Eine große Regression

In der kri­ti­schen Gesell­schafts­theo­rie galt lan­ge Zeit das Pos­tu­lat, Erkennt­nis und Ver­blen­dung zu tren­nen. Das Den­ken muss­te Aus­kunft über sei­ne Bezie­hung zur gesell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit geben kön­nen, andern­falls sei es nur unbe­wuss­tes orga­ni­sches Abfall­pro­dukt der gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se, ana­ly­tisch gespro­chen Ideo­lo­gie. Vor­aus­set­zung die­ser Unter­schei­dung ist aller­dings ein Begriff des gesell­schaft­li­chen Gesamt­zu­sam­men­hangs und genau des­halb spricht man in der Sozi­al­wis­sen­schaft davon heu­te nicht mehr gern, aller­dings um den Preis der Erkennt­nis­fä­hig­keit selbst.

Wie Ulrich Beck in sei­nem letz­ten Buch zur Meta­mor­pho­se der Welt fest­hielt, bil­det die For­mel ‚Ich begrei­fe die Welt nicht mehr‘ eine Art kos­mo­po­li­ti­schen Kon­sens. Um dem wis­sen­schaft­lich etwas ent­ge­gen­set­zen zu kön­nen wird oft ein Trick ange­wen­det, der die Unbe­greif­lich­keit der Welt selbst als Erkennt­nis ver­kauft. Das ist offen­kun­dig eine reli­giö­se Pra­xis, denn es wird eine mys­ti­sche Begrün­dungs­in­stanz ein­ge­führt, die alles aus sich selbst her­aus erklär­bar macht und die rea­len Zusam­men­hän­ge zu einer Tau­to­lo­gie ver­zerrt. Das ist Ideo­lo­gie, weil es die Ver­hält­nis­se unan­ge­tas­tet lässt, und wird spä­tes­tens zum Pro­blem, wenn es um die prak­ti­sche Ver­än­de­rung die­ser rea­len Ver­hält­nis­se geht.

Genau dar­um soll es eigent­lich gehen in dem vom Suhr­kamp-Ver­lag auf­ge­leg­ten Pro­jekt Die gro­ße Regres­si­on. Eine inter­na­tio­na­le Debat­te über die geis­ti­ge Situa­ti­on der Zeit. Eine Rie­ge von 15 nam­haf­ten AutorIn­nen geht dar­in auf die Suche nach pro­gres­si­ven Ant­wor­ten auf den gesell­schaft­li­chen Rück­fall in Natio­na­lis­mus, Auto­ri­ta­ris­mus und Gegen­auf­klä­rung. Hier soll bewie­sen wer­den, dass die Kla­ge über eine hand­lungs­un­fä­hi­ge und ideen­lo­se Lin­ke halt­los ist und es wird – immer­hin zeit­gleich in 13 Spra­chen – zum brei­ten intel­lek­tu­el­len Ver­tei­di­gungs­schlag aus­ge­holt. Man muss sich kei­ne Illu­sio­nen über die Radi­ka­li­tät die­ses Vor­ha­bens machen, da sich die Bedeu­tung einer pro­gres­si­ven Lin­ken hier weit­ge­hend in der Sozi­al­de­mo­kra­tie erschöpft. Man hat es eher mit einem Lehr­stück über Pro­ble­me der Ana­ly­se zu tun, in der idea­lis­ti­sche Ver­feh­lung zur Ideo­lo­gie gerinnt.

Ent­spre­chend des Pro­jekts tei­len die Bei­trä­ge grob eine Pro­blem­dia­gno­se und begin­nen jeweils mit sym­pto­ma­ti­schen Aspek­ten, die zusam­men unter Regres­si­on gefasst wer­den. Aus­gangs­punk­te sind damit bei­spiels­wei­se die „Aus­mus­te­rung der libe­ra­len Demo­kra­tie und ihre Erset­zung durch irgend­ei­ne Form des popu­lis­ti­schen Auto­ri­ta­ris­mus“ (Appa­du­rai), die „Rück­kehr der dunk­len Sei­te der Poli­tik“ (del­la Por­ta) in etwa reak­tio­nä­ren Mas­sen­mo­bi­li­sie­run­gen (Fra­ser, Ill­ouz), der Ver­fall uni­ver­sa­lis­ti­scher Nor­men (Latour) und immer wie­der auch das Ver­sa­gen der Lin­ken (Mason, Misik) und des­sen Ver­ant­wor­tung für die Kon­junk­tur reak­tio­nä­rer Ideo­lo­gien (Stre­eck).

