Zehn Thesen zum Materialismusbegriff

In jüngs­ter Zeit besteht eine Art impli­zi­te Mate­ria­lis­mus­de­bat­te, ange­facht von der Pro­mi­nenz rela­tiv dif­fu­ser For­schungs- und Theo­rie­bei­trä­ge, die unter dem Begriff new mate­ria­lism fir­mie­ren. Die­se For­schungs­ein­stel­lung gerät – manch­mal unfrei­wil­lig – in eine nur ein­ge­schränkt pro­duk­ti­ve Kon­fron­ta­ti­on mit dem tra­di­tio­nel­len Inhalt des Begriffs Mate­ria­lis­mus. Letz­te­rer fühlt sich von dem, was sich als new mate­ria­lism zu einem Theo­rie­ge­bäu­de ver­dich­tet hat, ver­un­si­chert bis her­aus­ge­for­dert. Der teils hef­ti­ge Umgangs­ton und die Pole­mik der Kri­ti­ken kann als Anzei­chen dafür gel­ten, dass jen­seits einer inhalt­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung etwas ande­res zur Dis­po­si­ti­on steht: die im Selbst­ver­ständ­nis die­ses Tra­di­ti­ons­ma­te­ria­lis­mus unge­klär­ten Pro­ble­me, die in die­ser Her­aus­for­de­rung durch eine neue For­schungs­ein­stel­lung an die Ober­flä­che gespült wer­den. Die Sym­pto­ma­tik der Debat­te, wo es sie über­haupt expli­zit gibt, ver­stellt den Blick auf die eigent­li­che Pro­ble­ma­tik, die sich in die­ser Kon­fron­ta­ti­on äußert und deren Kern das Selbst­ver­ständ­nis des Mate­ria­lis­mus betrifft. Im Fol­gen­den stel­len wir zehn The­sen zu die­ser Debat­te um den Mate­ria­lis­mus­be­griff auf, in der Über­zeu­gung damit einen Bei­trag zur Klä­rung ihres Gegen­stan­des und der Her­aus­for­de­run­gen gegen­wär­ti­ger mate­ria­lis­ti­scher Theo­rie­bil­dung zu leisten.

 

Das aktu­el­le Pro­blem mit den Materialismen

  1. Ein Groß­teil der new mate­ria­lism-Debat­te ist ein Schein­pro­blem, das zunächst nur auf­grund einer Ver­wechs­lung von Begrif­fen entsteht. 

 Jen­seits vom Wort­stamm haben die Kon­zep­te des new mate­ria­lism gene­rell recht wenig mit mate­ria­lis­ti­schen Begrif­fen gemein­sam. Vie­le ihrer epis­te­mo­lo­gi­schen wie onto­lo­gi­schen Grund­an­nah­men – so etwa die Bedeu­tung, die der Mate­rie zukommt – sind ein­an­der dia­me­tral ent­ge­gen­ge­setzt. Die Ver­wir­rung basiert dar­auf, dass zwei zunächst völ­lig unter­schied­li­che sozi­al­wis­sen­schaft­li­che For­schungs­ein­stel­lun­gen den glei­chen Wort­stamm als Ober­be­griff für ihr Para­dig­ma gewählt haben und sich etwa die tra­di­ti­ons­rei­che­re der Posi­tio­nen um ihr geis­ti­ges Eigen­tum betro­gen fühlt.

 

  1. Die­ses Miss­ver­ständ­nis wird aller­dings ver­schärft durch den Umstand, dass jene Über­schnei­dung der Begrif­fe von bei­den Sei­ten aus tak­ti­schen Grün­den gedul­det und poli­ti­siert wird.

