Der Horizont des Populismus

 

Dia­gno­sen einer gesell­schaft­li­chen Regres­si­on hört man bei­na­he über­all: die Welt sei aus den Fugen gera­ten, man ver­ste­he sie nicht mehr, the world is a mess. Die all­ge­mei­ne Kri­sen­wahr­neh­mung hat längst die Grund­la­gen libe­ra­ler Gesell­schaf­ten erfasst, die reprä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie, die poli­ti­sche Kul­tur eines ver­mit­teln­den Dia­logs, zusam­men mit der Gül­tig­keit der Fak­ten und der Bere­chen­bar­keit ratio­na­ler Nut­zen­ma­xi­mie­rung. Der Ter­ror­an­schlag in der nächst­ge­le­ge­nen Metro­po­le oder das Abschmel­zen der Pol­kap­pen besorgt schließ­lich noch den Rest der grund­le­gen­den Ver­un­si­che­rung und Angst.

Der Popu­lis­mus, in dem sich das gesell­schaft­li­che Bewusst­sein der Unsi­cher­heit schein­bar poli­tisch aus­drückt, wird dem­entspre­chend oft als ein Auf­be­geh­ren gegen die Zumu­tun­gen der Kri­se gedeu­tet. Er sei so etwas wie der Abwehr­re­flex gegen den Kon­troll­ver­lust, die For­de­rung, eine aus den Fugen gera­te­ne Welt wie­der dem Zugriff der ver­meint­lich Abge­häng­ten zu unter­stel­len. Die anklin­gen­de demo­kra­ti­sche Roman­tik von Volks­sou­ve­rä­ni­tät macht ihn dabei für Rech­te wie für Lin­ke attrak­tiv. In bei­den Rich­tun­gen ent­puppt er sich all­zu schnell als regres­si­ve Ten­denz. Nicht nur wo der kri­sen­ge­schüt­tel­te Demos Ver­ant­wort­li­che zur Rechen­schaft zie­hen will (wie das Estab­lish­ment) oder die Rück­be­sin­nung auf etwas ver­meint­lich Bestän­di­ges phan­ta­siert wird (wie die Volks­ge­mein­schaft), son­dern auch dort, wo Mensch­lich­keit gegen die Glo­bal Play­ers in Stel­lung gebracht wird.

Die rech­te Vari­an­te des Popu­lis­mus wird von Lin­ken als anti­mo­dern und anti­li­be­ral kri­ti­siert, oft mit dem Hin­weis, die zugrun­de­lie­gen­den Ängs­te der Men­schen müss­ten den­noch ernst genom­men und ›von links‹ arti­ku­liert wer­den. Es ist ja so, dass die Kri­se und Unsi­cher­heit in allen Lebens­be­rei­chen real ist. Man müs­se folg­lich die berech­tig­ten Ängs­te der Men­schen in die rich­ti­ge Rich­tung len­ken, einen demo­kra­tisch ein­wand­frei­en Umgang zur Mobi­li­sie­rung der Affek­te und Ängs­te fin­den. Die­ses Mobi­li­sie­rungs­po­ten­ti­al hat enor­me Strahl­kraft für eine mar­gi­na­li­sier­te und von Kom­ple­xen zer­fres­se­ne gesell­schaft­li­che Lin­ke, die schon lan­ge kein revo­lu­tio­nä­res Sub­jekt mehr adres­sie­ren kann und sich des­halb in demo­kra­ti­schen Ver­fah­ren üben muss. Von der Links­par­tei bis in die Bünd­nis­po­li­ti­ken der radi­ka­len Lin­ken hin­ein fin­det sich irgend­wie die Vor­stel­lung – mal offe­ner, mal sub­ti­ler –, man müs­se den Popu­lis­mus als Tech­nik nur rich­tig einsetzen.

Das Pro­blem an die­ser Vor­stel­lung ist, dass sie sich für den gesell­schaft­li­chen Ursprung jener Ängs­te und Ver­un­si­che­run­gen nicht mehr inter­es­siert. Indem sie die Angst zu ihrem poli­ti­schen Aus­gangs­punkt und ent­spre­chend zu einer Ursa­che erklärt, repro­du­ziert sie jene Ord­nung, aus der Angst, Regres­si­on und Popu­lis­mus erst her­vor­ge­hen kann. Der poli­ti­sche Popu­lis­mus bestä­tigt die gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se und ihre Unver­än­der­lich­keit. Die­se Eigen­schaft tei­len auch die gän­gi­gen Ana­ly­sen popu­lis­ti­scher Poli­tik und erschöp­fen sich schnell in der blo­ßen Bewer­tung eines guten oder schlech­ten Popu­lis­mus. Wir wol­len hier­mit die The­se ver­tre­ten, dass die­se Ver­kür­zung der Theo­rie und Pra­xis des Popu­lis­mus auf einen viel wei­te­ren Hori­zont der Poli­tik und Theo­rie über­haupt hin­deu­tet, der drin­gend als Ideo­lo­gie zu kri­ti­sie­ren ist.

