Was soll Theorie leisten?

Auf einem sehr grund­le­gen­den Niveau ist Theo­rie banal. Sie ist jene Sys­te­ma­tik, vor deren Hin­ter­grund zusam­men­hän­gen­de Annah­men über Gegen­stän­de erst mög­lich wer­den. Eine ganz ein­fa­che Ope­ra­ti­on der Abs­trak­ti­on, die es ermög­licht, nicht vor jedem Phä­no­men wie vor einer Offen­ba­rung zu ste­hen. In genau die­ser sys­te­ma­ti­sie­ren­den Funk­ti­on ist sie Mit­tel der Wahl zur Welt­erklä­rung. Dabei ist das Abs­trak­ti­ons­ni­veau jedoch bedeu­tend höher als in der All­tags­theo­rie und erzeugt ent­spre­chend ein grund­le­gen­des Pro­blem. Führt die Abs­trak­ti­on dort­hin, dass sie gewis­ser­ma­ßen blind wird für ihren kon­kre­ten Gegen­stand, ist sie nur lee­rer Begriff. Die­se Ten­denz ist das, was Marx als Idea­lis­mus brand­mark­te und dem eine mate­ria­lis­ti­sche Anschau­ung ent­ge­gen­set­ze, aus der sich min­des­tens eine 100 Jah­re wäh­ren­de Tra­di­ti­on der Aus­ein­an­der­set­zung um das Ver­hält­nis von Abs­trak­ti­on und Kon­kre­ti­on entspann.

Im Fal­le der Gesell­schafts­theo­rie ist es mitt­ler­wei­le ein All­ge­mein­platz, dass die theo­re­ti­sche Erkennt­nis der Gesell­schaft sich auf die Aner­ken­nung ihrer Über­kom­ple­xi­tät beschränkt. Die Zeit der gro­ßen Theo­rie ist vor­bei. Wie bei­spiels­wei­se Ter­ry Eagle­ton resü­miert, ist das sin­ken­de Ska­len­ni­veau der Theo­rie­bil­dung selbst­ver­ständ­lich Refle­xi­on eines gesell­schaft­li­chen Wan­dels,[1] einer Ver­än­de­rung, wie Klu­ge und Negt sagen wür­den, der Maß­ver­hält­nis­se des Poli­ti­schen, dem Ende der gro­ßen Erzäh­lun­gen. Das mag sein, aber es benennt ledig­lich eine Ent­wick­lung, womit sich nicht auto­ma­tisch der Sta­tus der Theo­rie klärt, ihr Anspruch, ihre Leis­tungs­fä­hig­keit und ihre Auf­ga­be. Dar­in zeigt sich auch, dass es nicht ein­fach nur ein geschei­ter­tes Abs­trak­ti­ons­ver­hält­nis ist, das den Zustand der Theo­rie bestimmt. Damit zusam­men­hän­gend drückt sich min­des­tens das pro­ble­ma­ti­sche Ver­hält­nis der Theo­rie zur gesell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit aus, das sich nicht zuletzt bei den Sub­jek­ten selbst in deren Den­ken niederschlägt.

 

Theo­rie­pro­ble­me

 

Es kann, gera­de in der Rück­bin­dung an ihre Ent­wick­lung, pro­ble­ma­ti­siert wer­den, in wel­chem Zustand sich die Theo­rie gera­de befin­det. Dafür schla­ge ich drei grund­le­gen­de Pro­ble­me der Theo­rie­bil­dung vor, die sich gera­de des­halb erge­ben, weil sie den Kern der Auf­ga­be der Gesell­schafts­theo­rie betreffen:

