Kritik der Entfremdung

Drei Bespre­chun­gen

Buch­be­spre­chung zu Dani­el Loick: Juri­dis­mus. Kon­tu­ren einer kri­ti­schen Theo­rie des Rechts.

2017 | 342 Sei­ten | 18 € | Suhr­kamp Ver­lag | ISBN: 978–3‑518–29812‑1

In aktu­el­le­ren gesell­schafts­theo­re­ti­schen Ansät­zen hat sich eine bestimm­te Form von Kri­tik her­aus­ge­bil­det, die sich stark auf die von Karl Marx her stam­men­de Ana­ly­se von Ent­frem­dungs­ef­fek­ten bezieht.

Nach Marx ruft beson­ders die indus­tri­el­le, kapi­ta­lis­ti­sche Art zu arbei­ten pro­ble­ma­ti­sche Effek­te her­vor. Dadurch, dass das Pro­dukt der Arbeit am Ende des Tages nicht den Arbei­ten­den, son­dern den Kapi­ta­lis­ten gehört, ent­steht zunächst eine emo­tio­na­le Distanz zwi­schen Pro­dukt und Arbei­ter. Da die Arbei­ter dabei aber noch auf einem Arbeits­markt in Kon­kur­renz zuein­an­der ste­hen, ent­steht auch zwi­schen ihnen unter­ein­an­der eine feind­li­che Stim­mung. Da sie in der Fabrik außer­dem einer star­ken Dis­zi­plin aus­ge­setzt sind, neh­men sie ihr Arbeits­um­feld zuneh­mend als feind­li­che Bedro­hung wahr, und selbst die Maschi­nen erschei­nen Ihnen eher als Kon­kur­renz denn als nütz­li­che Werkzeuge.

Weil es außer­dem einen bestän­di­gen Inter­es­sen­ge­gen­satz zwi­schen den Inha­bern der Fabrik und den Arbeiter*innen gibt, steigt die Frus­tra­ti­on bei den Beschäf­tig­ten noch zusätz­lich: Mit jedem erfolg­rei­chen Pro­duk­ti­ons­zy­klus hat der Inha­ber mehr und mehr Geld in der Hand als zuvor, und umso schwie­ri­ger wird es für die Beschäf­tig­ten, ihre eige­nen Inter­es­sen gegen die wach­sen­de Macht der Unter­neh­mer durch­zu­set­zen. Selbst Streiks kann der Unter­neh­mer ein­fach aus­sit­zen, wäh­rend den Beschäf­tig­ten dann meist schlicht Aus­kom­men fehlt. Para­do­xer­wei­se sind die Arbei­ten­den vom Wohl­wol­len der Inha­ber umso stär­ker abhän­gig, je bes­ser der Betrieb läuft. Aus der Gegen­wart ist uns die­ser Zusam­men­hang aus dem Wech­sel­spiel von „Rekord­ge­winn­jah­ren“, auf die meist ein gro­ßer „Per­so­nal­ab­bau“ folgt. Die Arbei­ten­den ver­stär­ken mit ihrer Arbeit also ihre eige­ne Abhän­gig­keit und ent­frem­den sich des­halb von ihr. Dadurch, dass die pro­du­zier­ten Wer­te dann auch noch in den Staat ein­flie­ßen, der im Zwei­fels­fall eben­so stets eher die Inter­es­sen der Kapi­ta­lis­ten schützt und dafür die Rech­te der Arbei­ten­den unter­drückt, sich frei zu ver­sam­meln und für ihre Ansprü­che zu kämp­fen – mit ande­ren Wor­ten: dadurch, dass die Arbei­te­rin­nen ihre eige­ne Unter­drü­ckung pro­du­ziert haben –, ent­steht letzt­end­lich eine sehr stark ableh­nen­de Hal­tung, sozu­sa­gen ein Bruch zwi­schen Arbei­ten­den und der Gesell­schaft, eine Situa­ti­on völ­li­ger Entfremdung.

