In Europa nur noch wenig bekannt, steht vor allem in Lateinamerika derzeit eine neue alte politische Bewegung wieder auf: der Trotzkismus. Doch was waren die theoretischen Grundlagen seines Namensgebers? Manuel Kellners kurze, sehr dichte und wohlüberlegte Einführung fasst die wichtigsten Bezugsprobleme und Antworten des Trotzkismus zusammen. Der folgende Artikel bespricht einige systematische Wegmarken zwischen seiner Geschichte als politische Bewegung und der Entwicklung materialistischer Gesellschaftstheorie.
Ein Revolutionär
Um das Leben und die Auffassungen des Berufsrevolutionärs Leo Trotzkis besser zu verstehen, hilft es, sie in den Kontext der europäischen Revolutionen vom späten 18. bis ins 20. Jahrhundert einzuordnen. Zu Trotzkis Geburt ist bereits ein ganzes Jahrhundert seit den wichtigsten Referenzpunkten des Ausgangs aus dem frühkapitalistischen europäischen Kolonialismus vergangen, die Revolutionen in Haiti und Frankreich sind längst vorbei und in die bonapartistische Restauration überführt worden. Auch die Niederlage der Märzrevolution 1848 in Deutschland liegt bereits 30 Jahre zurück. Und auch die kurze Phase der Pariser Kommune von 1871 war schon längst hinweggefegt, als Trotzki 1879 in eine zunächst arme Landfamilie geboren wurde, die später trotz vieler Krisen einige Landarbeiter beschäftigen konnte.
In seinem jungen Erwachsenenleben tendierte der städtisch, jüdisch und eher russisch denn ukrainisch sozialisierte Trotzki zur politischen Bewegung der Narodniki, deren romantisches Nationaldenken auf eine Verbindung des bäuerlich geprägten Lebens mit modernen intellektuellen Inhalten zielte (21). Zum Marxismus kommt Trotzki durch seine Beziehung zu Alexandra Lwowna Sokolowskaja. Welche Schriften von Marx genau zu dieser Zeit an diesem Ort zirkulierten und wie sie rezipiert wurden, ist heute schwer zu beurteilen. Fest steht jedenfalls, dass der junge Trotzki von dieser Zeit an nicht mehr in den Bauern und Intellektuellen, sondern in den wenigen genuinen Industriearbeitern des noch kaum industrialisierten Landes die entscheidende revolutionäre Kraft erblickt – und mit Gleichgesinnten den Südrussischen Arbeiterbund gründet. Bereits 1883 entstand andernorts die Gruppe zur Befreiung der Arbeit (u. a. mit Plechanow, dem Mitbegründer der II. Internationalen, Axelrod und Sassulitsch); 1895 der Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse (u. a. mit Lenin, aufgelöst von der Geheimpolizei 1897).
Keine Leichtigkeit, nachzuvollziehen, auf welche theoretischen Schwerpunkte die Agitation dieses Arbeiterbundes setzte. Trotz der historischen Differenzen dürften jedoch auch damals bereits einige klassische Bezugsprobleme des Marxismus die wichtigste Rolle gespielt haben, die die Gesellschaftstheorie bis heute beschäftigen: Die Suche nach einer neuen, objektiven Beschreibung der Entwicklungen gesellschaftlicher Produktion, der Gründe für den unfreiheitlichen und ärmlichen Charakter des Lebens trotz der wachsenden Produktivkräfte, die Frage nach der Ursache von Kriegen, sowie die Suche nach einem revolutionären Subjekt, dass die alte Herrschaft abschaffen kann und durch eine neue ersetzt, die den Möglichkeiten der Moderne angemessener ist.
Diese neue Art des Denkens zieht jedenfalls schnell einiges Publikum an, Kellner nennt eine Zahl von ca. 10.000 Sympathisanten und Zuläufern zu dem Arbeiterbund (22) – genug, um die zaristische Polizei 1898 zu veranlassen, die Führungsgruppe der Organisation als Staatsverbrecher zu verfolgen. Trotzki, noch nicht einmal 20 Jahre alt, wird zum Verbannten.