Uni­ver­sa­lis­mus – Abs­trak­ti­on ist nicht nur Mit­tel der Theo­rie, son­dern zugleich deren größ­tes Pro­blem. Es gibt unzäh­li­ge Benen­nun­gen die­ser poten­ti­el­len Ver­feh­lung: Theo­re­ti­zis­mus, Idea­lis­mus, Reduk­tio­nis­mus, Deter­mi­nis­mus, Meta­phy­sik etc. Eine Spiel­art der Aus­ein­an­der­set­zung um die­ses Pro­blem beschreibt der Theo­rie-Pra­xis-Nexus, der vor allem für eine gesell­schaft­li­che Lin­ke immer wie­der Anlass zu Ver­wer­fun­gen ist. Die Aus­ein­an­der­set­zung um das Maß an Abs­trak­ti­on betrifft epis­te­mo­lo­gisch direkt die Erkennt­nis­fä­hig­keit der Theo­rie, onto­lo­gisch ihre Aner­ken­nung einer gesell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit, die Gegen­stand der Erkennt­nis sein soll.

Praktischer/politischer Auf­trag – Damit zusam­men­hän­gend ist die Fra­ge nach dem prak­ti­schen Sta­tus der Theo­rie selbst und ihrer Rol­le als Erkennt­nis­in­stru­ment. Ein eman­zi­pa­to­ri­scher Anspruch bedeu­tet die erken­nen­de Kri­tik der bestehen­den Ver­hält­nis­se, um die­se ver­än­dern zu kön­nen. Dabei wird die­se Fra­ge in den letz­ten Jahr­zehn­ten oft auf den nor­ma­ti­ven Sta­tus der Theo­rie ver­engt und in der Annah­me, Theo­rie sei immer sub­jek­tiv beschränkt, von ihr Rechen­schaft gegen­über ihrem vor­ein­ge­nom­me­nen Blick­win­kel ver­langt. Aber eben nicht, um sie an ihre Rich­tig­keit zu ver­wei­sen, son­dern um sie zu rela­ti­vie­ren. Fra­gen um den Objek­ti­vi­täts­an­spruch der Theo­rie wer­den vor die­sem Hin­ter­grund kaum mehr arti­ku­lier­bar, was zugleich als deren poli­ti­scher Cha­rak­ter im Sin­ne eines for­ma­len demo­kra­ti­schen Neben­ein­an­ders miss­ver­stan­den wird.

Selbst­re­fle­xi­on des den­ken­den Bewusst­seins – Dies bezeugt aber das drit­te Pro­blem und zugleich Anlie­gen der Theo­rie: Ihre Fähig­keit, die Pro­duk­te ihrer eige­nen Sys­te­ma­tik an jene Instanz zu ver­mit­teln, die sie prä­gen. Ver­kürzt fin­det die­se Pro­ble­ma­tik Ein­gang in sub­jekt­theo­re­ti­schen Über­le­gun­gen der letz­ten Jahr­zehn­te, ist aber eigent­lich Gegen­stand der Ideo­lo­gie­theo­rie. Die Auf­ga­be, das Den­ken müs­se gegen­über sei­ner Ver­qui­ckung inner­halb der gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se Rechen­schaft able­gen galt damit als Ata­vis­mus, bezeugt aber sei­ne Dring­lich­keit in der intel­lek­tu­el­len Hilf­lo­sig­keit gegen die gesell­schaft­li­che Regression.

 

Theo­rie­zu­stän­de

 

Der pro­ble­ma­ti­sche Zustand der Gesell­schafts­theo­rie lässt sich ent­spre­chend die­ser drei Pro­blem­la­gen kenn­zeich­nen als eine Begren­zung der theo­re­ti­schen Reich­wei­te, die Ent­kopp­lung der Theo­rie von der gesell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit und die Ten­denz zur idea­lis­ti­schen Selbst­re­fe­renz. Selbst­ver­ständ­lich sind die­se Phä­no­me­ne eng gekop­pelt, auch wenn sie in ihrer dis­zi­pli­nä­ren Auf­glie­de­rung in Sozi­al­theo­rie, poli­ti­scher Theo­rie und Sub­jekt­theo­rie sowie zudem noch in Gegen­stän­de ver­schie­de­ner Sozi­al­wis­sen­schaf­ten zer­fal­len. Es han­delt sich schlicht um einen sym­pto­ma­ti­schen Zusam­men­hang, der sich schon allein aus dem Unter­fan­gen der Gesell­schafts­theo­rie herstellt.

