Politisch „links stehen“ ist zuallererst eine zutiefst bürgerliche Position – und das ist etwas Gutes.
- Das idealistische Erbe der Linken
In der Geschichte der menschlichen Gattung hat die Implementierung bürgerlicher Klassenverhältnisse eine Steigerung der Produktion von Gütern mit sich gebracht, die ein gutes Leben für restlos alle Menschen in den Bereich des Möglichen gerückt hat – zumindest sind keine anderen Gesellschaftsformationen bekannt, die je mit derart viel Aufwand von sich selbst behauptet haben, tatsächlich für das Wohl Aller einstehen zu wollen. Diese teilweise mit viel Brimborium praktizierte Selbstvergewisserung blieb und bleibt natürlich zuvorderst denjenigen Personen überlassen, die dafür Zeit und Muße mitbringen konnten, sprich denjenigen, denen diese Verhältnisse so und so bereits am meisten einbrachten. Und so besteht auch bis heute das Inventar der wichtigsten linken Schriftsteller*innen, Theoretiker*innen und Politiker*innen zum allergrößten Teil aus Beiträgen, die nicht aus im engeren Sinne adligen oder proletarischen Schichten stammen, sondern aus der bürgerlichen Klasse, die die arbeitsteilige und akkumulierende Produktionsweise am direktesten verkörpern.
Die allermeisten der sogenannten westlichen Werte, von Demokratie bis zu den Menschenrechten, von Freiheit bis zur Gleichheit, von der Brüderlichkeit bis zum humanistischen Sendungsbewusstsein, entstammen recht offensichtlich dieser bürgerlichen Klassenlage. Beispielsweise die Maxime der Freiheit entstammt der ökonomischen Überlegenheit des ‘freien’ Handels und des ‘freien’ Arbeitsmarktes, die Maxime der Gleichheit verdankt sich der notwendigen Illusion eines gerechten Tauschs von Arbeit gegen Lohn zwischen zwei gleichen Vertragspartnern. Das ist bekannt und gut erforscht. Weniger erforscht ist hingegen, welche Konsequenzen aus dieser seltsamen Trennung zwischen den Subjekten und den Objekten der bürgerlichen Ideologie gezogen werden müss(t)en.
Die Geschichte der Linken lässt sich beinahe als Geschichte der verschiedenen Versuche schreiben, die bürgerlichen Werte mit einer Massenbasis zu vermitteln, sodass Freiheit und Gleichheit nicht für immer und ewig nur einer bestimmten privilegierten Schicht vorbehalten bleiben. Wie diese Vermittlung allerdings aussehen kann, war stets umstritten. Kräfte aus der frühen Phase der Arbeiter*innenbewegung hingen beispielsweise immer wieder an der Frage, ob, und wenn ja wie sehr, sich eine Organisation aus professionellen Vorkämpfern, die selbst oftmals nicht dem Proletariat entstammten, sich der Führung der Bewegung annehmen dürfe. Das Umfeld der kritischen Theorie hingegen hat stets mehr oder minder deutlich die Ansicht vertreten, dass aus einer sozialistischen Perspektive allein, die die bürgerlichen Werte schlicht und ergreifend negiert, kein Fortschritt zu erwarten ist – und etwa Freiheit und demokratische Menschenrechte auf jeden Fall auch gegen vermeintliche Revolutionäre zu verteidigen seien. Heute wiederum ist u. a. die Ansicht verbreitet, ein Graben zwischen Theorie und Praxis dürfe überhaupt nicht zur Geltung kommen, eine Perspektive auf Emanzipation müsse immer auch die eigene Emanzipation mit meinen: Ein Begriff etwa der bürgerlichen Freiheit sei weitgehend bedeutungslos, was zählt, wäre die solidarische Lebensweise jenseits der bürgerlichen Gesellschaft bzw. in ihren Nischen.