 

Der gesell­schaft­li­che Zustand der Angst

Für eine sol­che Kri­tik muss zunächst die Illu­si­on einer Kri­se in Fra­ge gestellt wer­den. Kei­nes­falls ist die viel­zi­tier­te Unsi­cher­heit eine neue Dia­gno­se und es ist auch nicht so, dass erst kürz­lich die Boo­mer-Genera­ti­on von kri­sen­ge­schüt­tel­ten Mill­en­ni­als abge­löst wor­den wäre, weil doch im soge­nann­ten For­dis­mus alles bes­ser gewe­sen sei. Die Ver­un­si­che­rung ist viel­mehr so alt wie die Moder­ne selbst und man wur­de ihr gewahr mit der Ent­de­ckung der Geschich­te: dem Erken­nen der Ver­än­de­rung der mensch­li­chen Gesell­schaft. Für Marx war die per­ma­nen­te Selbst­re­vo­lu­tio­nie­rung der Ver­hält­nis­se im Kapi­ta­lis­mus die Grund­la­ge die­ser Erkennt­nis und dafür, dass die Men­schen ihr Gestal­tungs­po­ten­ti­al wahr­nah­men. Denn erst wo »alles Stän­di­sche und Ste­hen­de ver­dampft«, sind »die Men­schen […] end­lich gezwun­gen, ihre Lebens­stel­lung, ihre gegen­sei­ti­gen Bezie­hun­gen mit nüch­ter­nen Augen anzu­se­hen«[1]. Da, wo sich die Sicher­hei­ten der gesell­schaft­li­chen Ord­nung auf­lö­sen, wird deren his­to­ri­scher Cha­rak­ter sicht­bar und sie als ver­än­der­bar erkannt.

Die­se »Ver­un­si­che­rung« ist daher, all­ge­mei­ner gesagt, die Bedin­gung der Auf­klä­rung. Gewis­ser­ma­ßen moti­viert die his­to­ri­sche Beweg­lich­keit der Gesell­schaft den Anspruch, die­se Bewe­gung ver­ste­hen und gestal­ten zu wol­len. Die Erschüt­te­rung der gesell­schaft­li­chen Gewiss­hei­ten, des Glau­bens und der Ord­nung ist daher aus eman­zi­pa­to­ri­scher Sicht kei­nes­falls eine Bedro­hung, son­dern gera­de die Mög­lich­keit zur Ein­rich­tung des guten Lebens für alle. Kraft der Erkennt­nis wird die Welt ent­mys­ti­fi­ziert und damit beherrschbar.

Nai­ve Eupho­rie für das Ver­spre­chen der Auf­klä­rung ist natür­lich unan­ge­bracht. Hork­hei­mer und Ador­nos Dia­lek­tik der Auf­klä­rung zeig­te deren Anteil an den zivi­li­sa­to­ri­schen Kata­stro­phen, geschei­ter­ten Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gun­gen und den not­wen­di­gen Zusam­men­hang von Erkennt­nis und Mythos. Letz­te­rer zeigt sich auch in der heu­ti­gen Situa­ti­on, in der unfass­ba­rer wis­sen­schaft­li­cher Fort­schritt und abso­lu­te Ahnungs­lo­sig­keit über die sozia­le Welt Hand in Hand gehen. Der eman­zi­pa­to­ri­sche Aspekt der Erkennt­nis scheint dar­in bereits ver­lo­ren und damit die Ver­un­si­che­rung nur noch als Angst wahrnehmbar.

Es han­delt sich dabei um eine Radi­ka­li­sie­rung der Ver­un­si­che­rung, also das Über­grei­fen der Unsi­cher­heit auf die Erkennt­nis selbst: Hin­ter den stän­dig erschüt­ter­ten Sicher­hei­ten gibt es nichts Ande­res mehr zu erken­nen als deren grund­sätz­li­che Ver­än­der­bar­keit – und jedes all­zu genaue Hin­se­hen, in wel­che Rich­tung die Ver­än­de­rung gehen mag, wird lie­ber unter­las­sen, denn es gebe womög­lich doch eini­ges mehr zu ver­lie­ren, als die eige­nen Ket­ten. Die Gesell­schaft besit­ze kei­nen sub­stan­ti­el­len Gehalt mehr, son­dern sei nur noch rei­ne Dyna­mik, deren höchs­te Erkennt­nis in der Ein­sicht ihrer abso­lu­ten Grund­lo­sig­keit bestehe. Damit bleibt sie undurch­schau­bar und ist weder dem Gestal­tungs­po­ten­ti­al des revo­lu­tio­nä­ren Sub­jekts noch dem Indi­vi­du­um zugäng­lich, son­dern nur noch der Schau­platz der emp­fun­de­nen Ohn­macht der viel­zi­tier­ten Modernisierungsverlierer.