Trotzkismus und Bolschewismus
In Haft und Verbannung hört Trotzki von der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands in Minsk und arbeitet bald für deren von Lenin geführten Zeitung Iskra. 1903 konnte die Partei ihren zweiten Kongress mit einer viel größeren Teilnehmerzahl abhalten – es sollte ihr Gründungskongress werden, doch er ging stattdessen als Auftakt zur bis dato folgenreichsten parteipolitischen Spaltung der Welt in die Geschichte ein. Aufgrund unerwartet tiefer organisatorischer und politischer Differenzen kristallisierten sich ein radikaler und ein gemäßigter Flügel heraus – so unerwartet sogar, dass den Beteiligten nichts anders übrigblieb, als die beiden Seiten nach den finalen Abstimmungsergebnissen zu benennen: als Mehrheits- und Minderheitsfraktion, Bolschewiki und Menschewiki.
Die Gruppe um Lenin wollte weder lockere Mitgliedschaftsbedingungen noch ein politisches Programm mit nur mittlerer Reichweite zulassen, eine durchorganisierte Kampfpartei mit revolutionärer Perspektive war ihr Ziel. Lenins Gedanken entstanden zwar in einer Auseinandersetzung mit Marx – gleichzeitig ist aber vor allem in seinem Hauptwerk dieser Zeit, Was tun? (1902), gerade ein politisches, und nicht wie bei Marx ein politökonomisches Problem der Hauptbezugspunkt.
Die Arbeiter*innenklasse werde systematisch von politischer Bildung abgehalten und laufe daher den einfachen Gewerkschaften zu, weswegen Lenin eine politische Avantgardepartei zur Führung vorschlägt. Die Frage bestand dann nur noch darin, wie diese Führung besser organisiert werden kann: Als geschlossene Partei oder als offener Zusammenhang.
Außer Frage stand für Lenin, dass einfache Gewerkschaften Erfolg haben können: „spontane Arbeiterbewegung ist Trade-Unionismus, ist Nur-Gewerkschaftlerei, Trade-Unionismus aber bedeutet eben ideologische Versklavung der Arbeiter durch die Bourgeoisie.“[1] Es sollte noch 15 Jahre dauern, bis Lenin sich daranmachen sollte, diese Ansicht auch in seinen ökonomischen Hauptwerken Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus und Staat und Revolution neu zu begründen. Sicherlich hatte Lenin zu seiner Zeit eine Wahrheit ausgesprochen. Heute dagegen glauben nur noch sehr wenige an die Unreformierbarkeit des Kapitalismus – und eine Theorie, die das nur als Effekt einer Ideologie sieht, macht es sich sehr einfach.
Trotzki war zu dieser Zeit jedenfalls von Lenins Position nicht ganz überzeugt und wendet sich in seiner Schrift Unsere politischen Aufgaben von 1904 gegen einen „jakobinischen Zentralismus“ (24), wie er Lenins Position zusammenfasst. Zur russischen Revolution von 1905 war der 26-jährige Trotzki daher noch kein Bolschewik. Doch auch die Minderheitenposition in der Partei, die daran glaubte, zuerst müssten »normale« kapitalistische Verhältnisse geschaffen werden, bevor eine sozialistische Revolution erfolgen können stieß ihn ab – und wurde auch durch das Scheitern der Revolution 1905 gründlich widerlegt: Weder kam es zu einem Ausgleich der sozialen Extreme noch zu einer Verfassung und funktionierenden demokratischen Organen. Aus heutiger Sicht paradoxerweise wurde diese gemäßigte Politik zu dieser Zeit gerade als marxistische Orthodoxie betitelt, gemäß einer historischen Lesart von Marx’ Werttheorie, in der die einzelnen Stadien der Vergesellschaftung über Waren- und Wertetausch nur nacheinander ablaufen können. So blieb Trotzki „bis zur offiziellen Spaltung in zwei Parteien im Jahr 1912 zwischen den Fraktionen und stellte sich an die Spitze der Versöhnler, die beide zusammenführen wollten“ (25).