Eine gute Idee wird nicht schlechter, wenn die ‘falsche’ Person sie denkt. Die Linke muss sich des Zustandes nicht schämen, dass sie sich weitgehend auf den moralischen Maximen der bürgerlichen Klassen ausruht, sie kann froh drüber sein. Wenn die Generationen der Erfindung des modernen Universalismus schon praktisch nichts richtig gemacht haben – welches große Menschheitsverbrechen, das von den Kants und Rousseaus, der de Toquevilles und Webers schon verhindert oder auch nur gelindert worden wäre? – so doch theoretisch: Die Forderung nach universalen Rechten wie Unverletzlichkeit des Körpers durch andere, nach Rechtsstaatlichkeit und Abwesenheit von Willkür u.v.m. können bis heute als unübertroffene Standards gelten – mit einem Haken: Sie gelten in der Praxis ganz und gar nicht universal.
Die Linke findet sich heute letztendlich in derselben Position wie vor hundert Jahren wieder: sie will nicht der Gegner, sondern der Vollstrecker der Welt der bürgerlichen Moral sein. Sie will die Versprechen der bürgerlichen Klassen nicht entlarven, sondern einlösen.
Umso gefährlicher, dass diese Funktion der Linken zunehmend unter Beschuss gerät: Die rechte Offensive gegen alles, was in den letzten Jahren an kleinen positiven Signalen zu vernehmen wahr, ist nicht nur ein unmittelbarer Angriff auf tatsächlich ins Wanken geratener Privilegien und Lebensmöglichkeiten zu lesen. Im Gegenteil verbirgt sich hinter dem offenen Sexismus, dem Rassismus und dem Hass auf alles, was nicht der heterosexuellen Norm entspricht, der sich überall in der Welt wieder mit der größten Selbstverständlichkeit in den Regierungsämtern befindet, ein offener Angriff auf diese Idee des Universalismus: Die Idee an sich, dass ein gutes Leben für alle tatsächlich denkbar, greifbar, machbar und wünschenswert ist, wird wieder angegriffen. Es wird nicht länger gemurrt, dass bei der (vermeintlichen) Implementierung des guten Lebens für alle am Ende der Geschichte durch den Spätkapitalismus hier und da einige Fehler gemacht werden; es wird sich nicht mehr länger beschwert, dass Integration zu viel koste oder dass die Überziehung der Provinzregionen der kapitalistischen Zentren mit den grundlegendsten menschlichen Verhaltensstandards die Ureinwohnerschaft vor unlösbare Lernaufgaben stellt – nein, es geht der politischen Rechten gerade heute immer den kalkulierten Bruch mit den Versprechen der Moderne an sich. Gutes Leben für alle sei nicht wünschenswert: Frauen z. B. gehören im Diskurs der Rechten nicht ins gute Leben, sondern an den Herd, und ansonsten sowieso alle Menschen angeblich am besten in das Land, aus dem ihre Vorfahren stammen, gleichgültig, ob es ihnen dort gut geht oder nicht.
Welchen Namen trägt also dieses bürgerliche Versprechen? „Universalismus“ trifft es nicht wirklich. Es geht schließlich nicht um eine universale Geltung in dem Sinne, wie ein mathematischer Satz universal gelten kann, sondern um die Bewegung, die die universalen Sätze in der Wirklichkeit geltend macht. Im Gegenteil liegt stattdessen der McCarthysche Reflex, alles, was irgendwie auf eine universale und emanzipatorische Perspektive zielt, als „kommunistisch“ zu bezeichnen, hier schon ganz richtig. Die moderne, universalistische Gesellschaft zielt dem Namen nach auf: den Kommunismus.
„Die Bourgeoisie stellt sich die Welt, worin sie herrscht, natürlich als die beste Welt vor.“ [1] – Der Marx und der Engels aus dem Manifest der kommunistischen Partei wären wohl vor Wut explodiert, hätte man ihrer Vision unterstellt, sie sei selbst eine bürgerliche. Sie lösen das Dilemma, intuitiv gegen die Bourgeoisie aber gleichzeitig für eine Ausbreitung ihres Wertesystems einstehen zu müssen, durch allerlei Tricks. Zuerst ist da das utopische Bilderverbot: Wie die bessere Gesellschaft auszusehen habe, sei sowieso noch nicht absehbar, und ob sie der bürgerlichen Welt irgendwie ähnelt, könne deswegen auch nicht Gegenstand der Diskussion sein. Zweitens gehört dazu die brachiale Zumutung an das Denken, welche der dialektische Hokuspokus darstellt: Die neue Welt sei natürlich immer nur aus den Brüchen, Gegensätzen und Widersprüchen der alten Welt zu entwickeln, nichts sei einfach so zu behalten. Es ist bemerkenswert, wie Marx so früh schon die geistige Verfassung der Dekonstruktion vorweggenommen hat: Radikale Verunsicherung, Destabilisierung des Denkens, die Hoffnung auf kreative Erneuerung, wenn man nur lange genug auf das Alte draufhaut.
