Foucault und der Neoliberalismus

Michel Fou­caults sozi­al­wis­sen­schaft­li­cher Ein­fluss ist immens und unbe­strit­ten, so sehr, dass dahin­ter schnell ver­schwin­det, wel­chen Bären­dienst sein Wir­ken einer kri­ti­schen Sozi­al­theo­rie eigent­lich auf­ge­bür­det hat. Vie­le Aspek­te sei­nes Den­kens haben sich zu einer Art theo­re­ti­schem Hori­zont ver­ste­tigt, was es umso schwe­rer und zugleich not­wen­di­ger macht, sie herauszufordern.

Eine sol­che Her­aus­for­de­rung will auch der Sam­mel­band zu Fou­caults Ver­hält­nis zum Neo­li­be­ra­lis­mus dar­stel­len. Die­ser erschien zunächst 2014 auf Fran­zö­sisch und lös­te, ver­län­gert über ein Inter­view im Jaco­bin Maga­zin, eine Debat­te unter lei­den­schaft­li­chen Fou­caul­tia­nern aus, jedoch eher auf dem Niveau eines rela­tiv bana­len Schlag­ab­tauschs. Denn es ist banal, Fou­cault ledig­lich als neo­li­be­ra­len Apo­lo­ge­ten ent­tar­nen zu wol­len, so wie es banal ist, die­sen Vor­wurf mit dem Ver­weis auf die Über­kom­ple­xi­tät sei­nes Wer­kes zu ent­kräf­ten. Wich­ti­ger als eine pole­mi­sche Denun­zia­ti­on Fou­caults ist die Ana­ly­se sei­ner Sym­pto­ma­tik, inwie­fern also die Spe­zi­fik sei­ner Theo­rie­bil­dung, deren Inkon­sis­ten­zen sich den Autoren zufol­ge an sei­nem Ver­hält­nis zum Neo­li­be­ra­lis­mus erar­bei­ten lie­ßen, über sei­ne intel­lek­tu­el­le Bio­gra­phie hin­aus­geht und Auf­schluss über die gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung gibt. So gele­sen, wie Dani­el Zamo­ra in der kur­zen Ein­lei­tung fest­hält, drückt Fou­caults spä­te Hin­wen­dung zu libe­ra­len Ideen und deren Radi­ka­li­sie­run­gen eher eine Genera­tio­nen­er­fah­rung nach 1968, deren Des­il­lu­sio­nie­rung vom Mar­xis­mus und eine geschei­ter­te Suche nach pro­gres­si­ven Alter­na­ti­ven aus (3).

Das dif­fu­se Schlag­wort Neo­li­be­ra­lis­mus fun­giert daher eher als Klam­mer ver­schie­de­ner Eck­punk­te, die sich in Fou­caults Werk ver­dich­ten. Da ist zuerst Fou­caults Nähe zu den Neu­en Phi­lo­so­phen, die Micha­el Scott Christoff­er­sen her­aus­ar­bei­tet. Fou­caults offe­ne Bewun­de­rung für André Glucks­manns Abrech­nung mit dem Mar­xis­mus und sei­nen Meis­ter­den­kern – wie sie in der Buch­be­spre­chung The Gre­at Rage of Facts zum Aus­druck kommt, die in Über­set­zung eben­falls im Band vor­liegt – erge­be sich dabei aus einer selt­sa­men poli­ti­schen Alli­anz. So gebe es zwar rea­le Wider­sprü­che in deren theo­re­ti­schen Kon­zep­ten (11), dass Glucks­mann Fou­cault als gro­ße Inspi­ra­ti­on sei­ner The­sen der not­wen­di­gen Kul­mi­na­ti­on auf­klä­re­ri­scher Eman­zi­pa­ti­on im Gulag dar­stel­len kann, liegt dem­nach vor allem dar­an, dass die­ser in die­sel­be poli­ti­sche Ker­be schlägt, denn „Fou­cault was not less vio­lent­ly anti-com­mu­nist than Glucks­mann“ (16). Fou­caults prak­ti­scher Anti­kom­mu­nis­mus kor­re­liert mit einem theo­re­ti­schen Anti­mar­xis­mus, der Abwen­dung von jeder ver­meint­lich tota­li­tä­ren Theo­rie, also auch der Ideo­lo­gie­kri­tik. Aus die­ser Hal­tung ergibt sich auch Fou­caults „anar­chistic bias“ (18) gegen alle staat­li­chen Insti­tu­tio­nen, als gewis­ser­ma­ßen pro­gres­si­ve Wen­dung der bür­ger­li­chen Kri­tik des Marxismus.

