diesem besonderen Teilbereich politischer Theorie ganz generell keine Antworten mehr erwartet. Will HM als eigenständiger Bereich überleben und nicht nur als »Methode«, muss er lernen, zu definieren, auf welche Art von Fragen er Antworten bereithalten kann.
In der Paneldiskussion zwischen Romé, Panagiotis Sotiris, William Lewis , Stefano Pippa und Dhruv Jain zu gegenwärtigen Forschungen zum Werk Althussers wurde diese Herausforderung besonders deutlich. Althusser vereint unter seinem Namen äußerst heterogene und geradezu entgegengesetzte Gedanken zur Systematik des HM, und wird aufgrund dessen von den unterschiedlichsten Ansätzen als Gewährsmann herangezogen. Sotiris z.B. insistiert in seiner neuesten Publikation zu Althusser erneut auf dem abstrakten, aber zentralen Unterschied zwischen Philosophie und Theorie, sowie der Unmöglichkeit einer marxistischen Philosophie. Lewis dagegen will mit seiner Intervention über Althussers Concrete Critical Theory gerade die notwendige Praxisrelevanz von Theorie zeigen. Pippa wiederum stellt zur Diskussion, ob der späte Althusser der Kontingenz überhaupt das Gegenteil zum frühen, deterministischen Althusser darstellt, oder ob die beiden Phasen in Althussers Werk nicht dieselben Fragen behandeln – nur mit umgekehrten geschichtlichen Vorzeichen? Klar wird durch die Diskussion aber vor allem, das selbst durch die philologische Orientierung an einem einzelnen Autor das Feld des HM nicht mehr in einer bearbeitbaren Weise abgesteckt werden kann.
In der anschließenden Debatte zu HM und kritischer Theorie verstärkt sich dieser Eindruck nochmal. Filippo Menozzi betont (in Opposition gegen den aktuell wieder vermehrt diskutierten Utopiebegriff) die Leistungsfähigkeit eines kritischen Realismus, den etwa Lukacs in Hegel erblickte. Es gelte, Theorien der Geschichte stets in der Realität zu verankern, nicht in der Utopie. Es sei zu überlegen, inwiefern das Denken der Utopie an der glatten Hülle des spätkapitalistischen Alltagsverstands abprallen muss. Kulturtheoretisch ist diese Frage sehr relevant: Gibt es ein Drittes zwischen einem auf Utopie ausgerichteten Kulturkampf einerseits und einem Einfache-Leute-Sozialismus andererseits? Gibt es eine Möglichkeit, das Bilderverbot der Kritischen Theorie, an dem sich ja etwa auch der deutsche Ökosozialismus um Klaus Dörre (2021, S. 117) stört, mit einer materialistischen Theorie zusammenzudenken? Arthur Bueno widmet sich in diesem Geist einer Kritik an Lukacs. Besonders die Verbindung von Verdinglichungskritik und Klassenstandpunkt des Proletariats ist heute nicht mehr plausibel: Zwar existiert Verdinglichung sozialer Verhältnisse, kaum aber wird dem Proletariat an sich eine Befähigung zugeschrieben, diese aufzubrechen. Die Bedingungen für emanzipatorische Momente liegen scheinbar überall vor – und können doch gleichzeitig keinen einen bestimmten Ort für sich erringen. Deutlich wird, dass für eine wirkliche Wiederaufnahme des Dialogs von kritischer Theorie und Historischem Materialismus noch viel Arbeit an den Grundbegriffen zu leisten sein wird. Im gegenwärtigen Zustand versanden die Debatten sehr schnell in der unklaren Systematik beider Seiten.
Als einer der Höhepunkte der Konferenz kann John Bellamy Fosters Referat über Dialektik der Natur gelten, der der ganzen Konferenz eine solche Begriffsarbeit nochmal ins Stammbuch schreibt: „I decided to go back to the beginning. Marx’s Ecology, which came out in 2000, was about Marxist Materialism really. It’s most famous for the chapter on the metabolic rift, but I went back to the roots of Marxist Materialism, in his dissertation on Epicurus … because Marxists had generally forgotten what Materialism was.“
Die nächste Konferenz wird 2022 an der Kadir Has Universität Istanbul stattfinden, nachdem das Treffen in Ankara aufgrund der pandemischen Lage ausfallen musste.