Einer sym­pto­ma­ti­schen Dia­gno­se ent­spre­chend prägt die Theo­rie­land­schaft ein Zustand laten­ter Depres­si­on. Etwa ana­log zur Dia­gno­se von Mark Fisher, Pop­kul­tur habe ihren visio­nä­ren Cha­rak­ter­zug zuguns­ten einer bestän­di­gen Repro­duk­ti­on der immer glei­chen nost­al­gi­schen Ver­satz­stü­cke ein­ge­büßt, lässt sich eine ver­gleich­ba­re Apa­thie der Theo­rie fest­stel­len. Zu die­ser gehört eine gewis­se Ambi­va­lenz zwi­schen einer mani­schen Über­pro­duk­ti­on und einer resi­gna­ti­ven Erstar­rung. Einer­seits sind der Buch­markt und die Feuil­le­tons voll mit Kri­sen­dia­gno­sen, Ana­ly­sen zum Schei­tern des Kapi­ta­lis­mus und der gesell­schaft­li­chen Regres­si­on, mit Per­spek­tiv­über­le­gun­gen und Mani­fes­ten. Zugleich rich­tet sich die Theo­rie in ihrer eige­nen Musea­li­sie­rung zur aku­ten Bedeu­tungs­lo­sig­keit ein. Unab­hän­gig wie prä­sent sie wie­der zu sein scheint, hat sie wenig mehr zu bie­ten als dekon­tex­tua­li­sier­te Wür­di­gun­gen iso­lier­ter Denk­ge­bäu­de – Marx als Klas­si­ker der Sozio­lo­gie, Phi­lo­so­phie etc., die intel­lek­tu­el­le Vari­an­te der bür­ger­lich-revo­lu­ti­ons­ro­man­ti­schen Kitsch­ver­fil­mung eines jun­gen Marx –, Inno­va­tio­nen im Jar­gon zur Beschrei­bung von Gesell­schaft oder die Ver­kür­zung von Theo­rie auf Phra­sen und Marxzitate.

Man könn­te mei­nen, die­se Erstar­rung sei Aus­druck einer Erkennt­nis­sät­ti­gung, ähn­lich wie Died­rich Diede­rich­sen in einem Inter­view bei­läu­fig fest­stell­te, dass von lin­ker Sei­te bereits alles gesagt sei, dass der auf­klä­re­ri­sche Impuls sich gewis­ser­ma­ßen im end­lo­sen Debat­ten­mo­dus ver­aus­gabt habe.[2] Die aktu­el­le Publi­ka­ti­ons­wel­le kön­ne dann die­sen Wie­der­ho­lungs­ges­tus der fes­ten Erkennt­nis­se bedie­nen, immer wie­der auf die wich­ti­gen Zusam­men­hän­ge hin­wei­sen, bis sie end­lich Durch­schlags­kraft ent­fal­ten wür­den. Die dar­in anti­zi­pier­te, ver­meint­li­che Spit­ze der eman­zi­pa­to­ri­schen Erkennt­nis, die dar­an schei­te­re, dass sie ein­fach nur nicht gewür­digt wer­de, steht jedoch in schar­fem Kon­trast zu der poli­ti­schen Mar­gi­na­li­sie­rung der gesell­schaft­li­chen Lin­ken sowie der selt­sa­men Erkennt­nis­lo­sig­keit der vor­lie­gen­den Analysen.

