In Krisenzeiten haben linke Bewegungen derzeit offensichtlich wenig anzubieten: Linker Populismus ist im besten Falle nur liberaler Reformismus, soziale Kämpfe erschöpfen sich in Forderungen nach Anerkennung und theoretisch scheint das radikalste, was es zu holen gibt, nur der scheinbar noch radikalere Obskurantismus zu sein. Diese Perspektivlosigkeit zeigt an, dass die Linke die Vorstellung der Möglichkeit der Revolution verloren hat.
Bevor man nun die Utopielosigkeit betrauert und von der Linken eine Vision fordert, muss zuallererst dieser Verlust rekonstruiert werden. Ein Versuch, das Verschwinden der Revolutionstheorie nachzuvollziehen, würde zu den Ereignissen um den Pariser Mai 1968 und konkreter zu den Auseinandersetzungen um den marxistischen Philosophen Louis Althusser führen, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Neben den großen Jubiläen von Marx, der Novemberrevolution und 1968 ging Althussers Geburtstag unter. Dabei ist Althusser in vielerlei Hinsicht erinnerungswürdig, vor allem aber weil sich mit ihm das Ende einer marxistischen Revolutionstheorie entschied.
Gemessen an seiner Prominenz in den sechziger Jahren ist das Schweigen über Althusser bemerkenswert. Er ist vielen nur sehr bruchstückhaft in Stichworten vertraut. Manchen gilt er als stahlharter Stalinist, anderen wiederum als marxistischer Reformer und Wegbereiter des Poststrukturalismus. Einige kennen seine lückenhafte Ideologietheorie und andere nur die wirren Spätschriften aus der Psychiatrie. Und wieder andere wissen über ihn lediglich, dass er in geistiger Umnachtung seine Frau Hélène Rytman erdrosselte. Und so wurde ihm ein Vermächtnis zuteil, wie es den meisten marxistischen Theoretikern (inklusive Marx) heute zukommt: Sie werden, wenn überhaupt, nur partiell gewürdigt, meistens, um zu zeigen, dass sie im Ganzen falsch lagen. Von Althusser grenzt man sich gern begründungslos ab. Darin liegt seine eigentliche Bedeutung.
Tatsächlich ist Althusser der große Abwesende der französischen Theorie. Jacques Derrida, Étienne Balibar, Jacques Rancière und Michel Foucault gehörten zu seinen Schülern im Paris der beginnenden sechziger Jahre – und sie alle wandten sich von ihm ab. Diese Abwendung ist Schlüssel zum Verständnis jenes großen Umdenkens der emanzipatorischen Theorie, das sich um den Pariser Mai 1968 vollzog und bis heute in der linker Theorie und Praxis wirkt.
Althussers Leistung liegt weniger in seinem substanziellen Werk, das eher aus theoretischen Suchbewegungen, Grundlagenarbeit und politischen Interventionen besteht. So kommt auch etwa das Konzept der Revolution bei Althusser kaum vor. Vielmehr liegt seine Wirkung in der, wie er sagen würde, »theoretischen Praxis«, in dem, was er tat. Althusser sah Theorie als Produktion, die den gesellschaftlichen Produktionsbedingungen unterliegt und diesen Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Ganzen reflektieren muss, um nicht einfach nur dessen Abfallprodukt zu sein. Der Unterschied ist ein ganz praktischer, da das Verkennen dieses Zusammenhangs dessen Reproduktion bedeutet. Das ist es, was Althusser als Ideologie kennzeichnete und dagegen unbedingt für ein Denken der gesellschaftlichen Totalität eintrat. Und zwar, weil nur dies die Möglichkeit der Revolution zuließ.
Althusser gehört mit dieser Konzeption zum westlichen Marxismus, jener Theoriebewegung im Nachkriegseuropa, die sich aus der Abkehr vom orthodoxen Sowjetmarxismus ergab. Die zunehmende Unbrauchbarkeit der marxistischen Theorie führte in Frankreich zu einer besonderen Situation. Die linke Intelligenz hatte sich einerseits praktisch durch die Résistance radikalisiert, als theoretischer Ausdruck stand ihr allerdings nur die bürgerliche Philosophie zur Verfügung. Marx hatte man an den Universitäten gerade erst entdeckt, meist vemittelt über seine Frühschriften oder durch Hegel. Marx wurde so als Radikalisierung der Subjektphilosophie oder des republikanischen Humanismus interpretiert. Sartre baute die Entfremdungskritik in seinen Existentialismus ein und Maurice Merleau-Ponty sah in der Dialektik eigentlich nur den Praxisbegriff, als Kern des »authentischen Marxismus«. Man suchte auf diesen Wegen nach einem philosophischen Fundament emanzipatorischer Praxis und dem Ausweg aus der »Krise der Philosophie«, an der auch der Marxismus der Kommunistischen Partei seinen Teil hatte. Man verließ aber nicht deren prinzipielles Terrain.
Einen solchen »Terrainwechsel« strebte Althusser an und sah in Marx das Vorbild für eine »totale theoretische Revolution«. Er las Marx’ Werk als einen fortschreitenden Erkenntnisprozess, der sich durch den »epistemologischen Bruch« mit der Philosophie hin zu einer Wissenschaft der Gesellschaft auszeichnete. »Das Kapital« stellte genau diese Wissenschaft dar: Die Erkenntnis der gesellschaftlichen Totalität – und zwar der konkreten, also ohne jede abstrakte Mystifizierung wie etwa bei Hegel. Allerdings liege diese Erkenntnis nicht in Formelsätzen vor, wie es die marxistischer Orthodoxie unterstellte, sondern in »praktischer Form«. Es gebe folglich keine theoretische Anleitung, wie eine solche Analyse zu aktualisieren wäre. Aber um genau diese Aktualisierung, so Althusser, müsse es gehen, um Kapitalismus, Ideologie und Klassenkampf in einer Gesellschaft zu erkennen, die diese Umstände unter dem Mantel des Wohlfahrtsstaats verbarg.