Eine sol­che Dis­po­si­ti­on erlau­be die Annä­he­rung an regres­si­ven Kon­ser­va­tis­mus wie den Glucks­manns eben­so wie an libe­ra­le Frei­heits­ideen. Micha­el C. Beh­rent arbei­tet die­sen Zusam­men­hang her­aus, indem er Fou­caults Fas­zi­na­ti­on mit dem Markt­li­be­ra­lis­mus aus des­sen Miss­trau­en gegen den Staat her­lei­tet (29). Inner­halb der öko­no­mi­schen Kri­sen­si­tua­ti­on 1973 in Frank­reich sowie der poli­ti­schen Kri­se einer ori­en­tie­rungs­lo­sen Lin­ken, wur­den so die libe­ra­len Kon­zep­te zur Selbst­be­schrän­kung staat­li­cher Herr­schaft auch von Links attrak­tiv. Der Sozia­lis­mus der Second Left um bei­spiels­wei­se Rosan­val­lon griff dies auf und wur­de auch zum Bezugs­punkt für Fou­cault (36), der jedoch die anthro­po­lo­gi­schen Grund­la­gen strikt ablehn­te. Aus der Kri­tik eines Anthro­po­mor­phis­mus der Macht ent­springt Fou­caults theo­re­ti­scher Anti­hu­ma­nis­mus, der ihn in die Nähe das öko­no­mi­schen Libe­ra­lis­mus brach­te, von der aus sich auch sein Anar­chis­mus und Anti­mar­xis­mus zum theo­re­ti­schen Schritt von der Ideo­lo­gie zur Gou­ver­ne­men­ta­li­tät ver­dich­ten ließ (54). An die­sen Kon­gru­en­zen zei­ge sich nicht zuletzt „Foucault’s true signi­fi­can­ce in the deeper his­to­ri­cal shifts to which his thought testi­fies“ (55).

Eine die­ser his­to­ri­schen Ent­wick­lun­gen ist die schein­ba­re Ero­si­on des Pro­le­ta­ri­ats im Nach­kriegs­frank­reich, die die lin­ke Intel­li­genz umtreibt und auf die Fou­cault mit einer theo­re­ti­schen Umori­en­tie­rung auf ver­schie­dens­te Mino­ri­tä­ten und deren gesell­schaft­li­chen Aus­schluss ant­wor­tet. Wie Dani­el Zamo­ra in sei­nem Bei­trag beschreibt, sei die­se Ver­schie­bung aber mit einem pro­gram­ma­ti­schen Wech­sel von der Makro- auf die Mikro­ebe­ne ver­bun­den: „the main ques­ti­on was to under­stand how part of the popu­la­ti­on was exclu­ded, rather than how the majo­ri­ty was explo­i­ted“ (67). Fou­caults Abkehr von einer Kri­tik der Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se, und damit einer Tota­li­tät der Gesell­schaft, füh­re zu einer Per­spek­ti­ve auf ledig­lich die Umver­tei­lung von Macht. Dies sei einer­seits die Grund­la­ge sei­ner Kri­tik an Regu­la­ti­on und dem Wohl­fahrts­staat, die ihn mit dem Neo­li­be­ra­lis­mus ver­bin­de, ande­rer­seits das theo­re­ti­sche Pen­dent zu den Iden­ti­täts­po­li­ti­ken der Neu­en Sozia­len Bewegungen.