Auf die­sem Grund­ge­dan­ken auf­bau­end wur­de in neue­rer Zeit wie­der ver­mehrt dar­auf hin­ge­wie­sen, dass nicht nur in der kapi­ta­lis­ti­schen Fabrik, son­dern auch in vie­len ande­ren Berei­chen des Lebens ähn­li­che Ent­frem­dungs­ef­fek­te auf­tre­ten. Argu­men­tier­te der klas­si­sche Mar­xis­mus noch, dass sol­che Ent­frem­dungs­ef­fek­te eben in der Natur kapi­ta­lis­ti­scher Pro­duk­ti­on lägen und nur durch deren Abschaf­fung neu­tra­li­siert wer­den kön­nen, wur­de in neue­rer Zeit ver­mehrt danach gefragt, wie eine sol­che Trans­for­ma­ti­on denn auch in ande­ren Lebens­be­rei­chen als in den unmit­tel­bar kapi­ta­lis­ti­schen Ver­hält­nis­sen in der Fabrik aus­se­hen kann. Die Fra­ge, was Ent­frem­dung heu­te bedeu­tet, geht dadurch mit einer ande­ren Per­spek­ti­ve auf Staat und Revo­lu­ti­on ein­her: Nicht mehr als Neben­wi­der­spruch und Ober­flä­chen­phä­no­men soll Ent­frem­dung behan­delt wer­den, son­dern als sozia­le Patho­lo­gie, nicht als Sym­ptom, son­dern als die zu hei­len­de Krank­heit selbst.

Im Fol­gen­den sind Bespre­chun­gen von Büchern ver­sam­melt, die der Ent­frem­dung in ver­schie­de­nen Berei­chen nachgehen.

Teil 1 – Dani­el Loick:

Ent­frem­dung als Juri­dis­mus – Ein neu­es Recht für einen neu­en Menschen

Der in der Bun­des­re­pu­blik recht bekannt gewor­de­ne (hin und wie­der als ultra-links rezi­pier­te) Phi­lo­soph Dani­el Loick hat 2017 sei­ne Habi­li­ta­ti­ons­schrift über Ent­frem­dung in Recht und Jus­tiz vor­ge­legt. Unter der Bezeich­nung „Juri­dis­mus“ fasst er dabei Sym­pto­me von Ent­frem­dung durch Rechts­sys­te­me im Spät­ka­pi­ta­lis­mus zusam­men (13).

Ganz grob umris­sen gibt es für Loick vier Pro­blem­be­rei­che: Ers­tens pro­du­zie­ren moder­ne juris­ti­sche Sys­te­me manch­mal schlicht fal­sche Erwar­tun­gen, die ent­täuscht wer­den. Die bür­ger­li­che Form von Recht füh­re zwei­tens zu Illu­sio­nen und zu Ideo­lo­gie. Sie füh­re außer­dem drit­tens zu Beschä­di­gun­gen der Psy­che und zum Ver­lust der Fähig­keit zu einer kla­ren Kom­mu­ni­ka­ti­on. Jeder Mensch, der schon ein­mal unfrei­wil­lig in die ver­win­kel­te, feind­li­che Denk­wei­se eines juris­ti­schen Ver­fah­rens ver­wi­ckelt war, wird sofort wis­sen, was hier gemeint ist. Vier­tens meint Loick einen Ver­lust poli­ti­scher Hand­lungs­fä­hig­keit von Men­schen und sozia­len Bewe­gun­gen im Bereich des moder­nen Rechts zu erkennen.

Ent­frem­dung und Entsetzlichkeit

Aber von vor­ne. Loick errich­tet sei­ne Unter­su­chung selbst nicht vor dem Hin­ter­grund einer spe­zi­fi­schen poli­ti­schen oder sozia­len Bewe­gung. Sein Zugang ist abs­trakt, genau­er: sozi­al­phi­lo­so­phisch. Es geht Loick nicht nur um die even­tu­el­le Unge­rech­tig­keit der Ergeb­nis­se von recht­li­chen Rege­lun­gen, son­dern um die Fra­ge, inwie­fern die Form des Rechts sel­ber ein Hin­der­nis auf dem Weg zu einem gelin­gen­den mensch­li­chen Zusam­men­le­ben dar­stellt (11).

