Am 13. Januar 2017 nahm sich Mark Fisher das Leben. In der fortgeführten Reihe der bedeutenden sterbenden Persönlichkeiten nimmt sein Selbstmord eine gewisse tragische Sonderposition ein. Fisher litt Zeit seines bewussten Lebens an Depressionen und hatte sich in einer außerordentlichen Weigerungsgeste dagegen gewandt: Er schrieb gegen eine Individualisierung des gesellschaftlichen Elends an, gegen eine Kultur, die nicht zuletzt alle Aussicht auf Besserung zugunsten einer sich ständig wiederholenden und darin stillstehenden Gegenwart vernichtet. Man kommt nicht umhin, seinen Freitod auch als Niederlage dieses Widerstands aufzufassen. Als Resignation des so persönlichen Aufbegehrens, für das gilt, würde Fisher vielleicht abnicken, de te fabula narratur.
Wofür Fisher damit allerdings eintrat war kein naiver gesellschaftlicher Utopismus, sondern jener Anspruch auf eine Dursichtigkeit der Verhältnisse und darin auch des Verständnisses seiner selbst. Die Anklage gegen einen kapitalistischen Realismus oder die Hauntology chronisch depressiver Verhältnisse waren kulturkritisch vermittelte Gesellschaftstheorie, getragen von einer wütenden Scharfsinnigkeit, stark in ihrer Aufrichtigkeit, frei von Zynismus. Sein letztes Buch The Weird and the Eerie – so jung, dass es noch keine deutsche Übersetzung schaffte – ist vor diesem Hintergrund erstaunlich kulturtheoretisch, nicht ‑kritisch. Man vermisst darin die charakteristische Dimension jener gesellschaftstheoretischen Bezüge, vielleicht etwas von der kontrollierten Wut. Wenn Fisher beispielsweise für sein Projekt On Vanishing Land durch Suffolk wandert und am Felixstowe Container Port die Friedhöfe der Industrialisierung in ihrer unheimlichen Automatisierung beschreibt, reißt es ihn zu einer Anmerkung zur Finanzialisierung des Kapitalismus hin. Mehr nicht.
Aber das Fehlen der konkreten Anklage ist gewissermaßen auch Teil des Buchmotivs selbst, den Modi des Unheimlichen und Seltsamen, die Fisher von H.P. Lovecraft bis zu Christopher Nolan durchexerziert. Die Abwesenheit von etwas, das eigentlich da sein müsste – wie umgekehrt auch die Anwesenheit von etwas, das nicht da sein sollte –, ein Mangel oder Zusatz, der die Eineindeutigkeit der Erfahrungswelt erschüttert. Was Fisher damit umspielt ist nicht weniger als die vielfach verhandelte Erfahrung des Subjekts in der Moderne: die Erosion der sicheren Fundamente, der letzten Gewissheiten, der großen Erzählungen, sprich der Sicherheit mit der Welt. Diese Gedanken zu einem größeren Zusammenhang muss man sich bei der Lektüre selber machen. Aber Fisher provoziert sie, als wären die Bezüge unausgesprochen vorhanden.
In seiner Besprechung zu Rainer Werner Fassbinders Film Welt am Draht, den er als Prototyp einer fundamentalen Verunsicherungserfahrung über die Welt als solche beschreibt, findet sich dann aber ein erstaunlicher Hinweis. Die Grundverunsicherung der Welt am Draht sei ontologischer Terror. Ein Motiv, das sich als psychotische Verzerrung in Filmen wie Aronofskys Pi oder Scorseses Shutter Island wiederfindet, seine gesellschaftliche Dimension aber eher in Matrix der Wachowski Brüder entfaltet, am deutlichsten jedoch in Christopher Nolans Inception auftaucht. Besonders letzterer illustriert diese ontologische Erschütterung, dass die Welt, in der wir leben nicht real ist. Fisher benennt es zurecht als Terror, denn eine solche Unsicherheitserfahrung ist subjektiv nicht zu ertragen, weshalb sie sich zugleich in Authentizitätsphantasie flüchtet. Denn die Unwirklichkeit der Welt kann nur bedeuten, dass es auf einer ontologisch höher gelegenen Ebene eine vermeintlich echte Welt gibt. Die Möglichkeitsbedingung einer solchen Idee (wenn sie nicht einfach nur psychotisch ist), besteht darin, dass die eigene Welt selbst über einer ontologisch minderwertigen steht, dass unsere Realität also eine virtuelle Welt unter sich ordnet, die, je komplexer und echter sie wird, auf den Originalitätsstatus der Realität zurückstrahlt.