Kritik der Sozialdemokratie
In Ergebnisse und Perspektiven von 1906 kam Trotzki zu dem Schluss, dass die Arbeiter*innenklasse gerade aufgrund der ökonomischen Rückständigkeit des Zarenreiches eine stärkere Führung übernehmen müsse. Lenin und die Bolschewiki dagegen, die viel für die Losung der Diktatur des Proletariats geworben hatten, sprachen jetzt eher von einer „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“ (29). In der Auseinandersetzung mit den revolutionären Strömungen entdeckten beide einen ganz neuen Problembereich für sich: Die systematische Kritik der Sozialdemokratie.
Es stellte sich nämlich heraus, dass die Sozialdemokraten viel zu schnell und leicht, in Russland im Laufe nur weniger Jahre, ihren progressiven Charakter gegen einen reaktionären tauschten. Die Möglichkeit, im nationalen Rahmen Anerkennung zu finden war ein Angebot, das viele Parteien der Sozialdemokratie kaum ablehnen konnten. Wie konnte diese Entwicklung theoretisch eingeholt werden?
Die Sozialdemokratie hatte sich zunehmend von der Idee des Internationalismus verabschiedet. Stattdessen gaben sie sich erkennbar damit zufrieden, ihre Rolle als Vertreter der Interessen einer nationalen Arbeiterklasse einzunehmen – Interessen, die im Zeichen der stetig steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals sehr wohl auch im Interesse der Kapitalisten selbst waren, schließlich benötigt komplexere Maschinerie keine verarmten Lumpen, sondern gutausgebildete Vorarbeiter*innen und später vor allem auch Abnehmer für ihren gesteigerten Produktausstoß. Die mühsam aufgebaute Internationale der sozialdemokratischen Parteien zerfiel dann schließlich mit der Zustimmung der jeweiligen Parteien zum ersten Weltkrieg.
Die Frage, wie sich eine gemäßigte Position mit einer radikalen Kritik der gewerkschaftlichen Politik im Terrain eines Staates in den Händen von Grundeigentümern und Bourgeoisie vereinbaren lässt, verwandelte sich daher Stück für Stück in die Frage, wie die Notwendigkeit zur Abkehr von den Parteien der Sozialdemokratie wirksam durchgesetzt werden könnte. Dieser hier vollzogene Bedeutungswandel, der sich in einem Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten ausdrückt, hat sich bis heute stilbildend erhalten.
Von der kritischen zur praktischen Herausforderung
Die Bolschewiki hatten ihre Lektion von 1905 über die Notwendigkeit der Räte zur schnellen Organisierung gelernt und eroberten mit einer Schritt-für-Schritt-Politik, immer fokussiert auf das Ziel eines Umsturzes nicht nur des Zarentums, sondern auch der zu liberalen Zugeständnissen bereiten »Provisorischen Regierung« die Herzen und Mehrheiten in den Sowjets: „Alle Macht den Räten“ (30) war ihre neue Losung während der Aufstände, die in Folge der Not durch den Krieg losgebrochen waren, der zu allem Überfluss auch noch verloren war.
Mit der Verhaftung der Regierung Kerenski übernehmen die Sowjets in der Oktoberrevolution 1917 endlich die Kontrolle im Land und Trotzki beendet als Volkskommissar für äußere Angelegenheiten den Krieg gegen die düpierten deutschen Truppen. 1918 wechselt Trotzki in die Rolle des Kommissars für Kriegswesen und organisiert den Bürgerkrieg im Inneren, der auf die Revolution gefolgt war.
Diese neue Situation stellte die politische Theorie wiederum vor völlig andere Herausforderungen. An die Stelle der Kritik der Sozialdemokratie war nun die Aufgabe der praktischen Gestaltung eines riesigen Flächenlands getreten. Welche Theorie stand schon zur Verfügung, um Revolutionäre dabei zu beraten, wie viel Entgegenkommen gegenüber zaristisch-loyalistischen Offizieren und Truppen angemessen ist? Wieviel Toleranz gegenüber eher anarchistisch inspirierten Aufständen wie in Kronstadt nötig ist, wieviel Unterdrückung von Aufständen gegen die Lasten des Kriegskommunismus gerechtfertigt sein könnte? Wieviel Zwangskollektivierung richtig, wie viel individuelle Freiheit denkbar?