Die­se Ent­schei­dung hat eini­ge Vor­tei­le, stellt die Stu­die aber auch vor gro­ße begriff­li­che Pro­ble­me. Denn die gro­ße Fra­ge im Raum, die unbe­ant­wor­tet bleibt, lau­tet: Sind denn die Men­schen über­haupt alle glei­cher­ma­ßen und im glei­chen Sin­ne an einem gelin­gen­den Zusam­men­le­ben inter­es­siert und wie sähe die­ses aus? Die tra­di­tio­nel­le, nicht ganz unüber­zeu­gen­de Ant­wort lau­te­te ja: Nein, sind sie nicht. Kön­nen sie auch nicht, weil prin­zi­pi­el­le objek­ti­ve Inter­es­sen­kon­flik­te eine Eini­gung unmög­lich machen. Zumin­dest der klas­si­schen Auf­fas­sung nach ist die kapi­ta­lis­ti­sche (und auch die patri­ar­cha­le) Form der Arbeits­tei­lung ganz sim­pel gesagt nicht dazu in der Lage, dau­er­haft einen zufrie­den­stel­lend ver­teil­ba­ren Über­schuss zu pro­du­zie­ren, der Kon­flikt ist also unaus­weich­lich vor­pro­gram­miert. Auch in eigent­lich jeder ande­ren der neu­en sozia­len Bewe­gun­gen gibt es die­se Idee in der ein oder ande­ren Form.

Femi­nis­ti­sche Bewe­gun­gen etwa kön­nen und wol­len zurecht nicht ein­fach ein fried­li­ches Zusam­men­le­ben mit hete­ro­nor­ma­ti­ver Männ­lich­keit ein­for­dern. Es gibt aus ihrer Sicht gute Grün­de zu der Annah­me, dass die­se Form von Männ­lich­keit ganz prin­zi­pi­ell auf einer sys­te­ma­ti­schen Abjek­ti­on und Abwer­tung von Frau­en* und Weib­lich­keit beruht. Daher sind die Strö­mun­gen des radi­ka­len Femi­nis­mus stets auch an einer prin­zi­pi­el­len Ableh­nung die­ser Geschlech­ter­bil­der inter­es­siert, bevor von einem gelin­gen­den Zusam­men­le­ben auch nur die Rede sein kann. Die Geschich­te der engen Ver­zah­nung von Staat­lich­keit und herr­schen­der Männ­lich­keit gibt ihnen dabei oft­mals recht. Aber auch anti-ras­sis­ti­sche und post­ko­lo­nia­le Bewe­gun­gen, sowie Kri­ti­ken an moder­nen For­men inter­na­tio­na­ler Arbeits­tei­lung (die oft Abhän­gig­kei­ten der Län­der eher ver­stärkt als sie abzu­mil­dern), wei­sen ganz zurecht dar­auf hin, dass es eine neu­tra­le Grund­ge­samt­heit von glei­chen Men­schen schlicht gar nicht erst gibt – und es des­we­gen auch müßig ist, ein Man­gel an geeig­ne­ten (recht­li­chen) Mit­teln zur Gestal­tung eines har­mo­ni­schen Mit­ein­an­ders zu bekla­gen. Staat und Recht neh­men die­se Men­schen schlicht – wie es auch die klas­si­sche Per­spek­ti­ve zumin­dest rudi­men­tär tat – oft als Werk­zeug ihrer eige­nen Unter­drü­ckung wahr, im Rah­men derer es kei­ne gemein­sa­men Inter­es­sen von Unter­drü­ckern und Unter­drück­ten geben kann. Auch nicht zuletzt ein gro­ßer Teil der Umwelt­be­we­gung weist dar­auf hin, dass es sich beim anhal­ten­den Raub­bau nicht um eine Patho­lo­gie von Gesell­schaft oder Recht an sich han­delt, son­dern schlicht um eine Durch­set­zung bestimm­ter, oft: kapi­ta­lis­ti­scher Inter­es­sen, die mit den Exis­tenz­be­din­gun­gen der Natur unver­ein­bar sind.

Ist das Recht noch zu retten?