Von Depres­si­on zu spre­chen soll aber viel­mehr die tra­gi­sche Abwe­sen­heit jener Erkennt­nis­fä­hig­keit anzei­gen, die sich sich in den ver­schie­de­nen Dimen­sio­nen der Theo­rie her­ge­stellt hat und die theo­re­tisch selbst unbe­ar­bei­tet bleibt. All die Zeit ist ver­gan­gen und die Theo­rie besitzt immer noch nicht die Reich­wei­te, die Rea­li­tät, die Selbst­er­kennt­nis. Und es bleibt kaum ein ande­rer Weg als der in die nar­ziss­ti­sche Neu­ro­se, die man nicht nur bei ein­zel­nen Theo­rie­ver­tre­te­rIn­nen fin­den kann, son­dern die sich auch in der Theo­rie im All­ge­mei­nen aus­bil­det. Der aka­de­mi­sche Betrieb, der die Theo­rie­pro­duk­ti­on größ­ten­teils beher­bergt, ist geprägt von einem stän­di­gen Inno­va­ti­ons­druck mit ent­spre­chen­der Wett­be­werbs­dy­na­mik für die bis an die unte­ren Gren­zen der Pre­ka­ri­tät gedräng­ten Wis­sen­schafts­sub­jek­te. Man muss nur ein­mal auf einer wis­sen­schaft­li­chen Tagung jene Wohl­fühl­at­mo­sphä­re mit einer Nach­fra­ge zur rea­len Rele­vanz der vor­ge­stell­ten For­schungs­pro­jek­te antas­ten, um zu bemer­ken, wie viel Krän­kung und Abwehr gegen die glei­che in der Theo­rie­ar­beit ver­quickt ist.

Iden­ti­fi­ziert man die Belang­lo­sig­keit der Arbeit – für das gemein­hin das Güte­sie­gel inter­es­sant ver­lie­hen wird – als eine Art Über­le­bens­stra­te­gie inner­halb der poli­ti­schen Öko­no­mie der Uni­ver­si­tät, so ist es wenig ver­wun­der­lich, dass die Pro­duk­ti­ons­be­din­gun­gen der­glei­chen repro­du­ziert wer­den müs­sen, was sich real mit jedem neu­en Exzel­lenz­clus­ter und Gra­du­ier­ten­kol­leg mit inter­dis­zi­pli­nä­rem Hang zum kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen Non­sens voll­zieht, mit jedem Kopf­schüt­teln über den befremd­li­chen Erkennt­nis­an­spruch des Mar­xis­mus. Die Bana­li­tät jener hip­pen Kul­tur­for­schung, die sich einen sub­ver­si­ven Anstrich mit­tels einer infla­tio­nä­ren Poli­ti­sie­rung aller ihrer Gegen­stän­de ver­leiht – was, wie Micha­el Hirsch fest­stellt, tat­säch­lich nur der Ästhe­ti­sie­rung der Poli­tik gleich­kommt[3] –, und die Phra­sen­ge­bets­müh­le undog­ma­tisch lin­ker Theo­rie sind nur die zwei Sei­ten der­sel­ben Medail­le jenes Zustands der Theo­rie, über den sie selbst kei­ne Aus­kunft geben zu kön­nen scheint.

 

Was (soll Theo­rie) tun?

 

Das blo­ße Anlie­gen einer Pro­ble­ma­ti­sie­rung der Gesell­schafts­theo­rie muss klar­stel­len, dass die­se nicht zum Selbst­zweck betrach­tet wird. Es geht weder um die Selbst­er­hal­tung einer im Ver­schwin­den bedroh­ten Dis­zi­plin, noch um den nost­al­gi­schen Reflex eines Vul­gär­mar­xis­mus. Tat­säch­lich, damit eine Kri­tik nicht zum Jam­mern ver­kommt, liegt dem die berech­tig­te Annah­me zugrun­de, es gibt ein rea­les Pro­blem, auf das Gesell­schafts­theo­rie die Ant­wort ist. Genau­ge­nom­men trans­por­tiert sich im der­zei­ti­gen Zustand der Theo­rie das Ein­ge­ständ­nis an die Ver­feh­lung der Theo­rie in ihrer eige­nen Auf­ga­be. Die­se ist: die wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis der Gesellschaft.