Kellner stellt –ein wenig unfreiwillig– vor allem heraus, wie wenig sich diese Epoche in manchen Hinsichten für die Definition eines heute aktuellen Trotzkismus eignet. Es ist eine Zeit geprägt von Ambivalenzen, Wendungen, Inkonsistenzen auf allen Seiten. Keiner der theoretischen Standpunkte kommt der Entwicklung hinterher. Als einziger konstanter Trend stellt sich später die Bürokratisierung der Partei heraus. Anstatt die offenen Fragen, Herausforderungen und Widersprüche zu organisieren, verwandelt sich die Partei in eine Organisation der Macht – die Bürokratie verschmilzt mit dem Staat, statt ihn, der alten Losung nach, zum Absterben zu bringen.
Überraschenderweise spart Kellner gerade so wichtige Fragen wie die nach der Haltung der Partei zu Feminismus und Homosexualität aus. Zwar stimmt es, dass mit der Aufhebung der zaristischen Strafgesetzgebung auch die Verfolgung von Homosexuellen zurückging.[2] Andererseits war dies vielleicht „nur“ ein Nebeneffekt – es ging den Bolschewiki möglicherweise eher um die Abschaffung des zaristischen Rechtscodex als Ganzes, und weniger explizit um eine Legalisierung der Homosexualität. Überliefert sind nämlich auch Zeugnisse über die Geringschätzung, die manche Bolschewiki solchen vermeintlich bürgerlichen Problemen entgegenbrachten.
Aus Sicht des heutigen Trotzkismus erscheint die kurze Dauer jener progressiven Tendenzen natürlich als ein Nebenprodukt aus der bürokratischen Degeneration der Partei. Aus anderen Perspektiven freilich erscheint diese kurze Periode bis zur Rekriminalisierung der Homosexualität eher als ein Schluckauf der Geschichte, zumal sich diese Rekriminalisierung mindestens bis in die 80er Jahre erhalten hat. Bis heute ist die Forschung hier noch nicht wirklich weitergekommen – keine Theorie hat es bisher geschafft, die Frage nach dem Zusammenhang von verschiedener sozialer Fragen zufriedenstellend zu beantworten.
Die einmal losgetretene Bürokratisierung der Partei samt Verbot jeder Fraktionsbildung ließ sich jedenfalls kaum noch aufhalten. Trotzki selbst wurde von 1926 an zunehmend aus allen Ämtern ausgeschlossen und schließlich 1929 in die Verbannung geschickt. Es sollte neun Jahre dauern, bis die 1938 als Reaktion auf den festgestellten Bankrott sowohl der Sozialdemokratie der II. als auch des Kommunismus der III. Internationale in Paris eine neue, eben trotzkistische IV. Internationale ausgerufen wird.
Exkurs: Die IV. Internationale und Gesellschaftstheorie
Die Grundpositionen einer trotzkistischen Perspektive lassen sich – bei allen großen Differenzen, die es hier gegeben hat – zumindest in den Grundzügen als eine Rückkehr nicht zu den letzten Wahrheiten, sondern zu der Forschungsfrage des Marxismus verstehen: Wie ist die allgemeine Emanzipation aller Menschen gegen jede Unterdrückung zu erreichen?
Marx und Engels fanden in Deutschland eine ähnlich doppelt verfahrene Situation vor, wie später die Revolutionäre in Russland: Einerseits erstickt ein immens repressives System gewaltsam alle Reformbemühungen. Somit wird jede vereinzelte Emanzipationsbemühung scheinbar zu einem Kampf ums Ganze. Andererseits bedeutet dieser vermeintliche Universalismus keine echte Solidarität.
Die universalistische Philosophie der Aufklärung hatte nicht alle Menschen im Sinn, wenn sie an Freiheit und Gleichheit dachte. Natürlich waren z. B. weder Frauen noch nicht-weiße noch nicht-Christen gemeint, und ebenso natürlich auch nicht die nicht-Mitglieder der bürgerlichen Mittel- und Oberklassen. Im Gegenteil, die Menschenrechte des bürgerlichen Humanismus waren eine ideologische, anthropologische Projektion der Notwendigkeiten der Kapitalakkumulation. Für Tausch und Handel mussten die Inhaber der Verfügungsgewalt über Produktion und Konsumption in gewisser Weise gleich sein, und für die flexible, unpersönliche Gestaltung von Arbeitsverhältnissen durch Verträge mussten auch deren Subjekte in gewisser Weise frei sein, Verträge zu schließen.
