Kritik zeitgenössischer Marxlesarten

 

An Weni­gen wird vor­bei­ge­gan­gen sein, dass man die­ses Jahr den 200. Geburts­tag von Karl Marx fei­ern lässt. Natür­lich nicht in der Grö­ßen­ord­nung eines staats­tra­gen­den Luther-Jahrs, aber doch mit beein­dru­cken­der Brei­ten­wir­kung. Denn nicht nur die radi­ka­le Lin­ke hält ihren ewi­gen Stich­wort­ge­ber hoch, son­dern auch die bür­ger­li­che Mit­te hat spä­tes­tens seit der glo­ba­len Finanz- und Wirt­schafts­kri­se ihren Marx wie­der­ent­deckt. Ein Bio­pic in Kino­for­mat haben wir schon hin­ter uns, Essays und Dis­kus­sio­nen, Publi­ka­tio­nen und Kon­fe­ren­zen fol­gen, eben­so wie Aus­stel­lun­gen oder Doku­men­ta­tio­nen. Bemer­kens­wert ist dar­an vor allem, wie unpro­ble­ma­tisch das Ver­hält­nis zu Marx gewor­den scheint.

Die unver­söhn­li­chen anti­mar­xis­ti­schen Vor­ur­tei­le und Gegen­be­weis­ket­ten von bür­ger­li­cher Sei­te sind mitt­ler­wei­le zur Wür­di­gung des radi­ka­len Indi­vi­du­al­ge­nies auf­ge­weicht. Und in der Lin­ken hat sich die zähe Aus­ein­an­der­set­zung mit Marx, die kaum Vor­ge­wiss­hei­ten tole­rier­te und daher zum mehr­jäh­ri­gen Lese­kreis ten­dier­te, in ein Lip­pen­be­kennt­nis zum undog­ma­ti­schen Umgang ver­jüngt. So unter­schied­lich die Schlag­lich­ter auf Marx aus­fal­len, sie zei­gen in die­ser Ent­span­nung eine gewis­se gemein­sa­me Linie, eine Annä­he­rung. Die­se beschreibt die Sozi­al­phi­lo­so­phin Rahel Jaeg­gi ganz pas­send als „neue Unbe­fan­gen­heit“ mit Marx, sodass man „end­lich kei­ne Mar­xis­tin mehr sein müs­se, um sich mit Marx zu beschäf­ti­gen“. Auch der glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­sche Publi­zist Mat­thi­as Gref­f­rath spricht in sei­ner Vor­be­mer­kung zum Sam­mel­band RE: Das Kapi­tal davon, dass sich die eigent­li­che Schlag­kraft von Marx erst heu­te ent­fal­te, wo „nicht nur Mar­xis­ten über das mög­li­che Ende der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se [nach­den­ken]“.

Wenn etwa die von der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung getra­ge­ne Platt­form Marx200 pro­gram­ma­tisch aus­ruft, „Denkt ein, zwei, vie­le Marx…“, kann sich dar­in selbst der ordo­li­be­ra­le Öko­nom Hans-Wer­ner Sinn wie­der­fin­den. Man soll­te vor­sich­tig mit der Geburts­tags­eu­pho­rie sein, denn solch unbe­fan­ge­ner Plu­ra­lis­mus bedeu­tet nicht etwa, dass sich Marx’ Erkennt­nis­se in irgend­ei­ner Wei­se durch­ge­setzt hät­ten, son­dern dass sie genau­ge­nom­men kei­ne Rol­le mehr spie­len. Daher dürf­te so man­chen mar­x­af­fi­nen Lin­ken das hämi­sche Kichern dar­über, dass man es ja all die Jah­re der Mar­x­an­fein­dun­gen still und heim­lich bes­ser gewusst habe, im Hal­se ste­cken blei­ben. Nichts vom bür­ger­li­chen Anti-Mar­xis­mus, der immer schon das theo­re­ti­sche Spie­gel­bild zum poli­ti­schen Anti-Kom­mu­nis­mus war, wird in der gegen­wär­ti­gen Unbe­fan­gen­heit zurück­ge­nom­men. Im Gegen­teil, es ist die Fort­füh­rung mit ande­ren Mitteln.