Althusser widmete sich konsequenterweise einer Theorie des Staats, der konkreten Totalität und ihrer Reproduktion der Produktionsbedingungen über »Ideologie und ideologische Staatsapparate«. Aber dieses Projekt sollte sich für die Ansprüche der politischen Praxis als unbrauchbar erweisen. Umso mehr, da Althusser zur Mitte der sechziger Jahre anfing, die Studierenden für ihre spontaneistische Ideologie zu kritisieren und versuchte, sie im Sinne des Leninismus aufzuklären. Sein Beharren auf der übermächtigen Totalität und der ideologischen Vereinnahmung jeder Praxis, die ihre Begleitumstände nicht ausreichend reflektiert, galt nunmehr als praxisfeindlich. Die Aufbruchsstimmung um den Mai 1968 verlangte anstelle theoretischer Reflexion vielmehr eine Affirmation des Protests und der Barrikaden. Althussers Marxismus wurde als Bevormundung der subversiven Subjekte zurückgewiesen und stand schnell im Verdacht, selbst nur autoritäres Denken zu sein. Die antiautoritäre Rebellion richtete sich daher nicht mehr gegen eine schlechte Totalität des kapitalistischen Staats, sondern zuerst gegen die vermeintlich schlechte Theorie der Totalität.
Althusser hatte versucht, den Erkenntnisanspruch des Marxismus zu retten. Die enttäuschte Abwendung von ihm war zum Ende der sechziger Jahre daher so endgültig wie symptomatisch. Sein ehemaliger Schüler und mittlerweile Ikone der radikalen Bewegungslinken Jacques Rancière rekapitulierte etwa, dass der »Althusserianismus auf den Barrikaden des Mai 1968 gestorben« sei. Man hatte den Marxismus als Teil eines autoritären Wissens entlarvt. Dadurch wurde der Weg frei für eine vermeintlich radikalere Kritik.
Aber ging denn in Wirklichkeit die Schlechtigkeit der Welt nicht weit über den Staat hinaus und musste grundlegender, sprich subjektiver, zurückgewiesen werden? Das fragte sich etwa Michel Foucault, dem es herrschaftskritisch vorkam, Macht als eine neutrale und produktive Wechselwirkung zu denken denn als etwas, was man haben kann. Foucault proklamierte, dass das Wissen selbst machtförmig sei und traf damit den Nerv jener vom Marxismus enttäuschten Linken, die sich vom rigorosen Wahrheitsanspruch Althussers in die Ecke gedrängt sahen. So auch etwa Jacques Derrida, der zwar mit dem emanzipatorischen Anspruch des Marxismus sympathisierte, aber dem »der Diskurs zu erdrückend« war.
Entsprechend der praktischen Anforderungen veränderte sich die Theorie. Foucault verwarf den Marxismus, ohne sich die Mühe gemacht zu haben, sich mit dessen Erkenntnisgehalt auseinanderzusetzen. Für ihn war dieser schlicht Teil des Establishments, der »wie ein Fisch im Wasser des abendländischen Denkens« schwamm. Eine solche Haltung ermöglichte einen maximal radikalen Habitus bei minimaler praktischer Konsequenz. Die große Pointe der Foucaultschen Machtanalyse ist, dass die eigene Subjektivität machtförmig hergestellt werde und man genau dort Widerstand leisten könne – jederzeit und überall. Die Bedingung dieses subversiven Versprechens ist ein theoretisches Bekenntnis, das in den folgenden Jahrzehnten als »das Politische«, als Kontingenz oder als Anti-Essentialismus in die Philosophiegeschichte einging. Es ist nichts weniger als die aktive Abkehr von einer revolutionären Perspektive und ihrer Theorie des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs.
Dies ist das Erbe, das bis heute die Grundlage emanzipatorischer Theorie bestimmt, vom Poststrukturalismus über Postmarxismus bis in die Sozialphilosophie. In der Rückschau lässt sich erkennen, dass diese Verschiebung ihre historische Berechtigung hat, dass es keinen Mai 1968 und keine damit verbundene Emanzipation ohne den schweren Bruch mit dem Marxismus gegeben hätte. Allerdings hat sich der Kontext natürlich grundlegend geändert. Niemand hat heute mehr Angst vor dem erdrückenden Diskurs des monolithischen Marxismus, der alle Differenzen plattzuwalzen droht und aus dessen Zwangskorsett man sich freikämpfen müsse. Angesichts der Geschlossenheit des reaktionären backlash und dem Gesamtzusammenhang der globalen Krise rücken ganz andere theoretische Herausforderungen in den Fokus, gegen die das Beharren auf der grundlegenden Unbestimmtheit der Gesellschaft ahnungslos wirkt. In Althussers praktischem Beharren auf der Notwendigkeit einer Theorie der gesellschaftlichen Totalität findet sich für diese Probleme natürlich keine Lösung, aber vielleicht ein Ansatzpunkt, die blinden Flecken gegenwärtiger linker Theorie und Praxis genauer zu bestimmen.
von Alex Struwe
Der Artikel erschien unter dem Titel Rigoroser Wahrheitsanspruch zuerst in Jungle World Nr. 49/2018, URL: https://jungle.world/artikel/2018/49/rigoroser-wahrheitsanspruch