Klasse, Organisation und Determination

Ein Man­i­fest schreiben heißt, sich auf Grund­lage eines the­o­retis­chen Stand­punk­ts zu organ­isieren. Die Antifa Kri­tik & Klassenkampf Frank­furt am Main (AKK) hat mit ihrem Man­i­fest Der kom­mende Auf­prall einen Vorschlag zur Organ­i­sa­tion bzw. Umgrup­pierung link­er Kräfte vorgelegt und dabei aus­führliche Kri­tik an anderen Organ­i­sa­tions­for­men geübt. Zusät­zlich wurde der Anspruch der AKK deut­lich, diesen Vorschlag so umfassend wie möglich mit the­o­retis­chen Über­legun­gen zum generellen Charak­ter der kap­i­tal­is­tis­chen Gesellschaft als zusam­men­hän­gen­dem Ganzen zu untermauern.

Diese Über­legun­gen sind recht schnell an bekan­nte Dilem­ma­ta und Gretchen­fra­gen der The­o­rie gestoßen (u. a.: Die Rolle des Staates, die Möglichkeit ein­er ein­heitlichen The­o­rie, die Frage nach pro­gram­ma­tis­ch­er Klarheit vs. poli­tis­ch­er Ein­heit und das Prob­lem von Reformis­mus und Radikalis­mus). Nicht an allen dieser Eck­punk­te ist es der AKK gelun­gen, diese Prob­leme the­o­retisch voranzubrin­gen, anstatt sie in ver­mit­tel­nden Kom­pro­mis­sen zu entschär­fen. Zen­tral ist, dass das anti-ortho­doxe Selb­stver­ständ­nis des Papiers in Wider­spruch zu seinem neu aufgelegten Klassen­be­griff ste­hen bleibt.

 

Der organ­is­che Gehalt der Zuwen­dung zu einem ortho­dox­en Klassenbegriff

 

Die Beson­der­heit der Zuwen­dung zum Klassen­be­griff, der in dem Papi­er der AKK zen­tral ist, wird ver­ständlich vor dem Hin­ter­grund des pro­gram­ma­tis­chen Spek­trums in Gestalt der Inter­ven­tion­is­tis­chen Linken (iL) und dem …umsGanze!-Bündnis (UG), in dem die AKK speziell als die marx­is­tis­chere, ortho­doxere Alter­na­tive fungiert: Sie kri­tisiert die linksradikale Preis­gabe des Klassen­be­griffs im UG und gren­zt sich von der gemäßigteren sym­bol­o­ri­en­tierten Prax­is der iL ab. Entschei­dend ist, den Begriff ortho­dox nicht gemäß dem ein­studierten Abwehrreflex als etwas Neg­a­tives, als Syn­onym für einen plat­ten Deter­min­is­mus oder Reduk­tion­is­mus zu ver­ste­hen. Ortho­dox ist die Zuwen­dung zum Klassen­be­griff deswe­gen, weil damit auf eine for­male Strenge poli­tis­chen Denkens inner­halb eines gesamt­ge­sellschaftlichen Zusam­men­hangs abgezielt wird, die in anderen Begrif­f­en nicht erre­icht wird. Ortho­dox und wün­schenswert ist der Klassen­be­griff dann, wenn damit nicht nur ein etwas radikaler klin­gen­des Wort für „Schicht“ oder „Milieu“ etc. gemeint ist. Die AKK kommt dem erstaunlich Nahe, wen­det sich diesem Aspekt des Klassen­be­griffs bewusst zu, schreckt aber mit Ver­weis auf die notwendi­ge Abgren­zung von jed­er Ortho­dox­ie (die schlechte, reduk­tion­is­tis­che) vor den Kon­se­quen­zen zurück.

Das Papi­er der AKK begin­nt denn auch nicht mit ein­er solchen begrif­flichen Strenge, son­dern eini­gen abgekämpften Stan­dard­z­i­tat­en über die grundle­gende Krisen­haftigkeit kap­i­tal­is­tis­ch­er Akku­mu­la­tion. Eine Reflex­ion über diese Krisen­haftigkeit müsste ja damit begin­nen, dass das Grundgerüst der demokratisch-kap­i­tal­is­tis­chen Gesellschaft eben trotz der großar­ti­gen Akku­mu­la­tion­sprob­leme der let­zten Jahre so wenig in der Krise ste­ht wie sel­ten zuvor – selb­st wenn demokratis­che Rechte vielerorts eingeschränkt wer­den, ste­ht kaum irgend­wo das Prinzip von Kap­i­tal­is­mus und bürg­er­lich­er Regierung zur Disposition.