All die­se Schwie­rig­kei­ten mit der Span­nung zwi­schen einer auf Form­aspek­te fokus­sie­ren­den Kri­tik einer­seits und einer Inhalts­kri­tik ande­rer­seits blei­ben vor­erst aus­ge­klam­mert. Loick will sich damit den Raum für eine for­ma­le Begriffs­ar­beit schaf­fen, mit Hil­fe derer erst im Nach­hin­ein auf die Bewe­gun­gen und den Inhalt des Rechts zurück­ge­schwenkt wird. Doch die Begriffs­ar­beit selbst strau­chelt eher unter die­ser unge­heu­ren Ver­drän­gungs­leis­tung, als dass sie gedeiht. Deut­lich wird das schon an Loicks ein­lei­ten­der Inter­pre­ta­ti­on einer Novel­le von Hein­rich von Kleist, die deren Sinn grenz­wer­tig ver­biegt. Es han­delt sich um das Stück Micha­el Kohl­haas. Der Prot­ago­nist Kohl­haas, der mit Pfer­den han­delt, wird dar­in von der kor­rup­ten staat­li­chen Obrig­keit um zwei sei­ner Pfer­de betro­gen. All sei­ne Ver­su­che, die Ange­le­gen­heit auf dem Rechts­weg zu klä­ren, enden mit Aus­flüch­ten sei­tens der Täter: Die staat­li­che Gerichts­bar­keit ist weder wil­lens noch in der Lage, gegen sich selbst vor­zu­ge­hen, die Täter zu bestra­fen und Kohl­haas’ Scha­den zu kom­pen­sie­ren. Ganz im Gegen­teil wird Kohl­haas und sein Umfeld ein­ge­schüch­tert und zum Schwei­gen gebracht: Sein Ange­stell­ter wird schwer miss­han­delt, Kohl­haas’ Part­ne­rin Lis­beth, die eine roman­ti­sche Bezie­hung mit ihm pflegt, wird letzt­lich, weil sie sich in der Sache enga­giert, von einem Söld­ner der Obrig­keit umge­bracht – was in gän­gi­gen Zusam­men­fas­sung übri­gens ger­ne als „Unglück“, „zu Tode kom­men“ oder ähn­lich bezeich­net wird, und in Loicks Kurz­dar­stel­lung gleich gar nicht vor­kommt. Kohl­haas radi­ka­li­siert dar­auf­hin sein Vor­ge­hen, bil­det eine Ban­de und ter­ro­ri­siert auf der Suche nach Gerech­tig­keit das umlie­gen­de Land und die Städ­te, die er plün­dern lässt und nie­der­brennt. Kohl­haas wird bei der Ver­fol­gung sei­nes erlit­te­nen Unrechts selbst zum Mörder.

Trotz die­ser wahr­haft chao­ti­schen Situa­ti­on inter­pre­tiert Loick die Geschich­te als eine Para­bel über ein „Zuviel an Recht“ (11) – es sei gera­de Kohl­haas’ Recht­schaf­fen­heit, die die Ent­setz­lich­keit der Geschich­te aus­ma­che. Anders­her­um: Ohne Kohl­haas’ Unbeug­sam­keit und Stur­heit wäre die Geschich­te auch nicht der­art ent­setz­lich aus­ge­fal­len. Als ob die Geschich­te nicht gera­de nach einer Inter­pre­ta­ti­on im Sin­ne einer mate­ria­lis­ti­schen Klassen‑, Staats- und Rechts­theo­rie ver­lan­gen wür­de, die her­aus­stellt, inwie­fern das schein­bar neu­tra­le Recht nur den Jun­kern dient (denn letzt­end­lich sind die­se in ihrer Posi­ti­on auf­grund eines Unter­drü­ckungs­sys­tems, das sich einen legi­ti­men Anstrich gibt), schnei­det Loick die­se Hin­ter­grün­de zunächst völ­lig ab und zieht statt­des­sen einen wei­te­ren Trick aus der Theo­rie­kis­te: Die imma­nen­te Kri­tik.