Keineswegs war die tatsächliche Unfreiheit und Ungleichheit daher nur ein tragischer, kontingenter Fehler in den Verhältnissen, der beizeiten korrigiert werden kann, sondern ein essenzieller Baustein des Kapitalismus: Mit falscher Freiheit und falscher Gleichheit akkumuliert sich eben schneller Kapital. Und wer nicht schnell genug akkumuliert muss mittelfristig in der Konkurrenz untergehen. Insofern hatten die Proletariate und Subalternen gute Gründe, diesen ideologischen Illusionen zu misstrauen und sie abzulehnen, da sie ein ganz deutliches Herrschaftsinstrument darstellten.
Gleichzeitig aber konnten diese Subjekte nicht einfach so einen wirklichen Begriff von Freiheit und Gleichheit aus dem Hut zaubern. Der Kampf gegen den Feudalismus und Kapitalismus ergab nicht von selbst einen Kampf für eine echte Freiheit und Gleichheit, einfach weil diese Begriffe eben komplex und keine leicht verständlichen Allerweltsbegriffe sind. Dass eben z. B. das sexistische Beschimpfen von Frauen* überhaupt nichts mit Freiheit des Ausdrucks zu tun hat, geht selbst heute noch nicht in die Köpfe vieler Menschen hinein. Und auch die Kämpfe für Sozialismus und Internationalismus zogen nicht automatisch ein Ende von ethnischen oder religiösen Ressentiments nach sich. Die Herausforderung der Zeit bestand also in der unmöglichen Quadratur des Kreises, sich einerseits radikal von der materiellen und ideologischen Abhängigkeit der Bourgeoisie zu befreien, andererseits aber die Versprechungen der Moderne auf eine wirkliche Freiheit und Gleichheit in einer wahren Form nicht fallen zu lassen.
Der Trotzkismus kann verstanden werden als der Versuch, sich dieser Herausforderung durch seine drei Kernfunktionen – demokratische Diktatur des Proletariats, Übergangsprogramm und permanente Revolution – anzunehmen. Die Chiffre der Diktatur steht dabei für die Unabhängigkeit von allen bürgerlichen Klassen und deren ideologischen Standpunkten auf dem Weg zur Emanzipation. Das Übergangsprogramm steht für den nötigen, kontrollierten Pragmatismus. Die Permanenz für die Weigerung, unvollkommene Etappenziele als Erfolg zu bezeichnen.
Der Trotzkismus hätte somit als eine praktische Theorie der Aufklärung auftreten können. Hätte, denn nicht nur bei Trotzki und Lenin, sondern natürlich auch bei Marx und Engels ist eine solche politische Theorie der Gesellschaft natürlich noch nicht in dieser Breite und Bedeutung entwickelt, sondern verbleibt deutlich im ersten Teil dieser Entwicklung, nämlich der Ablösung von der kapitalistischen Moderne verhaftet. Auch Trotzkis Ringen mit den kulturellen Aspekten der Revolution, die weit über eine reine Erringung der Macht der Arbeiter*innenklasse hinausreichen, ließ sich nicht mehr zu etwas Umfassenderen verallgemeinern.
Trotzkismus im Fluss der Zeit
Letztendlich ist aber auch die trotzkistische Haltung nicht nur an einer Theoriearmut, sondern auch an einem Zeitalter der Extreme gescheitert, in dem es kaum Luft zum Atmen gab für Emanzipatorisches, sondern vor allem Exzess und Zerstörung das Bild beherrschten. Diese Überforderung ließ die den Trotzkismus nicht unbeschadet zurück – er beginnt, sich theoretisch und praktisch zu zersetzen. Die politische Metaphysik des Trotzkismus war ganz und gar vom Exzess der Revolutionen und Weltkriege vorgezeichnet. „Was aber, wenn dieses »verfaulende« kapitalistische System mehr oder weniger heil aus diesem Weltkrieg heraus und gar zu einer lang andauernden expansiven Periode kommt?“, fragt Kellner zurecht und kommt zum Schluss: „Das überstieg den Horizont der Gründer der IV. Internationale“ (87).