Dieser schlecht gewählte Aus­gangspunkt zieht sich durch das Papi­er. Aus­ge­hend von abstrak­ten Über­legun­gen zu der auf der Innen­seite wider­sprüch­lichen Logik von ökonomis­chen Begrif­flichkeit­en (vor allem aus­ge­führt in Marx‘ Kap­i­tal) wird ohne viele Umwege auf die äußere Wider­sprüch­lichkeit und Krisen­haftigkeit von Klas­sen­ge­sellschaften im Ganzen geschlossen. Die Frage, ob kap­i­tal­is­tis­che Staat­en wirk­lich unweiger­lich auf bestands­ge­fährdende Krisen stoßen müssen (und was es bedeuten würde, wenn dem nicht so wäre) wird nicht offen gestellt, weil das Ziel, dass am Ende eine stärkere Beto­nung des Klassen­be­griffs her­auskom­men soll, schon zu Beginn festzuste­hen scheint.

Die Klasse­n­analyse scheint uns im Papi­er der AKK deshalb weniger der the­o­retis­che Ursprung für eine pro­gram­ma­tis­che Neu­grup­pierung zu sein, son­dern nur ein rhetorisches Vehikel für sel­bige: Es geht der AKK nicht um eine Rückbesin­nung auf den Klassen­be­griff als ein äußert mächtiges Werkzeug zur Erken­nt­nis von Ord­nungsmustern der Gesellschaft, son­dern um eine wirk­same Vok­a­bel. Was sich hin­ter der Zuwen­dung zu einem ver­meintlich marx­is­tis­chen Klassen­be­griff ver­birgt, ist weniger eine tat­säch­liche Frus­tra­tion mit der the­o­retis­chen Unzulänglichkeit der inter­ven­tion­is­tis­chen Krisen­the­o­rie (die davon aus­ge­ht, dass Krisen­zeit­en eine gute Gele­gen­heit­en für poli­tis­che Inter­ven­tion darstellen, die nur voraus­set­zt, genü­gend Men­schen aus allen Milieus hin­ter eben solchen starken Sig­nifikan­ten zu sam­meln) und den Grund­la­gen des radikalen Reformis­mus, son­dern eher ein däm­mern­des Bewusst­sein über die eigene Einge­bun­den­heit in ein staat­stra­gen­des Sys­tem organ­is­ch­er Intellektualität.

Der Drang zur Aktu­al­isierung des Klassen­be­griffs ver­stärkt sich in der momen­ta­nen Peri­ode, weil die herrschen­den europäis­chen Insti­tu­tio­nen beweisen, dass sie in Krisen­zeit­en nicht mehr gewil­lt oder genötigt sind, Kon­sens über poli­tis­che Hege­monie herzustellen. Stattdessen gehen sie lieber direkt zur Durch­set­zung ihrer Notwendigkeit­en mit radikalem Entzug von Leben­schan­cen vor. So hat z. B. der Fall Griechen­land gezeigt, dass die europäis­chen Insti­tu­tio­nen wed­er auf die Zus­tim­mung der lokalen Arbeiter*Innenklasse (in Form ihrer Parteien) noch auf die Zus­tim­mung europäisch sozial­isiert­er Intellek­tueller (z. B. in Form deutsch­er Studieren­der) angewiesen sind. Die philosophis­che Intel­li­genz des Zen­trums spürt in dieser Sit­u­a­tion, dass ihre eigene Ver­w­ert­barkeit pro­por­tion­al mit der Kampf­fähigkeit der Arbeiter*Innenklasse sinkt, spürt also (vielle­icht zum ersten Mal seit län­gerem) eine nicht nur sym­bol­is­che son­dern wirk­liche Verbindung zur Gesamtheit der Klas­sen­ge­sellschaft und sucht deshalb aufgeregt die Nähe zu einem ortho­dox­en Klassenbegriff.