Die Grund­la­ge für die neue Frei­mü­tig­keit ist erklär­ter­ma­ßen die Ent­le­di­gung vom gan­zen Bal­last des Mar­xis­mus, sprich sei­nem Dog­ma­tis­mus. Gemeint ist damit nicht die scho­nungs­lo­se Kri­tik jener his­to­ri­schen Erschei­nungs­for­men dok­tri­nä­ren Mar­xis­mus, um sich auf die­sem Wege den rea­len Pro­ble­men und Fra­gen die­ser Ver­feh­lun­gen zu wid­men. Viel­mehr heißt es ein­fach Ent­sor­gung, und zwar von allem, was in Marx’ Den­ken theo­re­ti­sche Stren­ge, Kon­se­quenz und Not­wen­dig­keit for­dert, denn das, so lau­tet der Ver­dacht, sei ja der eigent­li­che Kern des Dog­ma­tis­mus. Je mehr also davon auf dem Müll­hau­fen lan­det, des­to unbe­fan­ge­ner kann man sich Marx wie­der nähern.

Der Aus­gangs­punkt der Beschäf­ti­gung mit Marx ist daher sel­ten eine Aus­ein­an­der­set­zung am kon­kre­ten Pro­blem, son­dern meist blo­ße Abs­trak­ti­on. Nur so wird es mög­lich, Marx als eine Pro­jek­ti­ons­flä­che für bei­na­he belie­bi­ge Asso­zia­tio­nen zu ver­wen­den. Marx wird etwa zum Anknüp­fungs­punkt, wo die gesell­schaft­li­chen Wider­sprü­che der­art offen lie­gen, dass anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Kri­ti­ken längst von der Mit­te bis rechts besetzt sind. Immer­hin hat er ja auch mal was Kri­ti­sches dazu gesagt. Von der Links­par­tei bis in die radi­ka­le Lin­ke bedient man sich dem Marx­schen Nim­bus radi­ka­ler Kri­tik, aller­dings nur rhe­to­risch. Um die ver­meint­li­chen Ängs­te und Sor­gen der Men­schen in einer bes­se­ren Erzäh­lung ein­zu­fan­gen als die regres­si­ven Kräf­te von Pegi­da bis AfD, ste­hen sol­che Anspie­lun­gen einer gesell­schaft­li­chen Lin­ken im Zustand der äußers­ten Mar­gi­na­li­sie­rung gut an.

Ernst gemeint ist Marx dar­in nur inso­weit er einer PR-Stra­te­gie nützt, also als Stich­wort­ge­ber des Popu­lis­mus. Das Trau­ma­ti­sche am zeit­ge­nös­si­schen Popu­lis­mus ist jedoch, dass er dem radi­kal­de­mo­kra­ti­schen Ethos so ähn­lich scheint und doch sein Gegen­teil bedeu­tet. Um als Lin­ke auf die­sem wider­sprüch­li­chen Ter­rain irgend­wie mit­mi­schen zu kön­nen, muss man schon etwas Ver­drän­gungs­ar­beit leis­ten. Die Mög­lich­keit dazu fin­det sich in der besag­ten Unbe­fan­gen­heit, mit Marx also eine radi­ka­le Kri­tik anzu­brin­gen, aus der man kei­ne Kon­se­quen­zen zie­hen muss, weil man zuvor jede Kohä­renz sei­nes Den­kens ver­ab­schie­det hat. Es geht also gera­de nicht um die Erkennt­nis der gesell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit, die bei Marx mal als Waf­fe der Kri­tik ange­dacht war, son­dern um im wei­tes­ten Sin­ne Agi­ta­ti­on. Deren ers­tes Merk­mal ist bekannt­lich, dass sie jedem kon­kre­ten Inhalt gleich­gül­tig gegen­über­steht, solan­ge die­ser sich für den Selbst­zweck instru­men­ta­li­sie­ren lasse.