Auch dar­in beschreibt sich die Fou­cault­sche Ambi­va­lenz, die ihn zwi­schen reak­tio­nä­rer Ideo­lo­gie und eman­zi­pa­to­ri­scher Such­be­we­gung schein­bar ungreif­bar macht. Wie Mit­chell Dean aus der Per­spek­ti­ve eines ent­täusch­ten Fou­caul­tia­ners fest­stellt, lie­ge so auch Fou­caults Fas­zi­na­ti­on für den Ame­ri­ka­ni­schen Neo­li­be­ra­lis­mus der Chi­ca­go School an des­sen Poten­ti­al für eine nicht mora­lis­ti­sche und nicht juri­di­sche Theo­rie des Staa­tes, als pro­gres­si­ve Per­spek­ti­ve (90). In die­sem Sin­ne sei der Neo­li­be­ra­lis­mus theo­re­ti­sches Vor­bild für die Ver­wirk­li­chung einer nicht sub­jek­ti­vie­ren­den Macht und „by not doing so, it opens up the space for tole­ra­ting mino­ri­ty indi­vi­du­als and prac­ti­ces and opti­mi­zing sys­tems of dif­fe­ren­ces“ (100). Sym­pto­ma­tisch sei hier­bei also gera­de die ver­meint­lich pro­gres­si­ve Aneig­nung libe­ra­lis­ti­scher Ideen, wel­che erst vor dem Hin­ter­grund der kon­se­quen­ten Abkehr vom Mar­xis­mus mög­lich wer­de, als „return to the tra­di­ti­on of a ‚liber­ta­ri­an Left‘ in oppo­si­ti­on to the Left of the par­ty machine­ry“ (108).

Die­se Bewe­gung aber, so sehr sie sich auch den Anstrich einer pro­gres­si­ven Lin­ken ver­leiht, ist eine grund­le­gend idea­lis­ti­sche, wenn nicht gar ideo­lo­gi­sche. Das macht Jean-Loup Amsel­le mit sei­ner The­se deut­lich, Fou­cault trei­be eine ‚Spi­ri­tua­li­sie­rung der Theo­rie‘ auf die Spit­ze. Gegen die Tra­di­ti­on der Auf­klä­rung, die west­li­che Phi­lo­so­phie etc. brin­ge er eine pro­gram­ma­ti­sche Desta­bi­li­sie­rung der Theo­rie in Stel­lung und „uses every means necessa­ry, avid­ly mobi­li­zing all forms of know­ledge that can call into ques­ti­on the ensem­ble of tota­li­zing inter­pre­ta­ti­ons of histo­ry and socie­ty“ (163). Die idea­lis­ti­sche Grund­le­gung einer Theo­rie der Mikro­nar­ra­ti­ve und ihrer kor­re­spon­die­ren­den Poli­tik der sub­jek­ti­ven Wider­stän­dig­keit ent­spricht dabei genau jener Dis­kre­di­tie­rung des Mar­xis­mus, also his­to­ri­schen Mate­ria­lis­mus, des­sen Exis­tenz erst die Tren­nung zwi­schen Idea­lis­mus und Mate­ria­lis­mus mit­hin zwi­schen Ideo­lo­gie und Erkennt­nis bezeugte.