Anstel­le eine Visi­on über eine befrei­te Gesell­schaft ihrer unfrei­en Rea­li­tät gegen­über­zu­stel­len und ein Pro­gramm der Bes­se­rung zu ent­wi­ckeln – heu­te schein­bar ein gro­ßes no-go in der Gesell­schafts­theo­rie – muss natür­lich „die Rea­li­tät sozia­ler Prak­ti­ken mit den in ihnen selbst ver­kör­per­ten nor­ma­ti­ven Prin­zi­pi­en [kon­fron­tiert wer­den]” (12). Ein sol­ches Vor­ge­hen ver­spricht einen gro­ßen Vor­teil: Ganz offen­sicht­lich wan­deln sich patri­ar­chal-kapi­ta­lis­ti­sche Rechts­for­men bestän­dig, und eben­so offen­sicht­lich wan­deln sie sich manch­mal auch „zum Guten“. Wer eine imma­nen­te Kri­tik betreibt, nimmt die­sen Wan­del zum Bes­se­ren mit in sei­ne Theo­rie auf und läuft nicht Gefahr, Recht, Staat und Gesell­schaft nur ein­di­men­sio­nal als allei­ni­ges Werk­zeug einer bösen, ver­schwö­re­ri­schen Kas­te zu begreifen.

Statt­des­sen kann Loick sich offen die Fra­ge stel­len, war­um „das moder­ne Recht, obwohl es Frei­heit und Gleich­heit rea­li­sie­ren soll, Frei­heit und Gleich­heit behin­dert“ (13). Tra­di­tio­nel­ler ori­en­tier­te Stand­punk­te haben es da leich­ter: Das Recht hat über­haupt gar nichts mit Frei­heit oder Gleich­heit zu tun, son­dern ist ein Ergeb­nis von Klas­sen­kämp­fen und ‑kom­pro­mis­sen sowie den sich wan­deln­den Anfor­de­run­gen an die Repro­duk­ti­on. Wer­den die Maschi­nen kom­ple­xer, wer­den bes­ser aus­ge­bil­de­te Bedien­mann­schaf­ten gebraucht – die aber formt man nicht in der 16-Stun­den-Schicht am Web­stuhl (wo sie früh ein­ge­hen) son­dern im rela­tiv ange­neh­men Nor­mal­ar­beits­ver­hält­nis, und dazu gehö­ren dann auch ein paar Rech­te, die die Illu­si­on erwe­cken kön­nen, frei und gleich zu leben. Mit Loicks Fra­ge­stel­lung hin­ge­gen erscheint „das Recht … nicht nur als unzu­rei­chen­des Gegen­mit­tel, son­dern viel­mehr selbst eine Ursa­che für … sozia­le Patho­lo­gien“ (16) – wohl­ge­merkt das Recht selbst, und nicht etwa die Urhe­ber die­ses Rechts, wer auch immer sie sein mögen.

Mit Marx gegen Marx

Wel­che Her­an­ge­hens­wei­se hat nun Recht? Eine ernst­haft mate­ria­lis­ti­sche Per­spek­ti­ve muss natür­lich stets bei­de Sei­ten im Blick haben. Es ver­bie­tet sich, ein­fach unter einer fal­schen Anru­fung der Auto­ri­tät etwa eines „wah­ren Marx“ die Ent­frem­dungs­kri­tik des Rechts und ihren ver­meint­lich „fal­schen Marx“ zu denun­zie­ren. Sol­che phi­lo­lo­gi­schen Zir­kel­be­wei­se müs­sen ein Ende fin­den, wenn mate­ria­lis­ti­sche Theo­rie eine sinn­vol­le Zukunft haben will (ande­rer­seits lässt es aber auch Loick sich nicht neh­men, noch ein­mal dem bereits toten Hund eines Basis-Über­bau Wider­spie­ge­lungs­mar­xis­mus nach­zu­tre­ten (15), obwohl sel­bi­ger längst nicht mehr die Gang­art der lin­ken Theo­rie vor­gibt). Der Mode der Zeit fol­gend, die dik­tiert, dass es die frei­wer­den­de Nische zwi­schen Ablei­tungs­mar­xis­mus, Links­ra­di­ka­lis­mus und kraft­lo­sem Refor­mis­mus auf jeden Fall zu beset­zen gilt, will Loick „nicht die For­de­rung nach Abschaf­fung oder Über­win­dung von Recht, wie sie in eini­gen Vari­an­ten mar­xis­ti­scher oder anar­chis­ti­scher Gesell­schafts­kri­tik erho­ben wird“ (18) wiederholen.