Die Schil­de­run­gen der glo­ba­len Situa­ti­on und ihrer loka­len Aus­prä­gun­gen sind ohne Fra­ge ein­leuch­tend und schlüs­sig, aller­dings auch, weil die Dia­gno­sen kaum über den mas­sen­me­di­al ver­sorg­ten All­tags­ver­stand hin­aus­ge­hen. Die beschrie­be­nen Kri­sen­phä­no­me­ne blei­ben All­ge­mein­plät­ze und die Ver­lo­ckung damit groß, sich ihnen in schrei­en­dem Idea­lis­mus anzu­neh­men. So etwa Zyg­munt Bau­man, der im Ein­klang mit Ulrich Beck kon­sta­tiert, eines der größ­ten Pro­ble­me sei der „Wider­spruch zwi­schen unse­ren jetzt schon so-gut-wie-kos­mo­po­li­ti­schen Ver­pflich­tun­gen und dem emi­nen­ten Man­gel an kos­mo­po­li­ti­schem Bewusst­sein“. Die­sem Motiv von ‚das Bewusst­sein bestimmt das Sein‘ ent­spricht dann das Deli­be­ra­ti­ons­ide­al einer „Kul­tur des Dia­logs“, für das Papst Fran­zis­kus als Iko­ne dastehe.

So kru­de das wirkt, ein sol­ches Bewusst­seins­pro­blem wird auch in ande­ren Bei­trä­gen aus­fin­dig gemacht, etwa im Ruf nach einer „libe­ra­len Mul­ti­tu­de“ (Appa­du­rai), der For­de­rung nach einem Bewusst­sein für die glo­bal geteil­ten Her­aus­for­de­run­gen der Kli­ma­ka­ta­stro­phe (Latour) oder der For­mie­rung der „amor­phen Grup­pe“ der „ver­netz­ten Indi­vi­du­en“ (Mason). Die­ser offen­kun­di­ge Idea­lis­mus ist aber nicht das eigent­li­che Pro­blem. Er könn­te bes­ten­falls als Bei­trag einer plu­ra­lis­ti­schen Debat­te gel­ten, die auch ande­re Ver­feh­lun­gen ganz kon­kret zulässt, etwa wenn Eva Ill­ouz die BDS-Kam­pa­gne als legi­ti­men Akti­vis­mus gegen den rech­ten Fun­da­men­ta­lis­mus dar­stellt oder Wolf­gang Stre­eck mit reak­tio­nä­rem Natio­na­lis­mus koket­tiert. Das Pro­blem ist, dass jener Mys­ti­zis­mus hier den ulti­ma­ti­ven Hori­zont bildet.

Auch dort, wo sich die Ursa­chen­for­schung bemüht, tat­säch­li­che Zusam­men­hän­ge über das Offen­sicht­li­che hin­aus her­aus­zu­ar­bei­ten. Nan­cy Fra­sers Begriff des pro­gres­si­ven Neo­li­be­ra­lis­mus etwa stellt auf die ideo­lo­gi­sche Ver­bin­dung zwi­schen einer Trans­for­ma­ti­on des Kapi­ta­lis­mus und der lin­ken Hin­wen­dung zum indi­vi­du­el­len Auto­no­mieide­al ab, die sich zu einem eli­tä­ren Herr­schafts­pro­jekt ver­quickt. Auch Oli­ver Nachtw­eys Erklä­rungs­ver­such zum „Umschlag von Auto­no­mie in Auto­ri­ta­ris­mus“ durch Pro­zes­se der regres­si­ven Moder­ni­sie­rung, die in der Auf­kün­di­gung bestimm­ter sozia­ler Stan­dards (etwa der Mobi­li­tät) in die Ent­zi­vi­li­sie­rung führt, sucht nach einem rea­len Wirkzusammenhang.

An die­sen ana­ly­tisch scharf­sin­nigs­ten Momen­ten zeigt sich schließ­lich, wor­in der idea­lis­ti­sche Erkennt­nistrick besteht. Schein­bar fin­det man Ursa­chen bestimm­ter regres­si­ver Phä­no­me­ne, aber man fin­det sie in einem Zir­kel­schluss: Die Regres­si­on in der Moder­ne ist Aus­druck einer regres­si­ven Moder­ne, die Hin­wen­dung zur Rech­ten ist Aus­druck des schei­tern­den Libe­ra­lis­mus, der auto­ri­tä­re Natio­na­lis­mus ist Aus­druck des natio­nal­öko­no­mi­schen Sou­ve­rä­ni­täts­ver­lusts in der Glo­ba­li­sie­rung etc. Die Tau­to­lo­gie ersetzt die Erkennt­nis und die idea­lis­ti­sche Kreis­be­we­gung die Ana­ly­se eines Gesamtzusammenhangs.