Die wirkliche Dimension des ontologischen Terrors lässt sich an dessen ikonischem Opfer Mal (Marion Cotillard) aus Inception zeigen. Die Idee von Inception basiert auf der Möglichkeit der Manipulation (bis hin zur Architektur) von Traumwelten im Bewusstsein von individuellen Subjekten, welche eine virtuelle Realität dieser Träume entstehen lässt, die sich ohne geeignete Fixpunkte nicht von der eigentlichen Realität unterscheiden lassen. Die Figuren benutzen Totems, um sich des jeweiligen ontologischen Status ihrer Bewusstseinswelt zu vergewissern, während sie durch verschiedene Level der künstlichen Traumwelten steigen. Die gezielte Manipulation des Bewusstseins auf der niedrigeren Ebene wirkt auf die höhere zurück, indem eine Inception eingepflanzt werden kann, quasi eine Idee im Unterbewusstsein. Im Falle Mals ist dies jene Vorstellung, ihre Welt sei nicht echt, also nur eine dieser untergeordneten Traumwelten. Sie geht an ihrem Zweifel an der Welt zugrunde und nimmt sich in der Überzeugung, es sei ihr einziger Weg aufzuwachen, das Leben, hoffend, sie würde damit die ontologisch primäre Ebene erreichen.
Die unbestreitbare Wahnhaftigkeit von Mals Disposition, wie sie sich dem Zuschauer vermittelt, steht in starkem Kontrast zu ihrer gefassten und rationalen psychischen Verfassung. Tatsächlich, es wäre eine Fehlinterpretation, Mals Katastrophe als individuelle Psychose zu deuten. Ihre Selbstzerstörung ist gewissermaßen eine konsequent rationale Haltung, gemessen an der antizipierten Zerstörung der Welt im ontologischen Terror. Ihr Wahn des Realitätsverlusts hat eine materielle Grundlage, nämlich die Überwindung des materiellen Status der Realität selbst. Genau deshalb läuft auch die quasiphilosophische Auseinandersetzung zwischen ihr und ihrem Ehemann Dom Cobb (Leonardo DiCaprio) ins Leere, der daran festhält zu wissen, dass er sich mit ihr bereits in der einen wirklichen Realität befindet. Sie streiten sich ausgedehnt in einer klassischen Inszenierung des philosophischen Wahrheitsstreits, der dramaturgisch dahingehend ausgebreitet wird, dass wir als Zuschauer die fundamentale Unentscheidbarkeit eines solchen Disputs vor Augen geführt bekommen. Es scheint letztlich eine verflixte Glaubensfrage, ob und was denn nun die Realität sei.
Nicht Mal noch Cobb haben einfach Recht, als sei dies rational oder deliberativ zu entscheiden. Was nicht heißen kann, dass diese Unentscheidbarkeit selbst einfach die Wahrheit sei, im Sinne einer relativistischen Haltung. Das Dilemma dieser ontologischen Unsicherheit ist nicht das Wesen des menschlichen Denkens, Bewusstseins etc., genauso wenig ist es nur die Verzerrung irgendeines Wesenskerns, eines ursprünglichen Seins. Adorno umschrieb diesen Zustand mit einem Taumel des Denkens, der einerseits jeden kritischen Impuls des Bewusstseins verbürgt, andererseits genau jene Abgründe eröffnet, in die sich die Verblendung stürzt. Dieses Dilemma ist seither das Problem der Philosophie, die sich darin je nach Gesinnungslage einpendelt, nur um wieder ins Schwingen zu geraten, elliptisch, nämlich um sich selbst. Ein Problem also, dass wir unter anderem in Inception beschrieben finden, das darin jedoch nicht begriffen ist.