Es ist aber dur­chaus zu hin­ter­fra­gen, welche Kon­se­quen­zen dieser Flirt mit der Ortho­dox­ie des Klassen­be­griffs qua­si aus Ver­legen­heit in sich trägt. Denn schnell stößt die Renais­sance des Klassen­be­griffs an einen inneren Wider­spruch zum anti-ortho­dox­en und undog­ma­tis­chen Selb­stver­ständ­nis ein­er Linken, deren let­zte sozial­rev­o­lu­tionäre Pro­jek­te nicht nur trotz, son­dern manch­mal sog­ar ger­ade wegen der Abwe­sen­heit eines strikt klas­sis­tis­chen (d. h. in Parteinahme für eine bes­timmte Klasse und in Beto­nung der poli­tis­chen Unab­hängigkeit von anderen Klassen), antikap­i­tal­is­tis­chen Moments rel­a­tiv­en Erfolg ver­buchen kon­nten. Das stellt die The­o­rie heute vor ein Dilem­ma: Will sie mehr als nur beschreibend sein, ist ein­er­seits die rein addi­tive Verbindung von ver­schiede­nen Kämpfen mit dem Klassen­be­griff nicht befriedi­gend (son­st würde auch bei der AKK nicht ständig der Ver­such unter­nom­men, von ein­er Total­ität zu reden, die offen­bar mehr sein soll als die bloße Summe ihrer Teile). Ander­er­seits schreckt man aber vor einem starken Klassen­be­griff zurück, dem man unter­stellt, er würde die Par­tiku­lar­itäten unter sich einzueb­nen, und nimmt stattdessen diese selb­st zum Aus­gangspunkt. Dieses Dilem­ma hat­te schon viele Gesichter: Universalität/Partikularität, Totalität/Geschichtlichkeit, Theorie/Praxis, Haupt-/Neben­wider­spruch etc. Es holt auch die AKK ein.

Der Grund für diesen zen­tralen Wider­spruch (von dem wir denken, dass er auch nicht durch Ver­weis auf die eben immer kom­plexe Prax­is stillgestellt wer­den kann) liegt nicht darin, dass Gesellschaft­s­the­o­rie heute weniger möglich ist als in anderen Zeit­en, son­dern darin, dass linke The­o­rie es nicht geschafft hat, ein hohes Niveau der Antworten auf die Frage nach dem Ver­weisungszusam­men­hang von Total­ität und Par­tiku­larem, von Ökonomie auf Gesellschaft durchzuhal­ten. Dieses Durch­hal­ten beste­ht nun aber genau darin, eine Organ­i­sa­tions­form zu find­en, die diesen the­o­retis­chen Aus­tausch verbindlich organ­isiert. Das ist etwas anderes als ein plattes Beschwören der Ein­heit von The­o­rie und Prax­is zum Preis eines kle­in­sten gemein­samen Nen­ners zwis­chen beiden.

Insofern als die Abgren­zungs­be­we­gung der AKK zum Linksradikalis­mus und zur gemäßigten The­o­rie und ihr Organ­isierungsvorschlag in genau diese Kerbe schla­gen will, insofern sie diese Fra­gen neu stellen will anstatt auf eine weit­ere inhaltliche Syn­these auf dem gle­ich­bleiben­den for­malen Ter­rain hinzuar­beit­en, insofern sie deshalb die Frage nach Organ­i­sa­tion – auch wenn nur von Organ­isierung gesprochen wird – aufwirft, insofern sie fern­er pos­i­tiv anerken­nt, dass eine „ortho­doxe“ Strenge der The­o­rie sich nicht in dialek­tis­chem Jar­gon erschöpfen kann und das Phänomen der Ortho­dox­ie in diesem Sinne nicht nur ein Gespenst der Ver­gan­gen­heit ist, son­dern je nach his­torisch­er Sit­u­a­tion mal mehr, mal weniger angemessene Lösun­gen für ein durch­weg reales Prob­lem darstellen – insofern also begrüßen wir das Papi­er sehr.

 

Staatskri­tik als Ver­mit­tlung oder Selektion?

 

Dieses reale Prob­lem zwis­chen Ern­sthaftigkeit der Ortho­dox­ie und Erken­nt­nisun­fähigkeit des Anti-Dog­ma­tismus spiegelt sich konkret in ein­er Inkon­sis­tenz im Staats­be­griff. Was bedeutet der Ruf der AKK nach „gehörige[r] Dele­git­i­ma­tion des Staats“[1]? Der Stre­it um die Rolle des Staats hat seinen Ursprung u.a. in der Frage nach der richti­gen Reak­tion auf Krisensituationen.