Die wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis der Gesell­schaft, ihr Objekt­be­reich, deu­tet auf einen Tota­li­täts­be­griff hin, der sich his­to­risch in dem Dilem­ma zwi­schen Not­wen­dig­keit und Unmög­lich­keit ein­ge­rich­tet zu haben scheint. Schon der Begriff der Gesell­schaft mar­kiert aber die Annah­me eines kohä­ren­ten Zusam­men­hangs der dis­pa­ra­ten Ein­zel­phä­no­me­ne, der vor der his­to­ri­schen Ver­än­der­bar­keit und Ver­än­de­rung der sozia­len Rea­li­tät Rechen­schaft able­gen muss. Theo­rie, im Sin­ne der sys­te­ma­ti­schen Durch­drin­gung des Bestehen­den, kann sich nicht in der Fest­stel­lung der Ver­än­de­rung erschöp­fen, sie muss viel­mehr auf die Erklä­rung der spe­zi­fi­schen Ver­än­de­rung abzielen.

Die wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis der Gesell­schaft bedeu­tet zudem eine Spe­zi­fik der Erkennt­nis. Als wis­sen­schaft­lich qua­li­fi­ziert, muss sie Objek­ti­vi­tät genü­gen, die sich gera­de vor dem Hin­ter­grund einer onto­lo­gi­schen Kon­tin­gen­z­an­nah­me des Sozia­len immer schwe­rer umrei­ßen lässt. Die Idee, dass die his­to­ri­sche Ver­än­der­bar­keit der Gesell­schaft deren fun­da­men­ta­le Sub­stanz­lo­sig­keit bezeu­gen soll, muss zuguns­ten einer Erkennt­nis des Bestehen­den zurück­ge­wie­sen wer­den. Zu bele­gen, dass dies nicht gleich­be­deu­tend ist mit einem Fun­da­men­ta­lis­mus, anthro­po­lo­gi­schen Set­zun­gen, Essen­tia­lis­mus etc., ist nicht die ers­te Pflicht einer wis­sen­schaft­li­chen Theo­rie, die sich in sol­cher­lei Beteue­rung und Abwehr nur bis zum intel­lek­tu­el­len Ver­lie­rer erschöpft.

Die wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis der Gesell­schaft ver­weist zuletzt auf den dis­tink­ten Zusam­men­hang zwi­schen der Annah­me einer bestimm­ten sozia­len Rea­li­tät und der kor­re­spon­die­ren­den Bear­bei­tung die­ser als Erkennt­nis­ob­jekt. Auch dies bedeu­tet nicht die Fan­ta­sie einer Deckungs­gleich­heit von Erkennt­nis­ob­jekt und Real­ob­jekt, son­dern ledig­lich deren kohä­ren­tes Ver­hält­nis, wel­ches wie­der­um nur über die Annah­me eines geteil­ten gesell­schaft­li­chen Zusam­men­hangs ver­bind­lich her­zu­stel­len ist, sprich eine Totalitätsannahme.

 

Damit sind drei Ele­men­te einer Theo­rie der Gesell­schaft ange­zeigt, die sich der genui­nen theo­re­ti­schen Auf­ga­be jen­seits der zeit­ge­nös­si­schen Selbst­be­schrän­kun­gen stel­len kann. Eine sol­che Theo­rie bedarf eines Tota­li­täts­be­griffs, des­sen His­to­ri­sie­rung sowie, als ent­schei­den­dem Moment, eines Deter­mi­na­ti­ons­be­griffs. Dass die­se Ele­men­te gleich­zei­tig die gro­ßen Errun­gen­schaf­ten mate­ria­lis­ti­scher Theo­rie­bil­dung dar­stel­len, soll nicht der rück­wir­ken­den Glo­ri­fi­zie­rung die­nen, son­dern der rea­len Pro­ble­mer­kennt­nis, dass es bereits die Tra­di­ti­on einer Bemü­hung um jene gesell­schafts­theo­re­ti­sche Auf­ga­be gab, deren Ergeb­nis­se bis heu­te unein­ge­holt blei­ben. Zumal es wenig von dem Ver­such zu erken­nen gibt, die­ses Erkennt­nis­ni­veau ein­zu­ho­len, viel­mehr nur es ins­ge­samt zu verwerfen.

