Buchbesprechung zu Bini Adamczak: Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende
2017 | 320 Seiten | 18 € | Suhrkamp Verlag | ISBN: 978–3‑518–12721‑6
Will man heute den Eindruck einer hoffnungsvollen Sicht auf die Weltlage vermitteln, dann spricht man statt von Krise oder Regression von Interregnum: einer, nach Gramsci, ungewissen Übergangszeit. Es ist jedoch augenfällig, dass in dem Interregnum unserer Tage kaum ein Spaltbreit Platz für auch nur irgendeine emanzipatorische Bewegung zu sein scheint. Alles ist vom backlash bestimmt und vom grassierenden Wahn autoritärer Charaktere. Immer wieder wird daher die Klage laut, der Linken fehle es an einer Vision, an Utopie, sie habe ihre Chance verpasst, die Krise als Chance zu begreifen etc. Als sei es einfach Antriebslosigkeit und verpasste Gelegenheiten der Linken, die die Ausweglosigkeit der Gegenwart bestimmen. Die Schwäche der Linken und ihre Unfähigkeit zur positiven Gestaltung der Zukunft ist jedoch Ergebnis einer relativ konsequenten Entwicklung (mindestens) der letzten 50 Jahre.
Aus der bleiernen Lähmung der marxistischen Theorie, die wenig Platz für das Subjekt und dessen subversives Potential bot, erwuchs um den Mai 1968 herum der Aufstand dieser Subjekte gegen ihre vermeintliche Bevormundung durch die „Theorie mit großem T“. Nicht mehr die Revolution, sondern eine Praxis der Unmittelbarkeit und Individualität sollte den Subjekten ihr Schicksal wieder zugänglich machen. Die antiautoritäre Rebellion richtete sich nicht mehr gegen die schlechte Totalität des kapitalistischen Staats, sondern auch gegen die schlechte Theorie, die die Verhältnisse als Totalität anprangerte, in Wahrheit aber keine schlagenden Argumente gegen ‚den Kapitalismus‘ mehr in der Hand hatte. War ein solcher Erklärungsanspruch nicht bereits Teil totalitärer Herrschaft? Ging in Wahrheit die Schlechtigkeit der Welt nicht weit über den Staat hinaus und musste radikaler, sprich am Grund der Subjektivität, Sprache und Psyche selbst, zurückgewiesen werden? So argumentierten etwa Foucault oder Deleuze und erklärten Probleme der politischen Emanzipation damit wieder zu philosophischen Angelegenheiten, die sie bis heute blieben.
Ob in solchen Varianten poststrukturalistischer Theorie, der Öffnung des Marxismus zur postfundamentalistischen Hegemonietheorie oder der Neuerfindung des historischen Materialismus als Sozialphilosophie: Die Umkehr des Denkens vollzog sich so grundlegend und die Auseinandersetzung wurde scheinbar so erschöpfend geführt, dass sie nicht mehr der Rede wert zu sein scheint. Niemand stellt heute ernsthaft theoretische Fragen. Parallel zum berüchtigten Ende der Geschichte im liberalen Kapitalismus vollzog eine linke Theorieentwicklung die Zementierung ihrer hart erarbeiteten neuen Theoriegrundlage, dass Freiheit und deren Praxis nur durch die Abwesenheit (und zur Not Leugnung) jeglicher Determinationsinstanz zu haben sei. Sie schrieb sich damit in den letztendlich liberalen Horizont ein: Das Ende der Theoriegeschichte.
Ohne diese Geschichte aber bleibt die Zukunft ein hoffnungsloser Ort, der wahlweise von dunklen Mächten, dem absoluten Chaos oder der Wette auf die massenwirksamere Agitation bestimmt wird. Denn was damit auf dem Spiel steht ist nicht weniger als die Möglichkeit der Revolution. Wie aber kann man diese Geschichte zurückgewinnen? Für Bini Adamczak lautet spätestens seit ihrem erkenntnisreich schmerzhaften Buch Gestern Morgen die Antwort: Trauerarbeit. Ganz in diesem Sinne widmet sich ihr aktuelles Buch Beziehungsweise Revolution der Wiederherstellung der Zukunft als Utopie in der Aufklärung über die Vergangenheit.
Trauerarbeit meint die analytische Aufarbeitung eines Verlusts, um ihn so rational zugänglich zu machen bzw. die irrationalen Auswirkungen zu sublimieren. Für Adamczak besteht besagter Verlust in den gescheiterten Revolutionen und äußert sich als „Postrevolutionäre Depression“ (11), in der eine Sehnsucht nach der vergangenen Revolution und ihrem bedeutsamen Kampf entsteht, die schnell zum Selbstzweck wird. Ein solches „Begehren nach Revolution stellt somit die fetischisierte Verkehrung eines revolutionären Begehrens dar“ (28), nämlich nicht nach Kampf und Umbruch, sondern nach der in der Revolution entstandenen Gemeinschaft der Gleichen, als „solidarisch-kooperative Beziehungsweise“ (38, Herv. im Orig.).