Ein link­er Key­ne­sian­is­mus (der die Kosten ein­er Krise mith­il­fe des Staates auf Unternehmen statt auf die Arbei­t­en­den und Erwerb­slosen verteilen will) und eine rev­o­lu­tionäre Poli­tik (die den Staat als Schutz­macht der Unternehmen in der gegebe­nen Form sub­vertieren und sabotieren will, also z. B. Polizeiap­pa­rate auflöst, Gren­zen öffnet, [immer­hin steuerzahlende] Unternehmen enteignet etc.) schließen sich nicht in jed­er Sit­u­a­tion aus. Erst wenn es aber (z. B. im Gefolge ein­er Wirtschaft­skrise) wirk­lich ein­mal zu ein­er Kon­fronta­tion in dieser Frage kommt, wird die Frage für die The­o­rie inter­es­sant: Es wird dann näm­lich eine The­o­rie nötig, die auf län­gere Sicht die Wahrschein­lichkeit­en für den Erfolg der einen oder anderen Prax­is abschätzen bzw. ver­gle­ichen kann, sprich, die in der Lage ist, die Ver­fas­sung der Gesellschaft ins­ge­samt inklu­sive ihrer möglichen Bewe­gun­gen als Total­ität näherungsweise vorherzusagen.

In der Regel wird jedem Ansatz, der in ein­er solchen Kon­flik­t­si­t­u­a­tion auf der Deter­mi­na­tion des staatlichen Über­baus durch die ökonomis­che Basis pocht, sofort ein dog­ma­tis­ch­er Reduk­tion­is­mus vorge­wor­fen (beispiel­sweise Lenin’scher Herkun­ft). Der Reflex, sich einen solchen Vor­wurf zu ers­paren, ist entsprechend ein­trainiert. Auch die AKK tut lei­der alles, um sich nur so weit wie möglich von einem solchen Denken abzu­gren­zen. Den­noch kommt sie nicht darum herum, kor­rek­ter­weise auf ein­er Unab­d­ing­barkeit der „funk­tion­ieren­den Kap­i­ta­lakku­mu­la­tion“[2] für staatlich­es Han­deln zu beste­hen. Eine schein­bar salomonis­che Formel, die in ihrer entschärften, weil anti-dog­ma­tis­chen Ver­all­ge­meinerung, allerd­ings nur noch sagen kann, dass irgend­wann dem­nächst irgen­det­was zwis­chen Entwer­tung, Rentenkürzung und Faschis­mus passieren muss, sofern nicht eine sozial­rev­o­lu­tionäre Umwälzung ein­tritt. Statt aber diese ursprünglich sehr richtige Set­zung als The­o­riegrund­lage ein wenig durchzuhal­ten kann die AKK in dieser Ver­all­ge­meinerung natür­lich gar nicht anders, als schließlich auf ein Amal­gam aus Habermas‘schem (Stich­wort Legit­im­ität von Protest und Legit­i­ma­tion­sprob­leme des Staats) und post­marx­is­tis­chem (Stich­wort hege­mo­ni­ale Ver­schiebun­gen) Denken zu setzen.

Die AKK scheint einen Mit­tel­weg zwis­chen bei­den gehen zu wollen. Sie will die Legit­i­ma­tion­sprob­leme des Staates vorantreiben, d. h. an den gesellschaftlichen Man­gel­er­schei­n­un­gen anset­zen, die jene Möglichkeit bieten wür­den, dass die Men­schen sich besten­falls nicht nur ihrer Prob­lem- son­dern auch noch ein­er irgend­wie geart­eten Klassen­lage bewusst wer­den. Gle­ichzeit­ig will sie eine Gegen­hege­monie erricht­en, also linke Weltan­schau­ungsmuster in das kul­turelle All­t­ags­be­wusst­sein tra­gen, die mit dem Sta­tus Quo nicht kom­pat­i­bel sind. Durch die Lap­pen geht dabei der Blick auf den Staat als wirk­liche Inkar­na­tion von Hege­monie und Zwang: Ein­er­seits will das Man­i­fest den kap­i­tal­is­tis­chen Staat als ide­ol­o­gis­che Instanz präsen­tieren, der sich für den Weg ein­er hege­mo­ni­alen Ein­bindung der Massen entschei­det, und zu diesem Zwecke darüber richtet, was als legit­im gel­ten kann und was nicht. Der­selbe Staat (und das­selbe ide­ol­o­gis­che Ter­rain) soll ander­seits auch das Spielfeld der par­tiku­laren Kämpfe um eine Befreiung aus der ökonomis­chen Deter­mi­na­tion bilden. Doch warum sollte der Staat eine solche Inter­ven­tion zulassen, wenn sein Beste­hen auf­grund der ange­blichen inneren Wider­sprüche des Kap­i­tal­is­mus ger­ade von der Aufrechter­hal­tung von Legit­i­ma­tion trotz beschle­u­nigtem Abbau von Leben­schan­cen durch Einspar­maß­nah­men abhängt?