Die Ver­mu­tung liegt nahe, dass der new mate­ria­lism nicht ganz unbe­wusst an den poli­ti­schen Gehalt des Mate­ria­lis­mus anschließt: Trans­por­tiert wird damit eine Aura von Sub­ver­si­on und hohem theo­re­ti­schen Anspruch, die einer neu­en For­schungs­ein­stel­lung gut ansteht. Umge­kehrt aller­dings ist es für den mate­ria­lis­ti­schen Tra­di­ti­ons­be­stand, der sei­ne domi­nan­te Rol­le in Poli­tik, Kul­tur und Theo­rie­bil­dung ein­ge­büßt hat, min­des­tens eben­so attrak­tiv, durch den Anschluss an ein inno­va­ti­ves For­schungs­pro­gramm einen Aus­weg aus sei­ner mar­gi­na­len Posi­ti­on zu finden.

 

  1. Die­ser tak­ti­sche Bezug auf­ein­an­der, der anstatt einer rea­len Aus­ein­an­der­set­zung eher pole­mi­sche Atta­cken her­vor­bringt, scha­det der Sach­lich­keit nicht nur der Debat­te an sich – son­dern vor allem der inter­nen Sach­lich­keit der jewei­li­gen Dis­kur­se für sich.

Ein gewis­ser theo­re­ti­scher Eklek­ti­zis­mus ist dem new mate­ria­lism durch­aus pro­gram­ma­tisch eigen, was sein Inte­gra­ti­ons­po­ten­ti­al für theo­re­ti­sche Ver­satz­stü­cke erhöht. Es gehört zum Selbst­ver­ständ­nis, dass der new mate­ria­lism „ein gan­zes Uni­ver­sum an Kate­go­rien und Dis­zi­pli­nen [beinhal­tet]“, deren „Kon­stel­la­tio­nen als grund­le­gend durch Kon­tin­genz struk­tu­riert zu begrei­fen [sind]“[1]. Die­se ers­te Grund­la­ge der Kon­tin­genz ist die not­wen­di­ge – wenn auch nicht hin­rei­chen­de – Bedin­gung des neu­en ‚mate­ria­lis­ti­schen‘ Unter­fan­gens, zugleich des­sen fun­da­men­ta­ler Unter­schied zum Mate­ria­lis­mus, des­sen Theo­rie­grund­la­ge eben nicht das Pri­mat der Kon­tin­genz, son­dern das der gesell­schaft­li­chen Deter­mi­na­ti­on vor­aus­setzt. Wir sind im Gro­ßen und Gan­zen mit einer mate­ria­lis­ti­schen Theo­rie­land­schaft kon­fron­tiert, die alle Anstren­gun­gen unter­nimmt, ihre eige­nen Grund­le­gun­gen gegen den Strich zu bürs­ten – sich dem Pri­mat der Kon­tin­genz zu unter­stel­len – und sich stets dar­über wun­dert, war­um sie in die­sem race to the bot­tom trotz­dem nicht mit im wei­tes­ten Sin­ne post­mo­der­nen Theo­rie­an­ge­bo­ten mit­hal­ten kann, die wie­der­um eine stra­te­gi­sche Alli­anz mit dem Mate­ria­lis­mus weder zu wol­len noch zu brau­chen scheinen.

 

  1. Der new mate­ria­lism ist kein direk­ter Angriff auf den Mate­ria­lis­mus, er ist ein Kata­ly­sa­tor, der die eini­ger­ma­ßen deso­la­te Lage des gegen­wär­ti­gen Mate­ria­lis­mus ans Licht bringt.