„Sie wollen die Bourgeoisie ohne das Proletariat“, machen sich Marx und Engels über den so benannten konservativen Sozialismus lustig, der sich nicht sofort auf die Formung eines neuen Menschen durch die Revolution stürzen will. Und sie haben Recht, in gewisser Weise: Niemand kann sich ernstlich ein konservatives Bild von Familie, Kultur, Nation und Sexualität wünschen. Aber ihr dialektisches Denken entlarvt sich gleichzeitig immer dort als hilfloser Fimmel, wo gerade ihre heutigen Nachfolger die Gegensätze des bürgerlichen Weltbildes, das in Bewahrenswertes und Umzustoßendes zerfällt, nicht wahrhaben wollen, um lieber das gesamte bürgerliche Denken mit einem Satz ins Ungewisse über Bord werfen.
- Das philosophische Erbe der Linken
Das Problem entsteht, weil der Marx des Manifests die philosophische Denkweise seiner Vordenker nicht abgestreift hat. Das Manifest ist schließlich vor allen Dingen eine Zusammenfassung der Schriften über die Deutsche Ideologie, Die Heilige Familie und Das Elend der Philosophie, welche als Kritiken oder Polemiken gegen den Idealismus und den bürgerlichen Sozialismus konzipiert waren. Als solche beginnen sie aber nicht mit einer Frage, sondern mit Antworten. Sie gehen prinzipiell schon von einem Gegensatz von idealistischem und materialistischen Denken aus, sie sind von der Überlegenheit des Neuen schon überzeugt.
Man kann es den beiden nicht verübeln. Die Realität der deutschen Zustände in der Mitte des 19. Jahrhunderts lassen kaum eine andere Einstellung zu. Aber was bedeutet es für die Linke heute? Was ist zu tun, wenn die Proletarier heute subjektiv und wohl auch objektiv sehr viel mehr zu verlieren haben, als nur ihre Ketten, wie Marx und Engels einst meinten? Was tun, wenn der Gegensatz zwischen Realität und Gedanken zwar immer noch evident, aber nicht mehr derart einfach greifbar ist? Kann sich die Linke wirklich erlauben, mit der gleichen Hybris eine Überlegenheit ihrer materialistischen Methode zu behaupten, wenn sie in der Praxis gleichzeitig immer notgedrungener ganz und gar nicht radikal revolutionär wirkt, sondern vielmehr ihr revolutionärer Gehalt evidentermaßen als Korrektiv oder Beschleuniger in einen ansonsten stabilen, demokratisch-marktwirtschaftlich vermittelten, allzu langsamen Reformprozess eingebettet ist?
Die Antwort könnte lauten, sich nicht von der deprimierenden Weltlage beirren zu lassen, und das Problem (das „Was tun?“) selbst zum Kern der Überlegungen zu erheben. Was wir tun können, ist die Frage nach den Handlungsoptionen in dieser Weltlage selber zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Statt abstrakt und bedeutungsschwer die Idee des Kommunismus neu auszubreiten, könnte es unser Anliegen sein, ganz konkret den Weg zum guten Leben ohne Kompromisse zum Hauptproblem der Linken zu machen. Das gemeinsame Bezugsproblem der Linken ist ein praktisches, das allerdings gewaltige theoretische Ansprüche stellt.