Die­ser gesell­schaft­li­che Zustand wur­de bereits 1986 als popu­lis­ti­scher Moment beschrie­ben. Der Sozio­lo­ge Hel­mut Dubiel bezeich­net damit kryp­tisch eine Situa­ti­on, in der »jene arbi­trä­re Bezie­hung zwi­schen poli­ti­scher Sub­jek­ti­vi­tät und mani­fes­ten poli­ti­schen Rich­tungs­tra­di­tio­nen in Pha­sen eines kri­sen­haft beschleu­nig­ten sozia­len Wan­dels zu einer unmit­tel­ba­ren his­to­ri­schen Rea­li­tät wird«[2]. Gemeint ist die Ver­un­si­che­rung als eine Art per­ma­nen­ter und alles umfas­sen­der Zustand, in dem die Belie­big­keit jeder Deu­tung der Welt zum abso­lu­ten Hori­zont gewor­den ist, auch für die Sozi­al­wis­sen­schaft und die Berufs­po­li­tik. Der popu­lis­ti­sche Moment ist so etwas wie die poli­ti­sche Ver­si­on vom Ende der gro­ßen Erzäh­lun­gen: Die Bezie­hung zwi­schen dem Sub­jekt und sei­ner poli­ti­schen Ori­en­tie­rung kön­ne sich auf kei­ner­lei Not­wen­dig­keit mehr bezie­hen, kei­ne Klas­sen­la­ge, kei­ne sons­ti­ge bestimm­ba­re Realität.

Für das Indi­vi­du­um bedeu­te dies eine Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit, in der es auf sei­ne grund­le­gen­de Cha­rak­ter­struk­tur zurück­ge­wor­fen wer­de, also auf sub­li­mier­te Trie­be die sich mit gesell­schaft­li­chen Krän­kungs­er­fah­run­gen und dem Gefühl der Ohn­macht gegen­über den ver­ding­lich­ten Ver­hält­nis­sen mischen. Dies ent­spricht genau jener poli­ti­schen Sub­jek­ti­vi­tät, der sich der Popu­lis­mus zuwen­det. Popu­lis­mus ist dann schlicht Aus­druck und Kom­pen­sa­ti­on des Ver­lusts gesell­schaft­li­cher Sicher­heit, als öko­no­mi­scher Sta­tus, poli­ti­scher Sou­ve­rä­ni­tät oder kul­tu­rel­ler Hege­mo­nie.[3] Kurz gesagt, er ist die poli­ti­sche Reak­ti­on auf den gesell­schaft­li­chen Zustand der Angst.

Bezeich­nend ist dabei, dass die Kri­sen­dia­gno­se des Popu­lis­mus die gesell­schaft­li­chen Grund­la­gen der Angst nicht in den Blick nimmt. Wie die Angst selbst, scheint der Popu­lis­mus sei­ne Ursa­chen nicht zu ken­nen: er gilt als »ein spe­zi­fisch moder­nes Phä­no­men«[4] oder ein reak­ti­ves Pro­dukt der Moder­ne[5] – was aber das Bestim­men­de die­ser »Moder­ne« ist, bleibt dun­kel. Die Moder­ne als gesell­schaft­li­che Grund­la­ge des Popu­lis­mus ist dabei eine Tau­to­lo­gie, etwa so als wür­de man behaup­ten, die Grund­la­ge der Angst sei die Ver­un­si­che­rung. Die­se Sub­stanz­lo­sig­keit des Begriffs führt dazu, dass er eigent­lich immer nur mit sich selbst erklärt wer­den kann.