Ver­stärkt wird die­se Frus­tra­ti­on dadurch, dass der Mate­ria­lis­mus im new mate­ria­lism tat­säch­lich die Bilanz sei­ner eige­nen jün­ge­ren Wir­kungs­ge­schich­te erblickt. Der Mate­ria­lis­mus hat sich selbst in eine Rich­tung ent­wi­ckelt, die in wesent­li­chen Punk­ten sei­ne eige­ne Ent­ker­nung oder Auf­lö­sung bedeu­te­te, und schreckt jetzt ver­ständ­li­cher­wei­se aber vor der letz­ten Kon­se­quenz die­ser Ent­wick­lung zurück. Umso schein­hei­li­ger wir­ken die Kri­ti­ken, die nun von die­ser Sei­te vor­ge­bracht wer­den, nur weil der new mate­ria­lism schnel­ler und erfolg­rei­cher dar­in war, die dem Mate­ria­lis­mus ins Stamm­buch geschrie­be­ne deter­mi­nis­ti­sche, reduk­tio­nis­ti­sche und kri­tisch-ratio­na­lis­ti­sche Tra­di­ti­on immer wei­ter abzu­strei­fen, stell­ver­tre­tend für ihn zu ver­wirk­li­chen und dabei ihn dabei sogar weit zu überholen.

 

  1. Mate­ria­lis­ti­sche Vor­wür­fe gegen den new mate­ria­lism äußern den Ver­dacht, die­ser wür­de eine Mys­ti­fi­zie­rung der Wis­sen­schaft vor­an­trei­ben. Er ver­kör­pert jedoch nur in bis­her kon­se­quen­tes­ter Form die bereits vor ihm ange­sto­ße­ne Auf­lö­sung objek­ti­ver Erkennt­nis­an­sprü­che, wel­che ihn zu aller­erst ermöglichten.

Die reflex­haf­ten Ein­wän­de betref­fen oft die ver­meint­lich irra­tio­na­lis­ti­sche Kom­po­nen­te des new mate­ria­lism. So rich­tig die­se Anmer­kung sein kann, das Cre­do muss hier lau­ten: Don’t shoot the mes­sen­ger – Der new mate­ria­lism ist hier nicht der Urhe­ber des Irra­tio­na­lis­mus, son­dern des­sen Sym­ptom. Der Mate­ria­lis­mus bil­de­te ursprüng­lich das Gegen­ge­wicht auch zum Irra­tio­na­lis­mus, als der Zuspit­zung idea­lis­ti­scher Abs­trak­ti­ons­ten­den­zen, indem er das Den­ken sei­nen Aus­gang an den rea­len sozia­len Ver­hält­nis­sen neh­men ließ und sich selbst als Teil die­ser reflek­tier­te. Die­ses Güte­kri­te­ri­um des Mate­ria­lis­mus beding­te sei­nen Anspruch auf eine objek­ti­ve Erkennt­nis­fä­hig­keit, deren Mög­lich­keits­be­din­gung in über 100 Jah­ren Theo­rie­tra­di­ti­on ver­han­delt wur­de. Die umfas­sen­de Zurück­wei­sung objek­ti­ver Erkennt­nis­an­sprü­che als auto­ri­tär, deter­mi­nis­tisch und tota­li­tär in der anti­au­to­ri­tä­ren oder anti­dog­ma­ti­schen Wen­de der Lin­ken, setz­te so unter­schied­li­che Theo­rie­strö­mun­gen frei wie den dif­fu­sen Post­struk­tu­ra­lis­mus, die Cul­tu­ral Stu­dies, das nach­me­ta­phy­si­sche Den­ken etc. Im Zuge sei­ner Öff­nung hat der Mate­ria­lis­mus eben­falls um eine ande­re Grund­le­gung gerun­gen und dabei den Vor­wurf gegen sei­nen unmög­li­chen Erkennt­nis­an­spruch vor­aus­ei­lend inter­na­li­siert. Auf die­sem Boden fußt auch das Dilem­ma des Mate­ria­lis­mus, die eige­ne Unfä­hig­keit zur Abgren­zung gegen die Not­wen­dig­keit der sel­ben zu verhandeln.

 

  1. Die new mate­ria­lism-Debat­te zeigt das Pro­blem auf, dass eine sub­stan­ti­el­le Demar­ka­ti­ons­li­nie zwi­schen mate­ria­lis­ti­scher und nicht-mate­ria­lis­ti­scher Theo­rie ver­wa­schen wurde.