Es scheinen, so unsere These, in diesen Inkon­sis­ten­zen die Attitü­den ein­er gemäßigten, pro-europäis­chen, pro-staatlichen Lin­ie ein­er­seits (die die fak­tis­chen Erfolge und Hand­lungsmöglichkeit­en nicht ignori­eren will) und ein­er radikalen Lin­ie der Hege­monie-ori­en­tierten Denkarten ander­er­seits (wie sie beispiel­sweise eben unter den Ansätzen ein­er „radikalen Demokratie“, „radikaler Bedürfnisse“ oder „radikaler Poli­tik“ fir­mieren), die jeden Staat auton­o­mistisch inspiri­ert als reinen Feind wahrnehmen, sich gegen­seit­ig unpro­duk­tiv zu über­lagern. Statt also die Ten­den­zen, von den sich the­o­retisch abge­gren­zt wer­den soll, mit ein­er wirk­lichen, den eige­nen Stand­punkt aufheben­den Kri­tik zu ver­sor­gen, erscheint die AKK hier ger­ade als der ide­ol­o­gis­che Kitt zwis­chen bei­den Seit­en. Das Prob­lem, dass eine scharfe Ablehnung des Kap­i­tal­is­mus als Total­ität nicht ohne weit­eres mit der par­tiku­lar erfahrbaren Inte­gra­tionsleis­tung kap­i­tal­is­tis­ch­er Gesellschaften zusam­menge­ht, wird ‚nur‘ als Organ­i­sa­tion­sprob­lem dargestellt. Damit ist die prinzip­ielle Verbindungs­fähigkeit der Kämpfe immer schon unter­stellt und somit die the­o­retis­che Her­aus­forderung eigentlich ver­fehlt oder schlimm­sten­falls sog­ar überdeckt.

Weil aber gle­ichzeit­ig eine Antwort auf diese Frage von der etablierten Sozial­wis­senschaft und Poli­tik nicht zu erwarten ist, muss sie stattdessen tat­säch­lich selb­st-organ­isiert wer­den und ist also auch ein Organ­i­sa­tion­sprob­lem. Und weil diese bei­den Achsen der Organ­isierung an dieser Stelle so eng beieinan­der liegen ist nicht immer klar, an welch­er der bei­den Seit­en ein Sozial­is­tis­ches Büro im Sinne des Vorschlags der AKK eigentlich arbeit­en soll.

Insofern als sich mit dem Man­i­fest ein erster Schritt dahin abze­ich­net, das Phänomen, dass es inner­halb der Linken mit teils guten Grün­den so unter­schiedliche Auf­fas­sun­gen zum Staat und zur Entwick­lung­s­ten­denz der (kap­i­tal­is­tis­chen) Gesellschaft gibt, selb­st wieder auf die Tage­sor­d­nung von The­o­rie und Organ­i­sa­tion zu set­zen, begrüßen wir diesen Schritt sehr. Weil aber damit gle­ichzeit­ig die Gefahr ver­bun­den ist, die The­o­rie in dieser Frage zum Zwecke ein­er raschen Organ­i­sa­tions­bil­dung weit­er zu niv­el­lieren statt offen auszu­tra­gen, brin­gen wir dem Vor­gang gle­ichzeit­ig eine große Skep­sis entgegen.

 

Kri­tik und Totalität

 

Wir denken, dass die Kat­e­gorie der gesellschaftlichen Total­ität, auf den das Man­i­fest sich mehrfach pos­i­tiv bezieht, ein wichtiger Schlüs­sel dafür sein kann, um diese Wider­sprüche inner­halb link­er The­o­rie pro­duk­tiv zu wen­den. Auch der Total­itäts­be­griff wird im Man­i­fest allerd­ings eher mys­ti­fiziert, wenn er nur bedeuten soll, „dass die ver­schiede­nen Herrschaftsver­hält­nisse nicht ein­fach unver­mit­telt nebeneinan­der ste­hen, son­dern Teil ein­er Total­ität sind, die gebun­den ist an abstrak­te Arbeit, Ware, Mehrw­ert, Akku­mu­la­tion, Zweigeschlechtlichkeit, geschlechtlich kon­notierte, unent­lohnte Repro­duk­tion­sar­beit sowie an ras­si­fizieren­den Nation­al­staat und Impe­ri­al­is­mus“[3]. Mys­ti­fiziert deswe­gen, weil das Wesen dieser dreifachen „Bindung“, in der ein­er­seits Indi­viduen in Herrschaftsver­hält­nisse gebun­den wer­den, diese Ver­hält­nisse dann wiederum in nicht-triv­ialer Weise an eine Total­ität gebun­den sind die dann ihrer­seits wieder gebun­den ist an eine Hand­voll der Grund­kon­stan­ten von Kap­i­tal­is­mus und Patri­ar­chat, sys­tem­a­tisch eine black box bleibt: Was macht die Natur dieser Bindung aus? Wie aktu­al­isiert sie sich?