Die selbst­evi­den­te poli­ti­sche Form des Popu­lis­mus ist Ideo­lo­gie und zwar in dem star­ken Sin­ne, dass sie in letz­ter Instanz die gesell­schaft­li­chen Grund­la­gen der Undurch­sich­tig­keit affir­miert, aus denen sie her­vor­geht. Ist die Welt denn wirk­lich so unüber­sicht­lich wie sie ger­ne dar­ge­stellt wird? Oder zeich­net sich nicht ins­be­son­de­re der soge­nann­te Wes­ten durch eine erstaun­li­che Sta­bi­li­tät staat­lich regu­lier­ter Kapi­ta­lis­men aus? Da der Ver­weis auf sol­che Kon­ti­nui­tät wenig Mobi­li­sie­rungs­po­ten­ti­al hat, lässt man die­se Grund­la­ge lie­ber unan­ge­tas­tet, sodass alles als völ­lig neue Pro­ble­me behan­delt wer­den kann. Mit die­sem Cre­do schreibt der Popu­lis­mus genau jene Ängs­te fort, derer er sich anzu­neh­men vor­gibt. Vor die­sem Hin­ter­grund ist die Idee eines eman­zi­pa­to­ri­schen Popu­lis­mus ein Wider­spruch in sich und Teil der gesell­schaft­li­chen Irra­tio­na­li­tät. Dies führt zu der Fra­ge, war­um der Popu­lis­mus trotz sei­ner ekla­tan­ten theo­re­ti­schen Defi­zi­te so attrak­tiv zu sein scheint, gera­de für eine lin­ke Poli­tik. Die Ant­wort liegt in dem Ver­spe­chen auf eine wie­der­erstark­te Lin­ke, die mit einer neu­en Visi­on die Men­schen für den social chan­ge begeis­tert. Die Wirk­sam­keit die­ses fal­schen Ver­spre­chens ver­weist dabei zuerst auf eine ekla­tan­te Schwä­che lin­ker Theorie.

 

Ein popu­lis­ti­scher Horizont

Die­se Schwä­che betrifft ganz grund­le­gend den Erkennt­nis­an­spruch der Theo­rie: Lan­ge Zeit bestand die­ser dar­in, sozia­le Phä­no­me­ne nicht iso­liert, son­dern inner­halb des gesell­schaft­li­chen Gesamt­zu­sam­men­hangs zu deu­ten. Kri­ti­sche Gesell­schafts­theo­rie war die Theo­rie der bestimm­ten gesell­schaft­li­chen Tota­li­tät. Auf die­sem Wege konn­te über die Beschrei­bung der Phä­no­me­ne zu einer Erkennt­nis ihrer Stel­lung und gesell­schaft­li­chen Funk­ti­on gelangt werden.

In mar­xis­ti­scher Tra­di­ti­on bedeu­te­te dies die Suche nach einer belast­ba­ren Theo­rie der Mög­lich­kei­ten und Gren­zen poli­ti­scher Pra­xis. Die Klas­si­ker mein­ten, die­se Gren­zen in der öko­no­mi­schen Ent­wick­lung gefun­den zu haben. Um eine Poli­tik zu kri­ti­sie­ren, die die­ser nur nach­trabt, war ein Wis­sen dar­über nötig, wie die­se Ent­wick­lung denn tat­säch­lich ver­lau­fe und wel­che Gren­zen die­se habe. Die­ses Wis­sen war schein­bar im Werk von Marx gefun­den, der sei­ne Arbeit selbst in den Dienst einer radi­ka­len Kri­tik und eines Kamp­fes für das gute Leben für alle stell­te. Ent­spre­chend wur­de zwi­schen Ideo­lo­gie und Erkennt­nis getrennt, also zwi­schen dem Ver­ständ­nis der gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se anhand ihrer bestim­men­den Grund­la­ge und deren Affir­ma­ti­on in Igno­ranz der­sel­ben. Die­se Situa­ti­on hat sich voll­kom­men ver­kehrt, denn an die Stel­le der Erkennt­nis der Gesell­schaft ist die wech­sel­sei­ti­ge Ver­si­che­rung getre­ten, dass eine der­art abge­schlos­se­ne Theo­rie nicht mehr mög­lich sei. Die Ana­ly­se der Gesell­schaft wur­de damit zu einer Sichtweise.