Wenn der aktu­el­le poli­ti­sche Gehalt von Marx zu popu­lis­ti­scher Agi­ta­ti­on ten­diert, betrifft das nun nicht nur eine Sarah Wagen­knecht. Die Krei­se zie­hen sich viel wei­ter und an der Grund­la­ge sol­cher Posi­tio­nen wird umfang­rei­cher gear­bei­tet. Und zwar immer dort, wo die blo­ße Erwäh­nung von Marx mit jener reflex­ar­ti­gen Distan­zie­rung ein­her­geht, die der bür­ger­li­che Anti-Mar­xis­mus eben for­dert: Man mei­ne mit Marx natür­lich nicht die mar­xis­ti­schen Dog­men und Ver­kür­zun­gen, die in sei­nem Namen Unheil über die Welt und in das Den­ken brach­ten. Wie jeder Ver­such sozia­lis­ti­scher Poli­tik im Gulag mün­de, so lau­fe jeder Mar­xis­mus not­wen­dig in den öko­no­mi­schen Reduk­tio­nis­mus. Das Bekennt­nis, dass sich aus Marx kon­se­quen­ter­wei­se eigent­lich nur Ver­feh­lun­gen ablei­ten lie­ßen, bedeu­tet zugleich, dass jedes strin­gen­te Den­ken in solch eine Fal­le tappt und man genau daher mög­lichst „unbe­fan­gen“ sein soll­te. Auf die­sem Wege aber ver­kürzt man schließ­lich Marx um genau das, was sein Den­ken ein­mal auszeichnete.

Denn so berech­tigt die Kri­tik an jedem mar­xis­ti­schen Dog­ma­tis­mus ist, man ver­wech­selt ihn all­zu schnell mit der theo­re­ti­schen Stren­ge von Marx, die mal des­sen eigent­li­che Errun­gen­schaft war. Das geschieht dann, wenn die abs­trak­te Nega­ti­on von Marx schon die Bedin­gung sei­ner Beur­tei­lung bil­det. Marx’ Theo­rie ist dort streng und spricht von Not­wen­dig­kei­ten, wo sie die­se als rea­le und his­to­ri­sche Not­wen­dig­kei­ten der stren­gen Durch­or­ga­ni­sa­ti­on der Gesell­schaft vor­fin­det. Der Unter­schied zum Dog­ma­tis­mus ist daher, dass Marx Not­wen­dig­keit behaup­te­te, wo sie real und his­to­risch gege­ben war. Genau die­se Stren­ge des Den­kens war sei­ne Abgren­zung zur idea­lis­ti­schen Phi­lo­so­phie, die sich immer nur in Abs­trak­tio­nen ver­fängt und Marx ent­spre­chend heu­te zu genau jener degra­diert. Die berühmt berüch­tig­te Feu­er­bach­the­se ist damit wie­der revi­diert: Mit Marx soll man die Welt nicht ver­än­dern, son­dern nur ver­schie­den interpretieren.

Das wich­tigs­te Argu­ment gegen Marx muss daher sein, dass genau die­ser Anspruch, die Wirk­lich­keit als Erkennt­nis nach­zu­voll­zie­hen, nicht halt­bar ist. Meis­tens reicht dafür der bil­li­ge Hin­weis, dass sich die Ver­hält­nis­se eben geän­dert hät­ten, Marx ergo dane­ben lie­ge. Erst wenn Marx damit wider­legt ist, kann man ihn sich heu­te wie­der­an­eig­nen. Sol­che Wie­der­an­eig­nun­gen fal­len dann in den Bereich der Phi­lo­so­phie, die Marx gewis­ser­ma­ßen über sei­ne eige­nen Ver­feh­lun­gen hin­weg­ret­ten soll: Marx’ Erkennt­nis­an­spruch sei immer schon zu groß, mit all dem Gere­de von der Gesell­schaft als Gesamt­zu­sam­men­hang, dem Geschichts­ver­lauf und Revo­lu­ti­on. Gleich­zei­tig sei sein Ana­ly­se­er­geb­nis aber auch zu klein und hat nur ein­ge­schränk­te Gül­tig­keit, denn man sehe ja schließ­lich, dass wir heu­te in einer ande­ren Welt leben und die besag­ten Not­wen­dig­kei­ten ja so not­wen­dig gar nicht waren. Was man von Marx also nimmt ist zwar das Schlag­wort der Kri­tik, aber in ver­kehr­ter Wei­se: Es geht nicht um die Lösung eines Pro­blems, son­dern dar­um, Marx selbst bewei­sen zu las­sen, dass er in die eine oder ande­re Rich­tung eigent­lich immer falsch liegt. Erst vor die­sem Hin­ter­grund emp­fiehlt sich der gesun­de Mit­tel­weg der Sozialphilosophie.