Stün­de dabei nur eine phi­lo­so­phi­sche Geschmacks­fra­ge auf dem Spiel, ein intel­lek­tu­el­les Kräf­te­mes­sen, so wäre getrost auf der­lei Hin­wei­se zu ver­zich­ten. So es aber um eine gesell­schaft­lich rele­van­te Auf­ga­be geht, kön­nen die Defi­zi­te der­zei­ti­ger Theo­rie­bil­dung nicht ein­fach hin­ge­nom­men wer­den. Gleich­zei­tig erweist sich die kri­ti­sche Kon­fron­ta­ti­on mit ande­ren Theo­rie­an­ge­bo­ten auf genau die­ser Ebe­ne als abso­lut nicht zweck­dien­lich. Dezi­diert nicht-mate­ria­lis­ti­scher Theo­rie­bil­dung ist schwer­lich über­zeu­gend vor­zu­wer­fen, dass sie nicht mate­ria­lis­tisch ist. Es bleibt daher die Fra­ge, ob sich jenen Gesell­schafts­theo­rien, die sich prak­tisch nur in ihrem Schei­tern oder ihrer Belang­lo­sig­keit bewei­sen, eine in die­sem Sin­ne bes­se­re Theo­rie­bil­dung in der Pra­xis gegen­über­stel­len muss, die sich nicht um die Aner­ken­nung kon­kur­rie­ren­der Theo­rie­an­ge­bo­te schert.

 

von Alex Struwe

 

[1] Vgl. Eagle­ton, Ter­ry 2003: After Theo­ry. New York: Basic Books, 15.

[2] Vgl. Diede­rich­sen, Died­rich 2016: „Heu­te sind viel mehr Leu­te als ‚Rech­te‘ out“. In: Jung­le World 25/2016, URL: http://jungle-world.com/artikel/2016/25/54310.html.

[3] Vgl. Hirsch, Micha­el 2015: Logik der Unter­schei­dung. Zehn The­sen zu Kunst und Poli­tik. Ham­burg: Tex­tem, 10.

Ein Kommentar

  1. Der Rei­he nach:

    1. “Die­se Ten­denz [zur abs­trak­ten Theo­rie ohne Gegen­stands­be­zug] ist das, was Marx als Idea­lis­mus brand­mark­te und dem eine mate­ria­lis­ti­sche Anschau­ung entgegensetze”.

    Wo? Ich den­ke, gemeint sind die Feu­er­bach­the­sen. Doch ist es wirk­lich die Gei­ße­lung der Abs­trak­ti­on, die dort pas­siert? Und wenn es so ist, müss­te sich dann 150 Jah­re spä­ter die­ser Zusam­men­hang nicht anders und bes­ser, ohne Rekur­rie­ren auf die Auto­ri­tät von Marx rekon­stru­ie­ren las­sen? Wäre das nicht viel wis­sen­schaft­li­cher, als die Traditionspflege?

    2. “Die Zeit der gro­ßen Theo­rie ist vor­bei.” Ich glau­be, die­ses State­ment ist in sei­ner Unge­nau­ig­keit nicht ganz rich­tig. Die Theo­rien sind heu­te grö­ßer und aus­schwei­fen­der als zuvor, und es sind ihrer mehr an der Zahl. Viel eher vor­bei ist die Zeit des bewuss­ten Zusam­men­hangs von Theo­rie und Poli­tik. Theo­rie muss imple­men­tiert wer­den, um Sinn zu haben. Das gefällt den Theo­re­ti­kern von heu­te natür­lich nicht, weil sie weder Inter­es­se dar­an haben, imple­men­tiert zu wer­den noch ihre Theo­rien im erns­ten dazu bereit wären. Was wäre das für eine Welt, in der ernst­haft ein Zizek imple­men­tiert wer­den würde? 