Das ist nicht etwa Ver­feh­lung, es ist erklär­tes Pro­gramm gegen die ver­meint­lich reduk­tio­nis­ti­sche Per­spek­ti­ve auf die Tota­li­tät der Gesell­schaft. Denn schließ­lich, wie etwa César Ren­du­e­les betont, dür­fe die gesell­schaft­lich kom­ple­xe Kri­se nicht ein­fach öko­no­mis­tisch auf­ge­löst wer­den. Das wäre dann wohl auch der Grund, wes­halb man sich in Absti­nenz zu bei­na­he jeder mar­xis­ti­schen Per­spek­ti­ve bewegt und statt­des­sen Karl Polanyi oder Ulrich Beck als Stich­wort­ge­ber zitiert (obwohl Marx ja selbst für die bür­ger­li­che Mit­te und sogar für das Kino anschluss­fä­hig gemacht wur­de). Ein objek­ti­ver Erkennt­nis­an­spruch ent­sprä­che schlicht der intel­lek­tu­el­len Über­heb­lich­keit und des fata­len Bes­ser­wis­ser­tums, das etwa Eva Ill­ouz oder Wolf­gang Stre­eck dem lin­ken Uni­ver­sa­lis­mus attes­tie­ren und damit als Aus­gangs­punkt für reak­tio­nä­re Bewe­gun­gen anklagen.

Das Kom­ple­xi­täts­ge­bot ist dabei genau jener Aus­gangs­punkt wie auch Ein­satz des Tricks. Da die Ver­hält­nis­se irre­du­zi­bel über­kom­plex sind, kön­nen sie angeb­lich nicht mehr durch­drun­gen wer­den. Kon­se­quent wird dies umge­setzt in ana­ly­ti­schen Plat­ti­tü­den und mys­ti­scher Begriffs­bil­dung. Etwa Stre­ecks Vor­schlag, die gegen­wär­ti­ge Situa­ti­on als Inter­re­gnum zu begrei­fen, was schlicht eine unbe­stimm­ba­re Über­gangs­pha­se bezeich­net. Oder Pan­kaj Mishras Ver­su­che zur Psy­cho­lo­gi­sie­rung der regres­si­ven Indi­vi­du­al­sub­jek­te, die nicht nur wüten­de gesell­schaft­li­che Ver­lie­rer sei­en, son­dern unbe­re­chen­bar trieb­ge­steu­ert, ängst­lich und auf­klä­rungs­re­sis­tent. Es ist der Schein von Erklä­rung, eigent­lich aber nur Rück­griff auf die mys­ti­sche Kraft eines uner­klär­li­chen Unter­be­wusst­seins. Nicht zuletzt Bru­no Latour, der sich wie Zyg­munt Bau­man aus­schließ­lich in meta­pho­ri­scher Spra­che aus­zu­drü­cken scheint.

Es wäre nicht der Rede wert, wenn die­se Hal­tun­gen nicht rea­le Kon­se­quen­zen zei­ti­gen wür­den, die sich an den poli­ti­schen Stra­te­gie­ent­wür­fen der Bei­trä­ge zei­gen. Der Idea­lis­mus der Ana­ly­sen ist ideo­lo­gisch, weil er funk­tio­nal die Repro­duk­ti­on der Bedin­gun­gen erle­digt, von denen er aus­geht. Er bestä­tigt das Bestehen­de als den Hori­zont des Den­kens und Han­delns, womit er jede prak­ti­sche Per­spek­ti­ve ent­we­der zum Uto­pis­mus oder Prag­ma­tis­mus degra­diert. Poli­tisch über­setzt bedeu­tet dies ent­we­der die Beschwö­rung einer glo­ba­len Bewe­gung oder die Emp­feh­lung eines lin­ken Popu­lis­mus. Auch wenn Sla­voj Žižek auf das regres­si­ve Ele­ment die­ser Stra­te­gie selbst hin­weist, wird der Popu­lis­mus schließ­lich zum neu­en Prüf­stein einer star­ken Lin­ken aus­er­ko­ren. Wenn aber, wie es so oft durch­scheint, die Schwä­che der Lin­ken ihren Teil zur gesell­schaft­li­chen Regres­si­on bei­trägt, so muss fest­ge­hal­ten wer­den, dass es genau jene hier ver­sam­mel­te Theo­rie­leis­tung ist, die die Schwä­che der Lin­ken bedingt.

 

von Alex Struwe

 

Der Arti­kel erschien in leicht gekürz­ter Fas­sung unter dem Titel Alles ist so, weil es so ist zuerst in Jung­le World Nr. 20/2017, URL: https://jungle.world/artikel/2017/20/alles-ist-so-weil-es-so-ist

 

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