Der Begriff Mate­ria­lis­mus gewann sei­nen sinn­vol­len Gehalt durch die Abgren­zung zum Idea­lis­mus. Der Hebel, der dazu ange­legt wur­de, ist die Ver­or­tung des Den­kens selbst im Zusam­men­hang der gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se. In der Eng­füh­rung die­ses Zusam­men­hangs auf die Kari­ka­tur eines linea­ren Basis-Über­bau-Modells mit ein­deu­ti­ger Deter­mi­na­ti­ons­in­stanz der Öko­no­mie, setz­te sich der Vor­wurf des Öko­no­mis­mus durch, der bis heu­te als Schreck­ge­spenst sei­ne Wir­kung ent­fal­tet und bei­na­he jede mar­xis­ti­sche Theo­rie­po­si­ti­on dazu nötigt, in apo­lo­ge­ti­scher Hal­tung das Bekennt­nis zum Anti­dog­ma­tis­mus abzu­le­gen. Die dar­in ange­leg­te Unmög­lich­keit der Abgren­zung resul­tiert folg­lich aus der Anver­wand­lung des Mate­ria­lis­mus an sein Gegen­über. In der Über­spit­zung des idea­lis­ti­schen Den­kens im new mate­ria­lism erkennt nun der Mate­ria­lis­mus die Pro­ble­ma­tik die­ser feh­len­den Demar­ka­ti­on und erstarrt ange­sichts der Pro­jek­ti­on der Kon­se­quen­zen sei­ner eige­nen theo­re­ti­schen Entkernung.

 

Die Aktua­li­tät des Materialismus

 

  1. Die­se Ent­ker­nung, die als Öff­nung des Mate­ria­lis­mus oder auch des Mar­xis­mus fir­miert, ist kein unaus­weich­li­ches Schicksal.

Unbe­strit­ten ist, dass der Mate­ria­lis­mus meh­re­re his­to­ri­sche Nie­der­la­gen mit zu ver­ant­wor­ten hat – Nie­der­la­gen, aus denen Kon­se­quen­zen fol­gen muss­ten und immer noch müs­sen. Es ist aber kei­nes­falls aus­ge­macht, dass die bis­her getrof­fe­nen Rich­tungs­ent­schei­dun­gen zur Plu­ra­li­sie­rung, Hybri­di­sie­rung oder gene­rel­len Anschluss­fä­hig­keit an wider­spre­chen­de Theo­rie­an­ge­bo­te für immer durch­ge­hal­ten wer­den müs­sen. Viel­mehr erge­ben sich schon bei ober­fläch­li­cher Betrach­tung eine Anzahl von unsi­che­ren Posi­tio­nen im mate­ria­lis­ti­schen Kanon, die als Platz­hal­ter sozu­sa­gen nur dar­auf war­ten, durch neue Über­le­gun­gen ergänzt oder ersetzt zu wer­den. Dazu gehö­ren, nur um ein paar der wich­tigs­ten zu nen­nen: Der Begriff der Kri­se, der Begriff der Dia­lek­tik, Phi­lo­so­phie und Kri­tik, die Begrif­fe von der Kon­tin­genz und Deter­mi­na­ti­on und wei­te­re. Die­se Arbeit aber über­haupt mate­ria­lis­tisch auf­neh­men zu kön­nen, bedür­fe einer kohä­ren­ten Aus­ein­an­der­set­zung über die mate­ria­lis­ti­sche Grund­la­ge zur Bear­bei­tung die­ser Pro­ble­me und eine Aktua­li­sie­rung der Demar­ka­ti­ons­li­nie zum Idealismus.