Diese Form der Revolution, für die „schon die Praxis des Denkens, des Vorstellens, des Begehrens […] mit der Schwierigkeit konfrontiert [wird], über ihre eigene Bedingtheit hinauszugehen“ (45), ist notwendig Utopie. Jedoch besteht diese weder in einem fertigen Endziel und Entwurf noch in der bloßen Zerstörung alles Bestehenden, sondern in der Art und Weise, wie die Geschichte von ihren Subjekten miteinander gemacht wird. Diese praktisch herzustellenden Verbindungen liegen Adamczak zufolge gerade im Dazwischen der bekannten Dualismen von Staat und Bürger, Individuum und Kollektiv oder Einheit und Differenz, da „sich innerhalb dieser binären Begriffsoppositionen kein sinnvoller Begriff von emanzipatorischer Revolution gewinnen lässt“ (86). Adamczak will Revolution daher selbst als Möglichkeitsbedingung verstehen, als „Freiheit des Kommunismus, der seine Strukturen im höchstmöglichen Maße demokratisch verfügbar hält“ (100). Es geht daher um eine „relationale Revolutionstheorie“ (101) mit einem „konstruktiv-synaptisch[en]“ (102) Revolutionsbegriff.
Das Ideal der Revolution ist damit weder die Negation noch der Neuanfang, sondern die Neuanordnung der bestehenden Elemente auf eine bestimmte emanzipatorische Art und Weise. Der Erkundung dieser Beziehungsweisen dient ihre historische Spurensuche in den revolutionären Situationen 1917 und 1968, anhand der Konstruktion der Geschlechterverhältnisse. In beiden revolutionären Sequenzen ging es um eine Überwindung der vergeschlechtlichten Trennung von Produktion und Reproduktion, Öffentlichkeit und Privatheit etc. Jedoch wurde der Widerspruch jeweils nur in eine der beiden Richtungen aufgelöst: In der Folge von 1917 richtete sich die Neugestaltung an einem Ideal der Männlichkeit aus, während es 1968 um eine diametrale Abgrenzung dazu ging.
Die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft zielte 1917 auf brüderliche Gleichheit, die sich also mit universeller Maskulinisierung verband. Emanzipation verlief über eine Anpassung an das Prinzip der Männlichkeit, das die bürgerliche Geschlechtertrennung in einem vorbürgerlichen Verständnis von Geschlecht als hierarchisiertem Kontinuum zu überwinden suchte. Dieser „androzentrische Universalismus kann theoretisch reibungslos […] Frauen integrieren – aber eben keine Weiblichkeit“ (162). In der einseitigen Auflösung des geschlechtlich codifizierten Widerspruchs geht Adamczak zufolge jedoch auch der „Reichtum“ verloren, „der in der historischen Gestalt Geschlecht aufgespeichert ist“ (169): Emotionalität, Sensibilität, Wärme. Es geht ihr aber darum, das Potential dieser historischen Formen der Beziehungsweisen nicht zu negieren, sondern in einer neuen Art zugänglich zu machen.
Dieses Problem besteht entsprechend auch in der Revolutionssequenz von 1968, die als eine Art korrektive Gegenbewegung die Widersprüche in einer „differentielle[n] Feminisierung“ (175) aufzulösen versucht. Auch hier werden die Verhältnisse nicht etwa überwunden, wie Adamczak ausführt, sondern die Kritik kehrt zu dem Zustand zurück, der vor dem zu Kritisierenden bestand. Der Kommunistischen Partei, Sowjetideologie und dem Marxismus wird das entgegengesetzt, was diese kritisierten: die Differenz und eine spontaneistische Orientierung entgegen der Einheit. Das sozialistische Emanzipationsmodell wurde zum Kristallisationspunkt feministischer „Kritiken an männlich-heterosexueller Befreiung“ (196) und damit an autoritärer Universalisierung und Vereinheitlichung. Das Ideal wandelte sich dabei von der (männlichen) Gleichheit zur (weiblichen) Freiheit, Partikularität und Ausdehnung des Privaten, das nun politisiert wurde.
Für Adamczak ergibt sich aus dieser spiegelbildlichen Bewegung die Möglichkeit, „die beiden historischen Fluchtlinien der Emanzipation übereinanderzulegen“ (213). Nicht nur, um sie gegenseitig ergänzend zu kritisieren, sondern auch um zu verstehen, „dass beide utopisch-revolutionären Konstruktionen […] Antworten auf in etwa das gleiche Problem geben“ (217), nämlich die Herstellung jener revolutionären Beziehungsweisen. Für diese Herausforderung kann „eine queerfeministische Revolutionstheorie“ versuchen, so ihre Hoffnung und Wette, „die Erfahrungen von 1917 und 1968 zu synthetisieren“ (219).