    3. Die Ver­bin­dung von Uni­ver­sa­lis­mus und Abs­trak­ti­on ist nicht klar dargestellt. 

    4. Theo­rie ist kein Erkennt­nis­in­stru­ment. Eine bestimm­te Theo­rie kann ein Instru­ment dafür sein, ein bestimm­tes Phä­no­men zu erken­nen, aber Theo­rie im unbe­stimm­ten Sin­gu­lar hat kei­ne beson­de­re Bedeu­tung. Bzw. genau­er aus­ge­drückt: Es lässt sich Geschich­te wohl so dar­stel­len, als gäbe es Theo­rie an sich. Was soll­te aber damit aus­ge­drückt sein als eine abs­trak­te Hoff­nung auf das gute Leben, dass durch Theo­rie (irgend­ei­ne Theo­rie) irgend­wie erreicht wer­den soll. Das ist unspe­zi­fisch, zu unspe­zi­fisch für die Gegen­wart. Theo­rie kann, aber soll­te nicht in die­sem Sin­gu­lar benutzt werden.

    Kenn­zeich­nend für die­ses Pro­blem ist auch die Exis­tenz eines Stu­di­en­gan­ges namens “Poli­ti­sche Theo­rie”. Was damit ja ganz effek­tiv gemeint ist, ist ein Stu­di­um über ver­schie­de­ne Theo­rien im Plu­ral, die, rela­tiv frei wähl­bar, kom­bi­niert wer­den kön­nen und jeweils rela­tiv belie­big irgend­was mit Poli­tik zu tun haben. Mit “Poli­ti­sche Theo­rie” ist ja kei­nes­wegs — lei­der — die EINE Theo­rie DER Poli­tik gemeint, ist nie gemeint, wel­chen evo­lu­tio­nä­ren Sinn Poli­tik in der Mensch­heit hat, an wel­chem Punkt sie ent­steht, war­um, und wie sich die­se Ent­ste­hung zu den Pro­ble­men der Lebens­art der Men­schen verhält. 

    5. Die Selbst­re­fle­xi­on ist zwar ein Güte­kri­te­ri­um an die Theo­rie, führt an sich aber auch nir­gend­wo­hin außer zu dem guten Gefühl, mehr recht zu haben.

    6. “Der pro­ble­ma­ti­sche Zustand der Gesell­schafts­theo­rie lässt sich ent­spre­chend die­ser drei Pro­blem­la­gen kenn­zeich­nen als eine Begren­zung der theo­re­ti­schen Reich­wei­te, die Ent­kopp­lung der Theo­rie von der gesell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit und die Ten­denz zur idea­lis­ti­schen Selbst­re­fe­renz. ” Das trifft zwei­fel­los zu. Die­se Dia­gno­se erlöst aber nicht davon, zu recht­fer­ti­gen, war­um mensch den­noch an der Gesell­schafts­theo­rie fest­hält. Was wäre bes­ser, wenn die Gesell­schafts­theo­rie heu­te eine uni­ver­sa­le Reich­wei­te, eine strik­te gesell­schafts­po­li­ti­sche Wir­kung und eine nicht-idea­lis­ti­sche, begrün­de­te Epis­te­mo­lo­gie vor­wei­sen könn­te? Und wenn etwas bes­ser wäre: Wie ist die­ser Zustand zu erreichen?