Fishers ontologischer Terror ist gerade ein Versuch, diesen Zusammenhang zu begreifen. Er rührt an den Kern jener Disposition des Subjekts, das sich nur mehr in einer idealistischen Selbstreferenz umkreist, dem die Welt verlustig wurde und nur noch die Introspektion zugänglich ist, aus der sich eine naive Authentizitätssehnsucht nach der echten Welt entspinnt. Es gab für diesen Zustand einmal den analytischen Begriff der Entfremdung, ein Weltverhältnis der umfassenden Verdinglichung, in dem sich die darin affizierte Angst und der Hass auf die verzweifelnden Subjekte selbst richtet. Die Selbsttötung Mals, ebenso wie die Fishers, bezeugt so eine neue Qualität dieser vermeintlich obsolet gewordenen Analyse, welche die Zeichen des von Foucault beschriebenen, aber nicht verstandenen, Zeitalters der Selbstregierung trägt. Anders als beispielsweise Rahel Jaeggi es versucht, eine solche Diagnose in der Wohlfühltemperatur der Sozialphilosophie noch einmal anzurichten – als nicht gelingendes Weltverhältnis –, spielt die Drastik des Terrorbegriffs hier eine entscheidende Rolle. Der Weltverlust, der den Wahn bedingt, ist gewaltsame Enteignung.
Die verunsicherten Subjekte, jene Abgehängten, die wohl Trumps Wahlerfolg ebneten, die Allianz aus Verschwörungstheoretikern, Rechtsnationalisten, den selbsternannten Rettern des Abendlandes, die die Lügenpresse oder Fake News geißeln, sich aus affektiven Neigungen ein Weltbild zimmern, das liberale Gejammer über postfaktische Verhältnisse, dies alles sind Symptome eines ontologischen Terrors. Das Problematische darin, der Terror, liegt in der Verdinglichung der grundlegenden Veränderbarkeit der Verhältnisse, die entsprechend entfremdet als Unsicherheit wahrgenommen werden müssen, gegen die es sich mit Zementierung zu wehren gilt. Genau jene Abdichtung aber bezeugt den Wahn, der die eigentliche Qualität des Phänomens verkennt. Marx hatte für jene, sagen wir, terroristische Dimension des Kapitalismus anerkennende Worte, als er die permanente Selbstrevolutionierung der kapitalistischen Verhältnisse bewunderte, die es zugleich erst ermöglichte, die Zusammensetzung der gleichen zu verstehen. Die Geschichte wurde darin erkennbar und motivierte überhaupt erst ein Unterfangen in der Größenordnung materialistischer Gesellschaftstheorie.
Marx’ Kapitalbegriff ist gewissermaßen die Fassung jenes Zustands ontologischer Verflüchtigung, die sich eine Welt nach ihrem Vorbild schafft, in der die Äquivalenz eines sich ausdehnenden Marktes den Dingen erst eine virtuelle Qualität verschafft, bis sich diese Virtualität schließlich vollkommen von ihrer Referenz zur Wirklichkeit entledigt. Es liefert zugleich den entscheidenden Hinweis, was die geschichtliche Veränderung der menschlichen Gesellschaft als Emanzipation von einem als Terror wahrgenommenen Phänomen unterscheidet. Es ist genau jene Fähigkeit, die Subjektivität (die eigene zum Beispiel) in einem Verhältnis zu den Verhältnissen zu erkennen. Als individuelle Disposition ist eine solche Unsicherheit schwerlich zu ertragen und kaum verwunderlich, wie sie wahnhafte Resultate zeitigt. Der Kampf, der dagegen geführt werden muss, ist jene Wiederaneignung der gesellschaftlichen Fähigkeit zur Einrichtung der Verhältnisse (der Kern also des Entfremdungsbegriffs), der immer die theoretische Durchdringung der Verhältnisse vorausgehen muss. Sind sie nicht durchdringbar, so müssen sie jener Terror sein, der vergessen macht: Es sind die Geister, die wir riefen. Mark Fisher wusste das.
von Alex Struwe