 

  1. Die Zer­glie­de­rung mate­ria­lis­ti­scher Theo­rie in meh­re­re unzu­sam­men­hän­gen­de und sich wider­spre­chen­de Teil­be­rei­che ist ein Pro­blem für die gesam­te Sozi­al­wis­sen­schaft. Die Ver­su­che, die­ses Neben­ein­an­der schlicht durch das Insis­tie­ren auf Inter­dis­zi­pli­na­ri­tät und Anti-Dog­ma­tis­mus zu kit­ten, kann als geschei­tert ange­se­hen werden.

Eine ers­te Kon­se­quenz der Auf­ga­be des mate­ria­lis­ti­schen Erkennt­nis­an­spruchs bil­det das Schei­tern einer Theo­rie der Gesell­schaft als zusam­men­hän­gen­des Gan­zes. Die Gesell­schafts­theo­rie im star­ken Sin­ne – wie sie lan­ge Zeit von mar­xis­ti­schen Ansät­zen domi­niert wur­de – zer­fällt nach den letz­ten Auf­bäu­mungs­ver­su­chen der abs­trak­ten Theo­rie (wie etwa Luh­mann) in sozio­lo­gi­sche Dia­gno­sen, Tei­l­ana­ly­sen, nor­ma­ti­ve Gerech­tig­keits­theo­rie und sozi­al­phi­lo­so­phi­sche Refle­xi­on. In ande­ren wis­sen­schaft­li­chen Dis­zi­pli­nen ist eine der­ar­ti­ge Zer­split­te­rung kaum vor­stell­bar. Auf wie vie­le Pro­ble­me z. B. die Phy­sik bei der Arbeit an einer Gro­ßen ein­heit­li­chen Theo­rie stößt, so hält sie doch als Gesamt­pro­jekt arbeits­tei­lig zusam­men. Dass man in der Sozi­al­wis­sen­schaft, und beson­ders im Mate­ria­lis­mus, aber bereits das Lachen über eine theo­ry of ever­ything ver­in­ner­licht hat ist nur die Kehr­sei­te des neu­en Selbst­be­wusst­seins, theo­ry of anything zu prak­ti­zie­ren. Zugleich fällt die­ses Selbst­ver­ständ­nis mit den rea­len Anfor­de­run­gen aus­ein­an­der, die sich aus einer gesell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit erge­ben, deren Pro­ble­me unbe­ar­beit­bar wer­den müssen.

 

  1. Das Pro­blem die­ser Öff­nung des Mate­ria­lis­mus ist des­we­gen so bri­sant, weil vie­le Gegen­stands­be­rei­che tat­säch­lich gegen einen schein­bar dog­ma­ti­schen Mate­ria­lis­mus ein­ge­klagt wer­den muss­ten, für die die­ser nur wenig anzu­bie­ten hat­te – und immer noch nichts anzu­bie­ten hat, außer dif­fu­se Grund­satz­kri­ti­ken.[2]

Die eigent­lich zu bear­bei­ten­de Pro­ble­ma­tik des Mate­ria­lis­mus bleibt in sei­ner Öff­nung unan­ge­tas­tet. So her­um dar­ge­stellt wird auch deut­lich, dass ein geöff­ne­ter Mate­ria­lis­mus nur laten­ter, aber nicht wirk­lich weni­ger chau­vi­nis­tisch struk­tu­riert ist: Anstatt anzu­er­ken­nen, dass die bis­he­ri­gen Ele­men­te des Mate­ria­lis­mus nur eini­ge Eck­punk­te eines Theo­rie­ge­rüsts dar­stel­len, aber in die­ser Form ganz offen­bar nicht für Erkennt­nis­se über alle Ver­hält­nis­se hin­reicht, in denen der Mensch ein ernied­rig­tes Wesen ist, wird die­ser Erkennt­nis­an­spruch ein­fach auf­ge­ge­ben – bezie­hungs­wei­se ande­ren auf­ge­bür­det. Beson­ders die femi­nis­ti­sche Theo­rie wird mit die­sem Pro­blem letzt­lich allei­ne gelas­sen; und der Mate­ria­lis­mus ver­kauft sein spä­tes Ein­se­hen, dass Ver­ge­sell­schaf­tung über Lohn­ar­beit und der Wan­del von Lebens­wei­sen anhand der Geschich­te von Eigen­tums­ver­hält­nis­sen nicht für eine Erkennt­nis der gesam­ten Gesell­schaft hin­rei­chen, als Erfolg – nicht ohne die Hybris, bestän­dig dar­auf hin­zu­wei­sen, er habe bei die­sen The­men aber trotz allem dann doch noch die Deu­tungs­ho­heit. Der Mate­ria­lis­mus spielt ger­ne die Dop­pel­rol­le, einer­seits nur ein Herr­schafts­ver­hält­nis unter vie­len abbil­den zu wol­len, ande­rer­seits aber doch auch den bes­ten Ver­such, die Tota­li­tät aller Ver­hält­nis­se zu sys­te­ma­ti­sie­ren, auf der eige­nen Sei­te zu wähnen.