Auf die Zuschauerränge verbannt beobachteten die Trotzkist*innen die Revolutionen in Jugoslawien unter Tito, China unter Mao, Kuba unter Castro und Guevara. Doch ihr Zugang zu diesen Phänomenen schaffte lange nicht den Sprung auf eine allgemeinere Theorieebene, sondern blieb in einzelnen Aspekten verhaftet. Die Geschehnisse wurden z. B. danach beurteilt, wie sehr es die jeweiligen Führungen schafften, sich von Stalin zu distanzieren, oder wie ‚bürgerlich‘ sie waren.
Kellner fasst zusammen: „Von 1953 bis 1963 erlebte die trotzkistische Bewegung … eine scharfe Krise“ (90). Die seit Beginn der fünfziger Jahre verstärkte Strategie des Entrismus, also des Eintritts in sozialdemokratische bzw. kommunistische Parteien zur klandestinen Beeinflussung deren Mitglieder im Sinne trotzkistischer Positionen ist daher weniger als Ursache, sondern eher als Ergebnis einer theoretischen Krise zu betrachten.
Vielleicht ist dies auch eine bessere Erklärung dafür, dass viele Trotzkist*innen den Zeitpunkt für den Absprung aus dem Entrismus verpassten, als Mitte der sechziger Jahre die Politik Europas erneut aus dem Tritt kam und z. B. Mitglieder des SDS für Ihre Kritik an der SPD aus der Partei geworfen wurden. „Es ist kein Zufall“, schreibt Kellner, „dass die deutschen Trotzkisten vergleichsweise spät mit einer unabhängigen Organisation, der Gruppe Internationale Marxisten (GIM) in die durch die Jugendradikalisierung ausgelösten Prozesse eingriffen. Sie konnten dadurch Mitglieder gewinnen, blieben aber doch eher am Rand, und in der ersten Hälfte der 70er Jahre waren links von SPD und DKP die maoistischen Organisationen um ein Vielfaches stärker“ (103).
Die Generation der 68er ist als kulturelle Revolution in die Geschichte eingegangen – doch nicht im trotzkistischen Sinne des Begriffs. Ein maßgeblicher Einfluss war vielmehr gerade die bürgerliche Intelligenz. In einer ganz erheblichen und ebenfalls bis heute stilbildenden Wendung linker Theoriebildung wurde, quer über viele Schulen hinweg, die Idee von der Unabhängigkeit der Linken von bürgerlichem Staat und Ideologie fallen gelassen.
In Deutschland brachte der Aufstieg der Kritischen Theorie die demokratische Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft nach vorne. Der bürgerlichen Gesellschaft sollte der Spiegel vorgehalten, sie sollte an ihren eigenen Maßstäben gemessen werden. In Frankreich stieg mit dem Existenzialismus Sartres eine neue, linke Version der bürgerlichen Freiheitsideologie auf, während gleichzeitig mit einer linguistisch und auf Heidegger orientierten Philosophie ein ganz neuer Anfang für Sozialtheorie gelegt wurde.
Der Trotzkismus heute hat diese Theorieumstellungen noch nicht wirklich verkraftet. Zwar gibt es einige Gruppen, die explizit den Anschluss an akademische Kreise suchen, in denen Fragen dieser Reichweite viel präsenter sind. Es ist aber deutlich, dass diese Gruppen oft viel eher mit der wissenschaftlichen Unterfütterung bereits bestehender Parteipolitik zu tun haben, als wirklich radikale Theorieangebote zu entwickeln. Der auf diese Weise entstehende Eklektizismus, in dem Versatzstücke des Marxismus mit neuer Philosophie zusammengesteckt werden, ist nirgendwo wirklich unter Kontrolle gebracht worden, und steht einer emanzipatorischen Praxis heute ferner denn je.