Die­se grund­le­gen­de Ver­schie­bung wur­de von der mar­xis­ti­schen Theo­rie­tra­di­ti­on selbst vor­an­ge­trie­ben und recht­fer­tigt sich his­to­risch aus drei Grün­den: Ers­tens war die mar­xis­ti­sche Theo­rie größ­ten­teils zur blo­ßen Welt­an­schau­ung erstarrt und das Gere­de von öko­no­mi­scher Deter­mi­na­ti­on dar­in mehr Selbst­zweck als Ana­ly­se­er­geb­nis. In die­ser Sack­gas­se brauch­te es schlicht­weg eine theo­re­ti­sche Inno­va­ti­on, und nicht zuletzt das Theo­rie­phä­no­men des west­li­chen Mar­xis­mus bezeugt eine ent­spre­chen­de . Zwei­tens ver­band sich damit eine Abgren­zung gegen die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei, die den Mar­xis­mus für sich bean­spruch­te und damit kata­stro­pha­le Poli­ti­ken recht­fer­tig­te. Eine theo­re­ti­sche Kri­tik war damit zugleich Aus­hän­ge­schild einer undog­ma­ti­schen Lin­ken. Drit­tens bot die Abkehr von der Annah­me einer gesell­schaft­li­chen Tota­li­tät schein­bar einen poli­ti­schen Vor­teil. Die Ver­hält­nis­se muss­ten nicht mehr als Gan­ze umge­wor­fen wer­den, womit poli­ti­sche Stra­te­gien von radi­ka­lem Refor­mis­mus bis zum wider­stän­di­gen Sub­jekt der Post­mo­der­ne als schlüs­sig erschei­nen konnten.

Die­se drei Abgren­zungs­mo­men­te zei­gen sich in jenem pro­mi­nen­ten Post­mar­xis­mus, der sich auf eine hege­mo­nie­theo­re­ti­sche Rezep­ti­on Anto­nio Gram­scis stützt. Ent­ge­gen der star­ren Deter­mi­na­ti­ons­kon­zep­te ver­such­te Gram­sci die Gesell­schaft als ein beweg­li­ches Kräf­te­ver­hält­nis ideo­lo­gi­scher Ele­men­te zu begrei­fen. Die zuneh­men­de gesell­schaft­li­che Kom­ple­xi­tät der west­li­chen Natio­nal­staa­ten moch­te ihm dar­in einen stra­te­gi­schen Vor­teil poli­ti­scher Mobi­li­sie­rung ver­spro­chen haben, denn eine Revo­lu­ti­on schien nicht vor­stell­bar. Somit ging es vor der fak­ti­schen Ver­än­de­rung der rea­len Ver­hält­nis­se um eine Beein­flus­sung der vor­herr­schen­den Deu­tung die­ser Rea­li­tät. Kurz­um: die Hege­mo­nie. Wenn das Bewusst­sein ein Instru­ment der Herr­schaft sei, müs­se eine eman­zi­pa­to­ri­sche Mobi­li­sie­rung den All­tags­ver­stand der Men­schen adres­sie­ren um einen »Geist des Bruchs«[6] herzustellen.

Ernes­to Laclau ver­all­ge­mei­ner­te Gram­scis Über­le­gun­gen zu einer moder­nen Hege­mo­nie­theo­rie, deren Grund­an­nah­me in etwa lau­tet, dass es Gesell­schaft als sol­che nicht geben kön­ne. Statt­des­sen gebe es immer nur ein umkämpf­tes Ter­rain der Deu­tun­gen, auf dem qua­si alles poli­tisch zu ver­han­deln sei. In Aner­ken­nung des­sen kön­ne die Lin­ke ent­spre­chend wie­der an der Gestal­tung eines Gesell­schafts­kon­strukts mit­mi­schen, eine Gegen­he­ge­mo­nie auf­bau­en. Die­se Ver­hei­ßung führt zu einer Theo­rie des Popu­lis­mus, als der pas­sen­den Poli­tik­form jener »ver­schwun­de­nen« Gesell­schaft. Natür­lich gibt es die gesell­schaft­li­che Rea­li­tät trotz­dem, sie wird aber zuguns­ten eines ver­meint­li­chen Stra­te­gie­vor­teils der­ma­ßen aus­ge­blen­det, dass man bei der Lek­tü­re post­mar­xis­ti­scher Theo­rie­bil­dung – von den radi­ka­len Demo­kra­ten bis zu But­ler oder Žižek – mei­nen könn­te, Rela­ti­vis­mus sei die Grund­be­din­gung der Emanzipation.

Die­ses Eman­zi­pa­ti­ons­ver­spre­chen ver­schiebt nun die Koor­di­na­ten ent­schei­dend: Statt die Erkennt­nis der Ver­hält­nis­se anzu­stre­ben, erschöpft sich die Theo­rie größ­ten­teils in einem Abwehr­kampf gegen den Anspruch der Objek­ti­vi­tät. Wäh­rend der Popu­lis­mus die Mobi­li­sie­rung der gesell­schaft­li­chen Irra­tio­na­li­tät voll­führt, wird die­sel­be Irra­tio­na­li­tät in der post­mar­xis­ti­schen Theo­rie­bil­dung begrün­det. Der Begriff des Popu­lis­mus ist selbst Aus­druck die­ses Zusam­men­hangs: Er trans­por­tiert die Vor­stel­lung, dass die poli­ti­sche Wil­lens­bil­dung des »Vol­kes« der Ersatz jener Ver­nunft sei, die als Objek­ti­vi­tät in der Theo­rie ver­ab­schie­det wur­de. Aus­gangs­punkt der Poli­tik sind dabei immer nur die fal­schen Vor­stel­lun­gen der Men­schen, die theo­re­tisch aber nur noch als bes­se­re oder schlech­te­re Vor­stel­lun­gen kri­ti­siert wer­den können.