Die kon­kre­ten Kon­se­quen­zen der Auf­ga­be die­ser Per­spek­ti­ve zuguns­ten idea­lis­ti­scher Theo­rie­bil­dung beleuch­ten sowohl Loïc Wac­quant in sei­nem Vor­schlag zur Kor­rek­tur der Struk­tur­blind­heit Fou­caults mit Bour­dieus Feld­be­griff (124), wie auch, wesent­lich umfas­sen­der, Jan Reh­mann. Die­ser stellt Fou­caults For­schungs­pro­gramm zur Gou­ver­ne­men­ta­li­tät der kri­ti­schen Ideo­lo­gie­theo­rie gegen­über und arbei­tet so die sys­te­ma­ti­schen Schwach­punk­te nicht nur von Fou­caults Kon­zep­ten selbst, son­dern vor allem den dar­an unkri­tisch anschlie­ßen­den gover­ne­men­ta­li­ty stu­dies her­aus. Fou­caults reflex­haf­ter Anti­mar­xis­mus stün­de dabei sei­nem eige­nen Anspruch im Wege, gera­de die Ver­bin­dung von Herr­schaft und Sub­jek­ti­vie­rung zu den­ken, die doch genui­ner Gegen­stand der Ideo­lo­gie­theo­rie ist (138). Der Gegen­ent­wurf sei­nes Gou­ver­ne­men­ta­li­täts­be­griffs bekom­me die­se Schwä­che nicht ein­ge­holt, blie­be kon­zep­tu­ell unklar und ver­schleie­re kapi­ta­lis­ti­sche Herr­schafts­ver­hält­nis­se bis hin zur Affir­ma­ti­on (144 ff.). Reh­mann plä­diert daher zurecht dafür, die Leis­tun­gen der Fou­cault­schen Ana­ly­se als Teil einer Ideo­lo­gie­theo­rie zu betrach­ten, statt als deren Ersatz.

Immer wie­der ist damit ange­spro­chen, dass die sym­pto­ma­ti­sche Ent­wick­lung Fou­caults die Gesell­schafts­theo­rie qua­si als Gan­zes betrifft, ihre Gegen­stän­de wie auch ihr Ope­ra­ti­ons­ni­veau. Die­se Zusam­men­hän­ge zwi­schen der Pro­duk­ti­ons­wei­se der gesell­schaft­li­chen Rea­li­tät und der Pro­duk­ti­on des Den­kens her­zu­stel­len, bedarf ja bereits einer Gesell­schafts­theo­rie, die auf dem Stand­punkt der Tota­li­tät und Deter­mi­na­ti­on steht, wel­che Fou­cault para­dig­ma­tisch ver­un­mög­lich­te. Die­ser Erkennt­nis­schritt wird aber nicht in letz­ter Kon­se­quenz gegan­gen. Viel­mehr beschränkt sich die Abschluss­be­trach­tung auf die Fest­stel­lung der per­sön­li­chen Moti­va­ti­on Fou­caults, des­sen begriff­li­che Ver­feh­lun­gen und letzt­lich den Vor­wurf, Fou­cault kön­ne trotz oder wegen sei­ner Affi­ni­tät, die Spe­zi­fik des Neo­li­be­ra­lis­mus nicht begrei­fen: „How is it, that the man who is argu­ab­ly the most dis­cus­sed thin­ker of our era seems simul­ta­ne­ous­ly essen­ti­al and woe­ful­ly ina­de­qua­te to con­cep­tua­li­zing what is perhaps the cri­ti­cal iddue of our age – the hege­mo­ny of glo­ba­li­zed neo­li­be­ra­lism?“ (183) Das Wun­dern über die­sen Zusam­men­hang unter­wan­dert den Erkennt­nis­stand der Bei­trä­ge, deren Gewinn doch gera­de dar­in gele­gen hät­te, auf die Not­wed­ni­g­keit hin­zu­wei­sen, mit der Fou­cault eine gesell­schaft­li­che Rea­li­tät ver­kennt, die er genau dar­in affir­mie­ren muss. In die­sem Rück­schritt aber ver­fal­len die Bei­trä­ge wie­der in Ein­zel­kri­ti­ken oder doch nur pole­mi­sche Spit­zen und erschöp­fen sich womög­lich nur dar­in zu dis­ku­tie­ren, wie Fou­cault in Detail­fra­gen zu bewer­ten sei.

 

Zamo­ra, Daniel/Behrent,  Micha­el C. (Hrsg.) 2016: Fou­cault and Neo­li­be­ra­lism. Cam­bridge: Poli­ty Press.

 

von Alex Struwe

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