Ein solch­er Begriff von Total­ität, der Herrschaftsver­hält­nisse in Beziehung set­zen will zu dem Preis, über das „Medi­um“ dieser Beziehung nicht mehr viel sagen zu kön­nen, erstens sein­er Auf­gabe nicht wirk­lich gerecht wird und zweit­ens eher schlecht als recht mit einem Klassen­be­griff zusam­men­passt. Der näm­lich ist ganz dezi­diert ger­ade Teil des Vorschlags, wie das Wesen dieser Bindung tat­säch­lich zu benen­nen und wie dage­gen vorzuge­hen sei. Die These, „dass die gesellschaftliche Total­ität nicht im Kap­i­talver­hält­nis aufge­ht“[4] will schlicht nicht recht mit einem starken Klassen­be­griff zusam­men­passen. Den­noch ist es mutig und richtig von der AKK, die Frage zumin­d­est aufzuw­er­fen, worin sie denn aufge­ht – auch wenn eine überzeu­gende Antwort vor­erst noch aus­bleibt. Wir glauben allerd­ings den­noch, dass hier dem Kap­i­tal­be­griff unnötig eine Essen­zial­isierung untergeschoben wird, nur um sie dann im sel­ben Atemzug zu kri­tisieren – eine Oper­a­tion, die nur dazu geeignet scheint, ger­ade von dem wesentlichen Ele­ment der Kat­e­gorie der Total­ität abzu­lenken: Der Determination.

 

Deter­mi­na­tion oder Dis­pos­i­tiv?

 

An diesem Punkt laufen die prak­tis­chen Inkon­sis­ten­zen auf ihre the­o­retis­che Grund­lage zu, in der sie bere­its angelegt sind. Der Mech­a­nis­mus, der den par­tiku­laren Kämpfen ihre klassen­be­wusste Kop­plung ver­lei­hen soll, ist der explizite Ver­weis auf die gesellschaftliche Total­ität. Dieser Gesamtzusam­men­hang ist jedoch the­o­retisch frag­würdig: So emphatisch er von der AKK als ein bes­timmter in Stel­lung gebracht wird, so hart­näck­ig wird darauf behar­rt, er sei keines­falls ein bes­tim­mender. Es find­et sich darin die Nach­wirkung eines weitver­bre­it­eten All­ge­mein­platzes, der jedes Denken der Deter­mi­na­tion auf einen schlecht­en Deter­min­is­mus reduziert. Von recht­en Vor­wür­fen des Reduk­tion­is­mus, der Meta­physik, bis zur inner­linken Auseinan­der­set­zung um Haupt- und Neben­wider­spruch und den Fleißübun­gen im Anti­dog­ma­tismus – seit Langem wird der kat­e­gorische Auss­chluss ein­er Dimen­sion der Total­ität der Ver­hält­nisse als Teil­nah­mebe­din­gung am the­o­retis­chen wie poli­tis­chen Diskurs geset­zt. Aber auch da, wo ein Total­ität­sanspruch wieder behauptet wird, im Man­i­fest der AKK, ist er um sein eigentlich­es Merk­mal gebracht, als nicht-deter­min­is­tis­che Total­ität und damit, in let­zter Kon­se­quenz, als eine tau­tol­o­gis­che Beschrei­bungskat­e­gorie: Alles was ist, ist alles was ist.