Eine Poli­tik, die als ein­zi­gen Maß­stab der Rich­tig­keit das fal­sche Bewusst­sein der Men­schen besitzt, ist dabei immer nur im Sin­ne Leo Löwenthals Agi­ta­ti­on: Nicht die Eman­zi­pa­ti­on von, son­dern die Affir­ma­ti­on und Repro­duk­ti­on ihrer gesell­schaft­li­chen Grund­la­ge. Solan­ge die Theo­rie den Pro­duk­ti­ons­be­din­gun­gen der poli­ti­schen Mei­nung unter­liegt, bleibt die­ser ideo­lo­gi­sche Zusam­men­hang undurch­sich­tig. Die­sen Rah­men des Den­kens und Han­delns nen­nen wir popu­lis­ti­schen Hori­zont. Fak­tisch sind es die gesell­schaft­li­chen Verhältnisse.

 

Lin­ker Populismus

Die­ser Hori­zont führt wie­der zurück zum alten Pro­blem der poli­ti­schen Pra­xis und dem Dilem­ma, dass dar­in jede Poli­tik zugleich die Bestä­ti­gung des Hori­zonts ist. Ange­sichts des gerin­gen Ein­flus­ses einer gesell­schaft­li­chen Lin­ken und der Angst, in die völ­li­ge Bedeu­tungs­lo­sig­keit abzu­rut­schen, ist man zuneh­mend bereit für eine Kom­pro­miss­lö­sung zwi­schen den rea­len Anfor­de­run­gen der Poli­tik und der eige­nen Erkennt­nis­fä­hig­keit. Der popu­lis­ti­sche Hori­zont scheint den Wider­spruch zwi­schen dem gro­ßen Zusam­men­hang und der par­ti­el­len Pra­xis ver­söh­nen zu kön­nen und wird daher als poli­ti­sches Selbst­ver­ständ­nis über­nom­men, und zwar nicht nur von Quer­front­lin­ken, Populismusapologet_innen der Links­par­tei oder selbst­be­wuss­ten Hegemonietheoretiker_innen. Prak­tisch ist es bereits der poli­ti­sche Hori­zont per se.

Dem könn­te man ent­ge­gen­hal­ten, es gebe eben ein genu­in popu­lis­ti­sches Moment in mar­xis­ti­scher Theo­rie und Pra­xis. Ste­hen die­se nicht vor allem für eine Mobi­li­sie­rung der Arbei­ter­klas­se? Durch­aus kann ein Ver­ständ­nis von Gesell­schaft dazu ver­lei­ten, in dem es aus­schließ­lich dar­um geht, den ver­schie­dens­ten Grup­pen end­lich eine »ech­te« demo­kra­ti­sche Teil­ha­be zu ermög­li­chen. Aber der Wider­spruch bleibt bestehen, auch wenn er theo­re­tisch nicht erfasst ist: Das Errin­gen von Teil­ha­be am demo­kra­ti­schen Gan­zen bleibt eine Bestä­ti­gung des­sel­ben. Man scheint dar­in gefan­gen, denn es fin­det sich prak­tisch kein revo­lu­tio­nä­res Sub­jekt mit Mas­sen­cha­rak­ter, wäh­rend die ein­zi­gen Mas­sen­sub­jek­te nicht revo­lu­tio­när sind.

Die Zwi­schen­lö­sung in die­sem Dilem­ma ist jener Mar­xis­mus, der sei­nen Teil dazu bei­trägt, das feh­len­de Sub­jekt als Koali­ti­on her­zu­stel­len; zu arti­ku­lie­ren. Ein so ver­stan­de­ner Mar­xis­mus müs­se sich ent­spre­chend dar­um bemü­hen, dass die Mobi­li­sie­rung der Lohn­ab­hän­gi­gen nicht die Mobi­li­sie­rung ande­rer Grup­pen gefähr­det. Dies wird mög­lich mit der post­mar­xis­ti­schen Theo­rie des Popu­lis­mus, die die theo­re­ti­schen Grund­la­gen als Gan­ze in eine schein­bar all­ge­mei­ne Logik der Arti­ku­la­ti­on des Poli­ti­schen über­setzt. Der par­ti­el­le Kampf um eine dis­kur­si­ve Deu­tungs­ho­heit wird dabei schon zur radi­ka­len Pra­xis, die das erneu­er­te kri­ti­sche Poten­ti­al des Mar­xis­mus bezeu­gen soll. Viel eher bringt sie die Theo­rie damit nur auf den Stand einer Nor­mal­wis­sen­schaft, die nach­träg­lich mit mar­xis­ti­schen Begriff­lich­kei­ten signiert und als neue Radi­ka­li­tät aus­ge­ge­ben wird.