Nun müss­te man, schon der Fair­ness hal­ber, ein wenig dar­über reden, dass die über­haupt in Fra­ge kom­men­den For­men des Mar­xis­mus gera­de kei­ne Abschaf­fung oder Über­win­dung von Recht gefor­dert haben, son­dern viel­mehr ein Bemü­hen, Ver­hält­nis­se zu schaf­fen, in denen die Not­wen­dig­keit von beson­de­rer Gewalt, Staat und Recht sich erkenn­bar im Abster­ben befin­det. Die­se Mar­xis­men haben dabei teils erheb­li­che Ener­gie in den Ver­such gesteckt, die­sen Umstand zu beschrei­ben und theo­re­tisch zu begrün­den. Aller­dings, es trifft zu, dass seit die­sen Ver­su­chen sehr viel Zeit ver­gan­gen ist, und es schwer­fällt, die­se weit­rei­chen­den und lei­der abs­trak­ten Fra­gen all­ge­mein­gül­tig zu beant­wor­ten. Loick wählt des­halb den Umweg über die Phi­lo­so­phie­ge­schich­te von Hegel zu Marx und Nietz­sche, um sich dem Pro­blem zu nähern. Kann Loick zei­gen, dass die vom Mar­xis­mus stets beacker­te The­se – Staat und Recht sei­en, trotz aller Knif­fe, letzt­end­lich doch abhän­gig von Klas­sen­kampf und öko­no­mi­scher Basis – sich heu­te als falsch erweist, und eine „radi­ka­le Trans­for­ma­ti­on von Recht“ (18) wirk­lich mög­lich ist?

Die­ser Begriff der Trans­for­ma­ti­on grenzt sich von ande­ren Poli­tik­for­men ab, gemeint sind die klas­si­schen Vor­stel­lun­gen der radi­ka­len Lin­ken: Nicht nur reprä­sen­ta­ti­ve Poli­tik­for­men (Par­tei, Gewerk­schaft, Klas­sen­kampf und Revo­lu­ti­on etc.), son­dern auch sol­che „Akti­ons­for­men, die auf der Ebe­ne der Zivil­ge­sell­schaft, der Öko­no­mie oder der Intim­be­zie­hun­gen direkt anset­zen“ (21), sol­len als Poli­tik aner­kannt wer­den. Das ist einer­seits nur die begrü­ßens­wer­te theo­re­ti­sche Anwen­dung der 50 Jah­re alten For­de­rung, auch das Pri­va­te sei poli­tisch. So not­wen­dig es ist, die­se Erkennt­nis ernst­haft in die poli­ti­sche Theo­rie ein­zu­bau­en, so ana­chro­nis­tisch wirkt sie den­noch in einer Welt, die nicht mehr vom Auf­bruch der 60er- und 70er-Jah­re, son­dern von der Depres­si­on der post-1989, post‑9/11, post-Trump, post-Syri­en, post-Bre­x­it Welt etc. geprägt ist. Zum Zeit­punkt die­ses Tex­tes ist der par­la­men­ta­ri­sche Arm der Frem­den­feind­lich­keit und des beschleu­nig­ten, natio­nal abge­schirm­ten Neo­li­be­ra­lis­mus, die AfD, auf Bun­des­ebe­ne zur zweit­stärks­ten Kraft in der Sonn­tags­fra­ge gewor­den – und lässt mit ihrem Hass auf die „links­grü­ne“ Gesell­schaft gar kei­nen Zwei­fel dar­an bestehen, dass sie sich von der poli­ti­schen Kraft des Pri­va­ten oder auch der Zivil­ge­sell­schaft nicht im gerings­ten hin­ein­re­gie­ren las­sen wird, wo immer sie in Ent­schei­dungs­po­si­tio­nen kom­men soll­te. Im Gegen­teil sind schon jetzt gera­de die Insti­tu­tio­nen, die sich mit der Arbeit an Lebens- und Bezie­hungs­wei­sen befas­sen, das aller­ers­te Angriffs­ziel von AfD-Funktionär*innen, wäh­rend z. B. die rechts­ra­di­ka­le Regie­rung Ungarns sei­ne Zer­stü­cke­lung etwa der Gen­der Stu­dies und der sons­ti­gen Oppo­si­ti­on schon fast voll­endet hat.