Der entschei­dende marx­is­tis­che Punkt aber ist, die Total­ität als ein Deter­mi­na­tion­szusam­men­hang zu begreifen. Wenn entsch­ieden wird, von der Total­ität des Kap­i­talver­w­er­tung­sprozess­es zu sprechen, dann ist damit die These aus­ge­sprochen, dass die zen­trale Eigen­schaft dieses Prozess­es – die Tren­nung der Arbei­t­en­den von der Ver­fü­gungs­ge­walt über die Pro­duk­tion­s­mit­tel – für alle anderen Eigen­schaften und Entwick­lungsmöglichkeit­en des Kap­i­tal­is­mus prinzip­iell ver­ant­wortlich ist. Eine solche Annahme eines bes­tim­menden Gesellschaft­szusam­men­hangs ist voraus­set­zungsre­ich und kann natür­lich ver­wor­fen wer­den. Nicht sin­nvoll erscheint es uns aber, diese These ein­er­seits expliz­it zu ver­w­er­fen und ander­er­seits den Klassen­be­griff trotz­dem als nicht-deter­minieren­des, sozusagen dynamis­ches Mod­ell sozialer Schich­tung mitzuschleifen.

Das Unbe­ha­gen vor einem solchen ver­meintlich deter­min­is­tis­chen Total­itäts­be­griff ver­gisst leicht, dass wir den ‚kri­tis­chen‘ Impuls gegenüber einem total­itären Denken wed­er post­marx­is­tis­ch­er The­o­riebil­dung, anti­au­toritär­er Bewe­gung oder gar den reak­tionären Kri­tiken ver­danken – er ist vielmehr der Kern des Marx­is­mus seit Anbe­ginn. Marx’ Kri­tik an Hegels The­o­rie der Total­ität der bürg­er­lichen Gesellschaft als eine ide­al­is­tis­che Abstrak­tion, legte ihm den Grund­stein für eine mate­ri­al­is­tis­che Analyse, die in der Kat­e­gorie der Total­ität nicht den Deter­mi­na­tion­szusam­men­hang ver­warf, son­dern diesen in sein­er realen Aus­prä­gung erfasste. Kap­i­tal als Total­itäts­be­griff ist nicht als Mys­ti­fika­tion, son­dern als Abbil­dung der Real­ität konzip­iert, und das macht Marx zum ersten Anti-Dog­matik­er über­haupt, dessen the­o­retis­che Geste der Grundim­puls jen­er fol­gen­den marx­is­tis­chen The­o­rieange­bote war.

Es ist mithin ver­wun­der­lich, die dezi­diert marx­is­tis­che Kat­e­gorie der Deter­mi­na­tion mit der Kri­tik am Deter­min­is­mus zu ver­w­er­fen, zu der sie zu allererst selb­st ange­treten war. Aber jen­er Schritt ist im zeit­genös­sis­chen Anti-Dog­ma­tismus der­maßen inter­nal­isiert, dass selb­st der aufgek­lärte Ver­such, sich von der­lei Missver­ständ­nis­sen in eine Aktu­al­isierung des Klassen­be­griffs zu befreien, davon kon­t­a­miniert bleibt. Das zeugt von einem the­o­retis­chen Defiz­it, dessen Fol­gen nicht unbeachtlich sind, ver­lagert sich doch der Fall­strick des the­o­retis­chen Ide­al­is­mus (abstrak­te Total­ität) in die prak­tis­che Wirkungslosigkeit.

Daher bleibt auch die Frage nach dem Ver­hält­nis zum Staat in ein­er ide­al­is­tis­chen Zwis­chen­lö­sung: Der Staat ist Aus­druck ein­er bes­timmten Total­ität der Ver­hält­nisse, aber er soll für die Kämpfend­en zugle­ich für Verän­derun­gen erre­ich­bar sein. Um diesen wider­sprüch­lichen Anforderun­gen gerecht zu wer­den, wurde im Wind­schat­ten der Öff­nung des Marx­is­mus um den Mai 1968 von Michel Fou­cault das Konzept des Dis­pos­i­tivs erfun­den: eine Art strate­gis­ch­er Knoten im Netz des Diskurs­es. Der Trick dabei ist, eine Analyse auf Makroebene ihrem über­greifend­en Deter­mi­na­tion­szusam­men­hang zu entreißen, um sie damit dem mikropoli­tis­chen Wider­stand zugänglich zu machen. Hier find­et sich der Arche­typ der Sehn­sucht nach ein­er prag­ma­tis­chen Mitte, deren Kon­se­quen­zen auch die AKK betr­e­f­fen. Denn der Klassen­be­griff, so wie er im Man­i­fest erscheint, fungiert genau als ein solch­es Dis­pos­i­tiv – und seine Dif­ferenz zu einem marx­is­tis­chen Klassen‑, Staats- und Krisen­be­griff im Geiste der Deter­mi­na­tion (also ein solch­er, der real unter­schiedliche Stand­punk­te nicht durch die Forderung nach einem gemein­samen Stand­punkt unter­drückt, son­dern ein Ange­bot darstellt, die tat­säch­lichen Gemein­samkeit­en der Stand­punk­te her­auszuschälen) ist eine entschei­dende: Er ist zwar eine kon­stru­ier­bare Klam­mer für unter­schiedliche Kämpfe, aber gibt genau damit den Anspruch auf, die reale Klam­mer zu sein.