Die nach­träg­li­che Recht­fer­ti­gung der par­ti­ell radi­ka­len Poli­ti­ken lässt sie zugleich alter­na­tiv­los erschei­nen, denn eine poli­ti­sche Theo­rie, wel­che die Form demo­kra­ti­scher Staats­we­sen als Gan­zes in Fra­ge stellt, steht immer im Ver­dacht, sich über die durch­aus revo­lu­tio­nä­ren sozia­len Ver­än­de­run­gen, die inner­halb die­ser Struk­tu­ren mög­lich sind, lächer­lich zu machen und kei­ne Soli­da­ri­tät zu die­sen Kämp­fen auf­zu­bau­en. An die­sem Punkt hat die popu­lis­ti­sche Logik die Hoheit über eine mate­ria­lis­ti­sche Auf­fas­sung von Poli­tik errun­gen und somit schein­bar das prak­ti­sche Dilem­ma der Lin­ken zwi­schen Revo­lu­ti­on und Reform­po­li­tik gelöst.

Aber der popu­lis­ti­sche Lösungs­ver­such ist ganz ein­deu­tig nicht das Pro­dukt eines wis­sen­schaft­li­chen oder phi­lo­so­phi­schen Erkennt­nis­fort­schritts, son­dern das einer unein­ge­stan­de­nen Nie­der­la­ge. Der lin­ke Popu­lis­mus beackert die Stra­te­gie­fra­ge, ob man mehr Leu­te mit dem Ruf »Reform!« oder mit dem Ruf »Revo­lu­ti­on!« moti­vie­ren kann – um eine Reform zu machen. Und zwar des­we­gen, weil die grund­le­gen­de Ver­än­de­rung des Ter­rains an sich undenk­bar und unwünsch­bar erscheint. Der selbst­be­wuss­te Ruf nach der befrei­ten Gesell­schaft zum Zwe­cke der Reform lässt aber den Gehalt die­ser Begrif­fe nicht unbe­rührt. Der Begriff Reform steht längst nur noch für das neo­li­be­ra­le Flott­ma­chen von Volks­wirt­schaf­ten, wäh­rend das, was mit Revo­lu­ti­on einst hät­te gemeint sein kön­nen, sich im stren­gen Sin­ne eigent­lich über­haupt nicht mehr arti­ku­lie­ren lässt. Das Pro­blem ist nicht, dass zu wenig radi­ka­le Lin­ke von Revo­lu­ti­on reden, son­dern dass die­ses Gere­de auf kei­ner rea­len Grund­la­ge steht und die­se nicht mal mehr theo­re­tisch erschlos­sen wer­den kann.