Eine solche Synthese müsse die jeweilige Einseitigkeit, mit der die revolutionären Dilemmata behandelt wurden, verwerfen. Adamczak vertritt daher die Annahme, dass der Ausweg aus dem Dilemma über eine spezifische Vermittlung dieser Gegensätze führt, die diese zugleich nicht reproduziert. Das ist eine erstaunlich naive Konsequenz aus dem Gesagten, denn ein solcher ‚Mittelweg‘ verläuft, wie so oft, doch wieder nur auf den Pfaden einer der beiden Seiten. Adamczaks Bemühungen um ein Denken der Beziehungsweise, dem Dazwischen, werden zunehmend nebulöser und abstrakter. Sie setzt dafür am Poststrukturalismus und dessen Radikalisierung im new materialism an. So findet sie bei Karen Barad, Brian Massumi und Bruno Latour Inspiration dafür, „sich auf die Beziehung selbst zu beziehen, sie nicht als Effekt, als Funktion des Bezogenen misszuverstehen“ (242). Die große Gefahr, damit selbst nur einen abstrakten Mystizismus von Assemblagen zu erzeugen und damit jenem Fetisch anheim zu fallen, den sie eingangs so dringlich zurückwies, scheint Adamczak durchaus bewusst. Denn um ihre Vorstellung von Relationalität nicht selbst zu verdinglichen (wie es in den benannten Theoriegebäuden durchaus der Fall ist), will sie diese Impulse in den politischen Dienst jener emanzipatorischen Programmatik stellen, die sie in den revolutionären Situationen herausgearbeitet hat. Das macht man traditionell, indem man zeigt, dass Marx auch schon einen entsprechenden Gedanken hatte. So lehnt sich Adamczak dann an die berühmt berüchtigte Phrase Marx‘ an und bemerkt: „das soziale Sein (Beziehung) bestimmt das Selbstbewusstsein (Identität)“ (252).
Damit bekommt die Theoriebildung ein funktionales Element, mit dem sie sich doch der Tragweite der Problematik entzieht. Denn „nicht darum, Kapitalismus besser zu verstehen, geht es, sondern darum, ihn leichter zu verändern“ (248). Wie diese Indifferenz gegenüber dem, was ist, aber zu einer revolutionären Veränderung, wie sie also nicht zur bloßen Wiederholung und Reproduktion dieses Kapitalismus beiträgt (wie es mindestens der revolutionäre Moment 1968 tat), bleibt relativ unklar. Adamczaks Antwort ist vorläufig: der instrumentellen Logik jenes Fetischs (der Revolution, der Utopie etc.) zu widerstehen, der alle emanzipatorischen Momente im Bestehenden bereits negiert. Die Revolution ist nicht der Zweck, für den geeignete Mittel gefunden werden müssen, weil auf diesem Wege die Mittel ihren Selbstzweck verlieren. Weder die Analyse des falschen Ganzen, das es emanzipatorisch zu überwinden gilt, noch der positive Entwurf einer besseren Welt jenseits dieser Veränderung sind demnach die Lösung, sondern die Erprobung solidarischer Beziehungen im Hier und Jetzt. Dafür findet Adamczak bereits Ansätze in der Gegenwart, in der Diskussion und Praxis um Commons oder dem Generalstreik, in dem „die glatten Räume des Kapitalismus […] beginnen, Noppen und Kerben auszubilden, Synapsen und Schaltstellen“ (263).
Diese theoretischen und praktischen Konsequenzen Adamczaks sind keine Lösung des Problems und nicht annähernd so einleuchtend, wie sie es in ihrem (über)formalisierten Vergleich darstellt. Dass man dem widersprechen kann, ist im besten Fall die Stärke ihrer Analyse: Ihre Ergebnisse sind nicht der Emanzipation letzter Schluss, sondern ein Angebot, wie mit dem Problem gesellschaftlicher Emanzipation umzugehen ist, das sich heute mit größter Dringlichkeit stellt. Warum sollte sie auch allein für jene Widersprüche und Widrigkeiten verantwortlich gemacht werden, die zu dieser Mammutaufgabe gehören? Adamczak ermöglicht einen historischen Lernprozess, der nicht nur einen reichen Erfahrungsschatz bietet, sondern die Möglichkeit, über Revolution nachzudenken, in die Gegenwart holt. Sie liefert darin den positiven Gegenentwurf zur gegenwärtigen Hoffnungslosigkeit: Der Blick in die Geschichte, um die Zukunft wieder als etwas Hoffnungsvolles erscheinen zu lassen. Die Möglichkeitsbedingung, wie sie eindrucksvoll zeigt, ist gesellschaftliche Aufklärung.
von Alex Struwe