Die Ern­sthaftigkeit der Unternehmung der AKK müsste sich nun daran messen lassen, ob es gelingt, die Organ­i­sa­tions­frage des SB auf dieses grundle­gende und reale Dilem­ma zu beziehen. Nehmen wir nun den Wider­spruch zwis­chen radikalre­formerisch­er Staatskri­tik und ihrer rev­o­lu­tionären Unmöglichkeit ein­mal an, so lautet die kon­se­quente Frage: Wie würde sich ein SB in ein­er solchen Kon­flik­t­si­t­u­a­tion ver­hal­ten? Nach welchen Kri­te­rien bes­timmt ein SB, wie staat­stra­gend bzw. wie sozialdemokratisch eine Grup­pierung sein ‚darf‘, um am Kom­mu­nika­tion­snet­zw­erk des SB teil­haben zu kön­nen? Nach welchen Gesicht­spunk­ten kann ein SB entschei­den, wie mit der Staats­frage weit­er umzuge­hen ist? Wie unter­schei­det das SB zwis­chen strin­gen­ter For­m­analyse des Staates und Sek­tier­ertum? Wie bindet das SB wis­senschaftliche Unter­suchun­gen arbeit­steilig ein, ohne sich dem Intellek­tuel­len­be­trieb preiszugeben? Das sind die wichti­gen Fra­gen, die es für ein solch­es Büro ganz konkret zu stellen gilt. Die Ver­mu­tung liegt nahe, dass die Real­ität der kap­i­tal­is­tis­chen Total­ität die undog­ma­tis­chen Organ­i­sa­tion­sstruk­turen nicht ver­schont, so sub­ver­siv sie sich auch bemühen, den Gesamtzusam­men­hang in han­dliche Dis­pos­i­tive zu zer­legen. Sollte es darauf unbe­friedi­gende Antworten geben, so liegt der Schluss nahe, dass diese schon in der the­o­retis­chen Schwäche angelegt sind, das Beken­nt­nis zur gesellschaftlichen Total­ität nicht als Beken­nt­nis eines gesellschaftlichen Deter­mi­na­tion­szusam­men­hangs zu begreifen.

 

Faz­it

 

Es ist der Ver­di­enst der AKK, im Rah­men der Suche nach ein­er Antwort auf die Organ­isierungs­frage auch die Auseinan­der­set­zung um einen Total­itäts­be­griff wieder anzus­toßen, die da automa­tisch notwendig wird, wo der Klassen­be­griff zu ein­er sin­nvollen Gel­tung kom­men soll. Dazu gehört auch eine scho­nungslose Befra­gung des kat­e­gorischen Anti-Dogmatismus.

Das Man­i­fest ist dazu ein wichtiger Schritt. Die Debat­te, was eine angemessene Organ­i­sa­tions­form ist, ist mit dem Man­i­fest erneut aus­gerufen und real. Bis auf weit­eres aber, d. h. solange dieser Umbau weit­er­hin geschieht, wäre es wün­schenswert, dass das Man­i­fest als Strate­giepa­pi­er anfängt, eine gewisse Verbindlichkeit auszus­trahlen. Die AKK wäre möglicher­weise gut damit berat­en, nicht vor den Kon­se­quen­zen der eige­nen the­o­retis­chen Arbeit zurück­zuschreck­en und ihre Rolle als Theoriearbeiter*innen ernst zu nehmen. Das hieße ger­ade die Ver­ant­wor­tung für einen Mas­ter-Plan zu übernehmen, die lei­der bere­its in der Ein­leitung zu ihrem Papi­er zurück­gewiesen wird.

 

von Flo­ri­an Geisler und Alex Struwe

 

Der Beitrag erschien zuerst in Diskus. Frank­furter Student_innen Zeitschrift, 55 (2), 46–51.

 

[1] Ebd., 4

[2] Ebd., 4

[3] Ebd., 10f

[4] Ebd. 10

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