    7. Die Apa­thie, die Depres­si­on, der Kitsch (doch, Depres­si­on und Kitsch geht zusam­men, schon­mal lin­ken Rap gehört?) — drei abso­lut rich­ti­ge Dia­gno­sen. Den­noch: kein Ver­ge­ben, denn: Obwohl sie es nicht böse mei­nen, neh­men die meis­ten doch wis­sent­lich eine Ver­stop­fung der Kanä­le bil­li­gend in Kauf. Jede Nie­der­la­ge wird zu einem Sieg erklärt, jeder Moment des Inne­hal­tens vor der Macht­lo­sig­keit wird mit einem neu­en Band aus der Biblio­thek des Wider­stands zer­bombt, jede ver­geig­te Demo noch mit Durch­hal­te­pa­ro­len zuge­tex­tet, war­um der Sieg nicht mehr weit sein kann. Die Theo­rie, so wie sie ist, ist damit lei­der auch nicht belang­los oder wir­kungs­los. Nur, sie zeigt kei­ner befrie­di­gen­den Wir­kun­gen, und wenn sie das tut, nur zu hohem Preis.

    8. “Das blo­ße Anlie­gen einer Pro­ble­ma­ti­sie­rung der Gesell­schafts­theo­rie muss klar­stel­len, dass die­se nicht zum Selbst­zweck betrach­tet wird.” Rea­lis­tisch betrach­tet ist es unwahr­schein­lich, dass es zu so einer sol­chen Selbst­dis­zi­pli­nie­rung kommt. Empi­risch ist sogar das Gegen­teil zu beob­ach­ten: Regel­mä­ßig wer­den einst­mals sehr erns­te lin­ke Leu­te gna­den­los in den Appa­rat der Theo­rie hin­ein­ge­mah­len, die sub­ver­si­ven Effek­te oder die Erkennt­nis­se sind mini­mal. Die poli­ti­sche Her­aus­for­de­rung braucht eine wis­sen­schaft­li­che Wen­dung, das ja, aber die­se kann schein­bar nur expli­zit gegen die Wis­sen­schaft erkämpft wer­den. Die Mes­sung der bür­ger­li­chen Gesell­schaft an ihrem eige­nen Begriff, wie das so schön heißt, ist abgefahren.

    9. Die Ver­tei­di­gung des Ver­suchs zu objek­ti­ver Erkennt­nis gegen Vor­wür­fe des Fun­da­men­ta­lis­mus ist rich­tig, aber schwach. Die Abwe­sen­heit von Schmerz, ein gutes Leben, Respekt vor dem Sub­jekt, Men­schen­recht, ja, alle die­se Sachen sind anthro­po­lo­gi­sche Set­zun­gen, die sich nicht wei­ter logisch bewei­sen las­sen. Der Fakt, dass sie erst im Kapi­ta­lis­mus zumin­dest rhe­to­risch als Uni­ver­sal gesetzt wer­den, bedeu­tet nicht, dass gera­de die­se Set­zung einer kom­mu­nis­ti­schen Kri­tik aus­ge­setzt wer­den muss. Der Kom­mu­nis­mus nimmt man­che sei­ne Idea­le aus der bür­ger­li­chen Gesell­schaft, so what? Es ist nicht so, als wüss­ten wir nicht die guten (z.B. Frei­heit) von den schlech­ten (z.B. Fami­lie) Idea­len zu unterscheiden.

    10. “Damit sind drei Ele­men­te einer Theo­rie der Gesell­schaft ange­zeigt, die sich der genui­nen theo­re­ti­schen Auf­ga­be jen­seits der zeit­ge­nös­si­schen Selbst­be­schrän­kun­gen stel­len kann. Eine sol­che Theo­rie bedarf eines Tota­li­täts­be­griffs, des­sen His­to­ri­sie­rung sowie, als ent­schei­den­dem Moment, eines Deter­mi­na­ti­ons­be­griffs.” Ja und nein. Ja, das liegt nahe. Aber nein, es reicht nicht, den schlech­ten Zustand der Gesell­schafts­theo­rie zu beschrei­ben, und ihr dann das Gegen­teil zu ver­ord­nen. Sonst ist mensch wie­der genau bei Feu­er­bach ange­langt: Die Kri­tik des Fal­schen führt zum Rich­ti­gen, die Kri­tik des reli­giö­sen Gemüts führt zum wirk­li­chen Gemüt. Das scheint nicht rich­tig zu sein.

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