Die Kon­se­quen­zen aus die­ser Lage zei­gen sich einer­seits bei den Pro­test-Ritua­len rund um den G20-Gip­fel in Ham­burg. Noch die Radi­kals­ten scheu­en im Nach­hin­ein nicht zu beteu­ern, dass Gewalt selbst­ver­ständ­lich nur die Reak­ti­on auf eine Eska­la­ti­on der Poli­zei­ge­walt sei, um so den »legi­ti­men Pro­test« nicht zu dele­gi­ti­mie­ren. Ob man sich frei­mü­tig auf eine Gewalt­dis­kus­si­on ein­lässt oder, wie etwa das »Jugend gegen G20«-Bündnis, klar­stellt, dass der Pro­test nicht fried­lich son­dern eine gewalt­vol­le Grenz­zie­hung zwi­schen sich und dem Staat war – es blei­ben letzt­lich nur Stel­lung­nah­men zur Stra­te­gie­fra­ge, ob mehr oder weni­ger Gewalt auf dem medi­al ver­mit­tel­ten, demo­kra­tisch-kapi­ta­lis­ti­schen Ter­rain nütz­lich ist. Ande­rer­seits zeig­te sich das Pro­blem in beson­ders drän­gen­der Wei­se an der von der bür­ger­li­chen Pres­se so bezeich­ne­ten »Will­kom­mens­kul­tur«. Selbst das aus libe­ra­ler Sicht unver­han­del­ba­re Men­schen­recht auf Asyl scheint doch nicht gegen den fal­schen Abwehr­in­stinkt der popu­lä­ren Mas­sen immun. Die Fra­ge, wann die mora­li­sche Pflicht gegen die Bedürf­nis­se des »Vol­kes« unter­liegt, ver­drängt gera­de­zu die Fra­ge, ob Men­schen­rech­te über­haupt zur demo­kra­ti­schen Dis­po­si­ti­on ste­hen dür­fen (sie dür­fen es natür­lich nicht) bezie­hungs­wei­se war­um das grund­le­gen­de Ver­spre­chen uni­ver­sa­ler Rech­te sys­te­ma­tisch aus­ge­schlos­sen bleibt – und wie die­ser Zustand auf­ge­ho­ben wer­den kann. Der Popu­lis­mus kann auf sol­che Fra­gen kei­ne zufrie­den­stel­len­de Ant­wort lie­fern, denn die­se müss­te bestimm­te Aspek­te des mensch­li­chen Zusam­men­le­bens gera­de dem popu­lä­ren Wil­len der Mas­se ent­zie­hen. Ein sol­cher lin­ker Uni­ver­sa­lis­mus wäre zugleich die Selbst­auf­he­bung des popu­lis­ti­schen Horizonts.

Und damit zeigt sich zuletzt, dass der ver­meint­lich popu­lis­ti­sche Aus­weg aus dem prak­ti­schen Dilem­ma lin­ker Poli­tik nur ein fau­ler Kom­pro­miss ist. Der Wider­spruch, dass die Umset­zung der mensch­li­chen Gesell­schaft nur mit der Auf­he­bung der kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft als Gan­zer zu haben ist, lässt sich nicht im Mit­tel­weg radi­ka­ler Rhe­to­rik lösen. Statt­des­sen ist jeder Ver­such dazu ein Zuge­ständ­nis an das Bestehen­de. Die­se prak­ti­sche Affir­ma­ti­on ist in der theo­re­ti­schen Begrenzt­heit des popu­lis­ti­schen Hori­zonts bereits ange­legt. Der Popu­lis­mus gibt als theo­re­ti­sches Moment vor, das Eman­zi­pa­ti­ons­ver­spre­chen des Mar­xis­mus zu ret­ten, und als poli­ti­sches Phä­no­men gau­kelt er der Lin­ken Mobi­li­sie­rungs- und Schlag­kraft vor. Umso mehr zeigt sich dar­an, dass der Popu­lis­mus tat­säch­lich nur die Coping Stra­te­gy ange­sichts der gesell­schaft­li­chen Angst dar­stellt: Von rechts ver­sucht man den natio­na­len Sou­ve­rä­ni­täts­ver­lust zu ver­kraf­ten und redet sich indi­vi­du­ell irgend­ei­ne Stär­ke des Volks­kör­pers ein, von links ver­sucht man den Ver­lust eines revo­lu­tio­nä­ren Uni­ver­sa­lis­mus als Grund­la­ge ech­ter demo­kra­ti­scher Eman­zi­pa­ti­on zu fei­ern und empört sich dann über die Links­par­tei. Wie es so ist mit dem Zurecht­kom­men, es meint auch, die Ursa­che des Zustands bereits akzep­tiert zu haben.

 

von Flo­ri­an Geis­ler und Alex Struwe

 

Der Arti­kel erschien zuerst in Pha­se 2. Zeit­schrift gegen die Rea­li­tät, 55, 15–18.

 

[1] Karl Marx/Friedrich Engels, Mani­fest der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei, in: Dies., MEW, Band 4, Ber­lin 1977, 465; eige­ne Hervorhebung.

[2] Hel­mut Dubiel, Das Gespenst des Popu­lis­mus, in: Ders. (Hrsg.), Popu­lis­mus und Auf­klä­rung, Frank­furt a. M. 1986, 46.

[3] Vgl. ebd., 36 f.

[4] Jan-Wer­ner Mül­ler, Was ist Popu­lis­mus?, Ber­lin 2016, 18.

[5] Vgl. Hans-Jür­gen Puh­le, Popu­lis­mus: Form oder Inhalt?, in: Hen­ri­que Ricar­do Otten/Manfred Sicking (Hrsg.), Kri­tik und Lei­den­schaft. Zum Umgang mit poli­ti­schen Ideen, Bie­le­feld 2011, 30.

[6] Anto­nio Gram­sci, Mar­xis­mus und Kul­tur, Ham­burg 1983, 96.

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