 

 

  1. Die Auf­ga­be und Berech­ti­gung einer mate­ria­lis­ti­schen For­schungs­per­spek­ti­ve ist die Bear­bei­tung rea­ler Pro­ble­me – mit als ers­tes die der eige­nen theo­re­ti­schen Praxis.

Ziel einer Aus­ein­an­der­set­zung um den Sinn­ge­halt des Mate­ria­lis­mus­be­griffs kann weder die Wie­der­ho­lung pole­mi­scher Atta­cken gegen den (rea­len) Geg­ner sein, noch eine wei­te­re Beteue­rung abs­trakt mys­ti­fi­zie­ren­der Grund­satz­be­kennt­nis­se. Ent­we­der der Mate­ria­lis­mus erhält sei­ne Berech­ti­gung aus der rea­len Erkennt­nis­an­for­de­rung einer pro­ble­ma­ti­schen sozia­len Wirk­lich­keit oder er hat sie schlicht­weg nicht. In Zei­ten, in denen die wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­fä­hig­keit auf einem his­to­ri­schen Tief­stand ran­giert und geteil­te Einig­keit über eine ‚Welt aus den Fugen‘ – oder wie Ulrich Beck jüngst stell­ver­tre­tend for­mu­lier­te: „Ich begrei­fe die Welt nicht mehr“[3] – besteht, lässt sich intui­tiv für die Not­wen­dig­keit kohä­ren­ter Erkennt­nis argu­men­tie­ren. Die bereits ange­spro­che­nen Bau­stel­len der mate­ria­lis­ti­schen Theo­rie­bil­dung sind daher nicht zum Selbst­zweck zu bear­bei­ten, son­dern in die­sem Sin­ne eine Arbeit an der Mög­lich­keit, die genui­ne Her­aus­for­de­rung des Mate­ria­lis­mus wei­ter­hin bezie­hungs­wei­se wie­der auf­neh­men zu können.

 

von Flo­ri­an Geisler/Alex Struwe

 

[1]      Goll, Tobias/Keil, Daniel/Telios, Tho­mas 2013: Ein­lei­tung. In: Dies. (Hrsg.): Cri­ti­cal Mat­ter. Dis­kus­sio­nen eines neu­en Mate­ria­lis­mus. Müns­ter: Edi­ti­on Assem­bla­ge, 8.

[2]      Wes­we­gen sich neue­re Ver­su­che ganz zu Recht immer wie­der dage­gen weh­ren, sich in jeder Debat­te und auf jeder Kon­fe­renz nur immer wie­der in neue abs­trak­te Grund­satz­de­bat­ten des Mate­ria­lis­mus zu ver­stri­cken, die die­ser schon für sich selbst nicht gelöst hat und die­ses Pro­blem mit Vor­lie­be auf sein gegen­über projiziert.

[3]      Beck, Ulrich 2016: Die Meta­mor­pho­se der Welt. Ber­lin: Suhr­kamp, 11.

 

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