Trans­for­ma­ti­on und Sou­ve­rä­ni­tät – Wider­stand nur ohne Machtoption

Die­se rapi­den Ent­wick­lun­gen wer­fen die Fra­ge auf, ob Loicks Vor­stel­lung von Trans­for­ma­ti­on und Wan­del, in des­sen Dienst die Ana­ly­se des Juri­dis­mus doch steht, in naher Zukunft über­haupt noch Gel­tung haben kön­nen. Die Akteur*innen ste­hen Loick zufol­ge vor dem Dilem­ma, einer­seits „sozia­le Prak­ti­ken zu eta­blie­ren … die dem Rechts­code gegen­über indif­fe­rent oder inkom­men­sura­bel sind“, ande­rer­seits müs­sen sie „das Recht for­dern, und somit Trans­for­ma­ti­on betrei­ben“ (21). Das ist zunächst eine tref­fen­de Abbil­dung der gegen­wär­ti­gen Situa­ti­on: Einer­seits soll Akti­vis­mus radi­kal, mili­tant, queer und vor allem kom­pro­miss­los gegen Staat und Kapi­tal vor­ge­hen – ande­rer­seits sol­len Akti­vis­ten sich auf­rich­tig empö­ren, als hät­ten sie von Staat und Recht, eben noch als Blut­hun­de des Kapi­tals ver­teu­felt, eigent­lich etwas bes­se­res erwar­tet. Doch gleich­zei­tig ist es eben auch nicht viel mehr als die Abbil­dung der Dis­kurs­stra­te­gie, wie sie aktu­ell betrie­ben wird und wie sie eben auch in die aktu­el­len poli­ti­schen Kri­se hin­ein­ge­führt hat: Der ver­meint­li­che Vor­teil die­ser dis­kur­si­ven Dop­pel­stra­te­gie für in die tota­le poli­ti­sche Depres­si­on und “lin­ke Melan­cho­lie” (Enzo Tra­ver­so). Das Kri­tik­mo­dell, dass der Gesell­schaft ihren Spie­gel vor­hal­ten will, baut dar­auf, dass die­se Gesell­schaft vor die­sem Anblick auch tat­säch­lich erschrickt und Bes­se­rung gelobt – doch gegen­wär­tig deu­tet nichts dar­auf hin, dass die bür­ger­li­che Mit­te des Spät­ka­pi­ta­lis­mus dafür noch hin­rei­chend Kräf­te mobi­li­sie­ren kann.

Loicks Trans­for­ma­ti­ons­mo­dell stellt die Fra­ge: Wie kann man den sta­tus quo radi­kal kri­ti­sie­ren, und den­noch gleich­zei­tig For­de­run­gen an sei­ne Insti­tu­tio­nen stel­len? Was bei die­ser Fra­ge aber außen vor bleibt, ist die Gemein­sam­keit zwi­schen bei­den Sei­ten. Denn in bei­den Vari­an­ten bleibt das poli­ti­sche Sub­jekt außer­halb der Sou­ve­rä­ni­tät: Der Akti­vis­mus for­dert etwa das Recht von der Sphä­re des Pri­va­ten her her­aus, oder er trans­for­miert das Recht, indem er For­de­run­gen an es stellt. Aber ein Sze­na­rio, in dem der Akti­vis­mus selbst in die Ver­ant­wor­tung kommt, Recht zu set­zen, also etwa selbst in die Mehr­heit zu kom­men und die Gestal­tungs­macht der Insti­tu­tio­nen tat­säch­lich selbst zu ergrei­fen, hat in die­ser Denk­wei­se nur noch wenig Platz. Die Idee, dass nicht eine Trans­for­ma­ti­on, son­dern eine Ergrei­fung des gesell­schaft­li­chen Gestal­tungs­po­ten­ti­als tat­säch­lich mach­bar ist, die das Recht nicht kri­ti­siert, son­dern neu­es, bes­se­res Recht schafft, liegt jen­seits des Ter­rains der Untersuchung.