Besprechung von Manuel Kellner 2013 [2004], Trotzkismus. Einführung in seine Grundlagen – Fragen nach seiner Zukunft, Stuttgart: Schmetterling, 175 S., 10 €
[1] Lenin, W. I. (1963): Ausgewählte Werke, Band I, Berlin: Dietz, 175
[2] Trotzki selbst widmet sich der Frage nach den möglichen Wegen zur progressiven Transformation der gesamten Kultur etwa in: ders. (2001): Fragen des Alltagslebens, Trotzki-Bibliothek Band XVI, Essen: Arbeiterpresse/Mehring
Ich finde den Beitrag hervorragend geschrieben, eine leichtfüßige kritische Besprechung, die den besten Ansatzpunkt nimmt: eine gesellschaftspolitische Relevanz, vor deren Hintergrund eine Besprechung ja überhaupt erst Sinn macht. Ohne im Detail in der Materie zu stehen, muss ich einerseits viele Informationen erst einmal dankend hinnehmen und mich andererseits zu eigenen Fragen inspirieren lassen. Es betrifft ein wenig die „symptomatische“ Einordnung des Trotzkismus. In der Besprechung nun wirkt es so, als sei die Bewegung konsequenterweise Ausdruck und Bearbeitung einer historischen Pattsituation und kommt entsprechend gut weg, als diejenige, die sich ernsthaft mit den Problematiken eines Theorie-Praxis-Dilemmas auseinandersetzt. Dahingestellt, ob dem so sein kann, aber ließe sich, wie du es am Ende selber andeutest, jenes nicht eigentlich über jede Strömung sagen? Kritische Theorie ist die Antwort auf die Sackgasse. Althusser sowieso. Die Post-Marxisten verlängern jene Diagnose für sich… Und alle kommen an ihre jeweilige Praxisgrenze, über die sich dann sagen lässt, sie „hätte[n] somit als eine praktische Theorie der Aufklärung auftreten können.“ Aber „eine solche politische Theorie der Gesellschaft [war] natürlich noch nicht in dieser Breite und Bedeutung entwickelt, sondern verbleibt deutlich im ersten Teil dieser Entwicklung, nämlich der Ablösung von der kapitalistischen Moderne verhaftet.“
Das Scheitern des Trotzkismus wirkt dann ein wenig exemplarisch als die Kombination aus Theoriearmut und Überforderung angesichts der überwältigenden Realität. Aus materialistischer Perspektive berührt das den Knackpunkt: Die Theorie, die die Welt erklären soll, welche zuerst der Ausgangspunkt der Theorie selbst sein muss. Das Problem dabei ist doch also, dass der suggerierte erste Schritt einer „Ablösung von der kapitalistischen Moderne“ nur ein theoretischer sein kann, zumindest wenn man nicht schon das revolutionäre Subjekt an der Hand hat, das entsprechende Tatsachen schafft. Aber: Wenn „die Menschenrechte des bürgerlichen Humanismus […] eine ideologische, anthropologische Projektion der Notwendigkeiten der Kapitalakkumulation [waren]“, die das Begründungsfundament der politischen Praxis bilden, lässt sich dem ja nicht einfach eine wirklich universelle Idee von Freiheit oder Gleichheit in Stellung bringen. Bzw. wo soll diese herkommen? Soweit ich das sehe, haben sich etwa auch Marx und Engels dagegen gewährt, die Erfüllungsgehilfen der Aufklärung spielen zu wollen. Ich denke, dass eine solche Problematik im Kern das Unbehagen berührt, dass sich in den kritischen Abgrenzungsbewegungen a la Poststrukturalismus gegen den Universalismus als Ganzen artikuliert. Nunja, in der falschen Aufhebung des Problems selbstverständlich. Es bringt mich aber dann zumindest zu der Frage zurück, warum der Trotzkismus dann etwas anzubieten hat, außer ein weiterer Ausdruck der Symptomatik zu sein, den man beobachten und bewerten kann. Verzeih, wenn das hier in assoziatives Raten ausuferte. Die Besprechung hat mich offensichtlich angeregt. Danke dafür.