Sich insofern nicht weiter verunsichern lassen heißt dann auch, mit dem manchmal vagen philosophischen Erbe des frühen Marx aufzuräumen, das uns keine feste Sicherheit mehr bietet. Es bedeutet, sich nicht auf die Spitzfindigkeiten á la Slavoj Zizek einzulassen, der da meint, es sei leichter, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen. Ist das denn wirklich so? Oder ist das nur die depressive Projektion einer Linken, die die konkreten Fragen aus dem Blick verloren hat? Möglicherweise haben wir es ja gar nicht verlernt, uns eine bessere Welt vorzustellen. Im Gegenteil haben wir nur vergessen, dass diese Vorstellung allein noch keine Folgen nach sich ziehen muss. Der bloße Wunsch, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen ist, ist kein Gegenstand der Linken. Er ist ihr Ziel, ihre Maxime – das ja, aber nicht ihr Mittel.
Der Marxismus nützt uns daher nicht als Philosophie der Hoffnung, sondern als eine Wissenschaft zu genau diesem Zweck. Die Rolle des Materialismus ist, der konkreten politischen Organisation mit einem Rat über die mögliche Reichweite verschiedener Handlungswege zur Seite zu stehen.
Mit dieser Einstellung im Hinterkopf wird deutlich, wie weit das, was sich gegenwärtig materialistische Theorie schimpft (den Autor selbst eingeschlossen), sich schon von dieser Aufgabe entfernt hat. Die mächtigste historische Antwort, nämlich die von Lenin, hilft uns allein nicht weiter: Seine Darstellung der Rolle und der Möglichkeiten von Politik in der modernen, spätkapitalistischen Konfiguration bleibt an wichtigen Punkten Philosophie statt Wissenschaft: Allein aus der Kritik daran, dass ein alter deutscher Mann namens Hegel die Story von der Entwicklung der Staatlichkeit der Gesellschaft als im unerbittlichen Weltgeist zusammenhängende, positive Entwicklung erzählt hat, geht nicht hervor, dass das Gegenteil der Fall ist, und es sich unweigerlich um eine Entwicklung zum Schlechten handelt. Alleine der Grund, dass es einen Hegel gibt, berechtigt nicht, ihn vom Kopf auf die Füße zu stellen, wie es schon bei Marx so schön sinnbefreit heißt.
Dabei bestand das Problem nie darin, ob diese Figur des Umdrehens, der Umstülpung oder wie auch immer sie gedacht wurde, tatsächlich funktioniert oder nicht, und auch nicht in der philologischen Frage, was Marx wirklich einmal mit dieser Formulierung gemeint haben könnte. Nein, das Problem besteht auch heute vielmehr darin, dass sich die Linke überhaupt auf diese philosophischen Taschenspielertricks einlässt. Linke Theorie hätte so viel mehr zu bieten als die vielfach gewälzten Slogans vom revolutionären Antikapitalismus. Klar, wo diese erfolgreich zur Bildung von effektiven Gruppen dienen, ohne ins Reaktionäre abzugleiten, seien sie jeder und jedem gegönnt. Aber in Zeiten, wo linke Positionen weniger und weniger Leute überzeugen wäre es eine Überlegung wert, ob das nicht daran liegt, dass die meisten Leute diese philosophischen Phrasen durchschauen und als leer erkennen.
Das ist für die Linke nichts Neues – die Herausforderung, den Menschen die sozialen Phänomene nicht nur überzeugender zu erklären, als es die Feinde der Moderne taten, sondern dabei auch noch tatsächlich objektiv recht zu haben, hat die Linke immer begleitet. Anstatt weiter die Rolle der ewig verlierenden Nervensäge zu spielen, die alles besser weiß (obwohl sie nichts schlüssig erklären kann) und allen ins Gewissen redet, um die kulturellen Mehrheitspositionen zu verschieben (was ja tatsächlich einer geradezu religiösen Praxis entspricht), stünde es der Linken gut, die Probleme, die ihren Diskurs strukturieren, offen auszubuchstabieren. Das hieße, nicht um Reform oder Revolution zu streiten, sondern klar zu kriegen, wo und warum die Welt vor dieser Alternative steht – und ob überhaupt. Die Welt bietet genügend Gelegenheit dazu.
[1] Karl Marx, Friedrich Engels [1848] (2003), Das Manifest der kommunistischen Partei, Berlin: Dietz, 64