In den Wor­ten des Phi­lo­so­phen Micha­el Quan­te, der sich eben­falls zur Aktua­li­tät des Marx­schen Den­kens äußer­te, heißt das dann, dass man Marx’ „Über­le­gun­gen in eine anthro­po­lo­gisch fun­dier­te Ethik des guten und gelin­gen­den Lebens“ über­füh­ren müs­se. Wie er zugibt, „eine Rich­tung, die bei Marx im ‚Kapi­tal‘ über­haupt nicht ange­dacht ist“. Sol­che Ideen sind ganz auf der Linie jener Sozi­al­phi­lo­so­phie, die eine kri­ti­sche Gesell­schafts­theo­rie im eigent­li­chen Sin­ne abge­löst hat. Bei­spiels­wei­se in Per­son der Erben der Frank­fur­ter Schu­le, die sich auch dar­um bemü­hen, Marx wie­der auf sei­nen Platz zu ver­wei­sen. Der ist: auch nur eine mög­li­che Per­spek­ti­ve unter vie­len zu ver­tre­ten. Marx habe also eigent­lich nichts ande­res getan, als sei­ne sub­jek­ti­ven Ansich­ten und Hoff­nun­gen als objek­ti­ve Tat­sa­chen aus­zu­ge­ben und damit die Gren­ze der Nor­ma­ti­vi­tät ignoriert.

An die­se Gren­ze zu mah­nen war gewis­ser­ma­ßen das Ver­dienst Jür­gen Haber­mas’, der bereits in den 1970ern den His­to­ri­schen Mate­ria­lis­mus zur Kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­rie umschrieb. Axel Hon­neths letz­ter Ver­such einer Aktua­li­sie­rung des Sozia­lis­mus­be­griffs steht ganz im Zei­chen eines sol­chen Vor­ge­hens. Ihm zufol­ge kran­ke der Sozia­lis­mus vor allem an den Erb­las­ten des Mar­xis­mus – gemeint ist der über­höh­te Anspruch, die Gesell­schaft als Gan­ze erken­nen und ver­än­dern zu wol­len –, wes­halb man den Begriff wie­der als Selbst­be­schrei­bung des ‚guten und gelin­gen­den Lebens‘ umfor­mu­lie­ren müs­se. Sozia­lis­mus als Gerech­tig­keits­theo­rie, die sich jeder Spe­ku­la­ti­on über Ursa­chen der Unge­rech­tig­keit ent­hält. Glei­ches unter­nimmt Rahel Jaeg­gi mit dem Ent­frem­dungs­be­griff, dem sie eben­falls einen zu hohen gesell­schafts­theo­re­ti­schen Anspruch attes­tiert. Er sei daher nur zu erhal­ten, wür­de er auf die sozi­al­phi­lo­so­phi­sche Dia­gno­se­funk­ti­on beschränkt. Ent­frem­dung kann man damit zwar fest­stel­len, aber kein sys­te­ma­ti­sches Argu­ment zu deren Erklä­rung ableiten.

Im Ergeb­nis las­sen sich so Gedan­ken­ge­bäu­de bau­en, die bestimm­te Pro­ble­me von Marx nicht mehr haben. Aller­dings um den Preis, dass man sich auch nicht mehr mit dem eigent­li­chen Pro­blem beschäf­tigt, das Marx mal bear­bei­tet hat: eine Theo­rie der Gesell­schaft. Was damit ver­meint­lich als Kri­tik im Geis­te Marx’ betrie­ben wird, ist die Bestä­ti­gung der Bedin­gun­gen, unter denen Marx’ Den­ken erst halt­los wird. Er wird dort zurecht­ge­stutzt, wo er den Exis­tenz­be­din­gun­gen einer popu­lis­ti­schen Lin­ken wie der Sozi­al­phi­lo­so­phie wider­spricht. Wenn aber Marx über­haupt ein­mal rele­vant gewe­sen ist, dann als Gesell­schafts­theo­re­ti­ker, der genau die­sen intel­lek­tu­el­len Zir­kel­schluss auf­hebt. Das war radi­kal, weil es sol­che „kri­ti­schen“ Selbst­ver­ge­wis­se­run­gen als Repro­duk­ti­ons­leis­tung ent­larv­te, und zwar als Repro­duk­ti­on der gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se im Gan­zen. Im bes­ten Sin­ne könn­te Marx das gemeint haben, als er sag­te, „alles was ich weiß, ist, dass ich kein Mar­xist bin“.

 

von Alex Struwe

 

Der Arti­kel erschien unter dem Titel Murks mit Marx zuerst in Jung­le World Nr. 10/2018, URL: https://jungle.world/artikel/2018/10/murks-mit-marx

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