Hegel vor­wärts und rückwärts

Loick klam­mert auch die­se Fra­ge ein und wen­det sich also dem Juri­dis­mus als Ent­frem­dung zu, wie er von Hegel beschrie­ben wird. Loick zeigt die ver­schie­de­nen Dimen­sio­nen von Hegels Schrif­ten, die theo­lo­gi­sche, die anthro­po­lo­gi­sche, etc. und spricht sogar den Spring­punkt aller sol­cher phi­lo­so­phi­schen Argu­men­ta­ti­ons­wei­se an: „Inwie­fern las­sen sich aus dem deskrip­ti­ven Nach­weis, dass der Mensch sozi­al ist … über­haupt ethi­sche, mora­li­sche oder poli­ti­sche, das heißt prä­skrip­ti­ve Kon­se­quen­zen zie­hen?“ (37).

Als auf­ge­klär­ter Mate­ria­list weiß natür­lich auch Loick, dass kein Knecht jemals von sei­nem Herrn die Frei­heit bekom­men hat, weil er jenen von sei­nem nega­ti­ven Frei­heits­be­griff geheilt und von einem Hegel­schen Begriff „sozia­ler Frei­heit“ (39) über­zeugt hat – und dass die Ant­wort daher nur lau­ten kann, dass sich aus deskrip­ti­ven Sät­zen eben unter kei­nen Bedin­gun­gen prä­skrip­ti­ve Sät­ze ablei­ten las­sen bzw. genau­er: Es las­sen sich tat­säch­li­che jede Men­ge Sät­ze irgend­wie begrün­den, nur erwächst deren tat­säch­li­che Gel­tungs­kraft nie­mals aus den Sät­zen selbst, son­dern aus der mal mehr mal weni­ger gro­ßen ideo­lo­gi­schen Ver­drän­gungs­leis­tung, die mit ihnen in die Wege gesetzt wird, weil die prin­zi­pi­el­le Anord­nung des Staa­tes ihnen stets ent­ge­gen­steht. Wäre der Staat dar­auf aus, Inter­es­sen­kon­flik­te zwi­schen sei­nen Mit­glie­dern zu mil­dern, so benö­tig­te er offen­bar auch kei­ne prä­skrip­ti­ven Begrün­dun­gen sozia­ler Frei­heit – sein Ziel wäre es ja bereits, im Kon­flikt­fall zu ver­mit­teln (was immer die genaue Begrün­dung sei), schlicht weil es sich bei den Kon­flikt­par­tei­en um Men­schen han­delt. Allein, es wird die prin­zi­pel­le Lek­ti­on leicht ver­ges­sen, dass dem eben nicht so ist: Der Staat ist – in eben der Hegel ent­ge­gen­ge­setz­ten Sicht­wei­se – nicht die Agen­tur der Har­mo­nie, son­dern der Ver­wal­ter der Kon­flik­te zwi­schen ver­schie­de­nen Klas­sen und Schich­ten in einem glo­ba­len Rin­gen um Domi­nanz unter einer par­ti­ku­la­ren Füh­rung. Nur als sol­cher benö­tigt er aus dem Deskrip­ti­ven abge­lei­te­te prä­skrip­ti­ve Moral­sät­ze: Einer­seits, um sei­ne Herr­schaft ideo­lo­gisch zu legi­ti­mie­ren, ande­rer­seits, um mit­hil­fe eines orga­ni­sier­ten phi­lo­so­phi­schen Mecha­nis­mus sicher­zu­stel­len, dass die eige­ne Repro­duk­ti­ons­wei­se auch vor dem Hin­ter­grund tech­ni­schen und natür­li­chen Wan­dels zukunfts­fä­hig bleibt, wozu eben hin und wie­der auch die ideo­lo­gi­schen Leit­sät­ze über­prüft und ggf. revo­lu­tio­niert wer­den müssen.

Die­se Ebe­ne kommt bei Hegel noch nicht vor, und sie kommt bei Loick und der Kri­tik von Ent­frem­dungs­ef­fek­ten nicht mehr vor. Es kann gute Grün­de geben, die­se Ebe­ne nicht mehr zu unter­su­chen. Aber ganz im Min­des­ten müss­te die­se wirk­lich grund­le­gen­de Fra­ge­stel­lung, in wel­cher poli­ti­schen Ver­fas­sung der Kri­tik von Ent­frem­dungs­ef­fek­ten, der Kri­tik von Lebens­for­men oder der For­mie­rung prä­skrip­ti­ver Sät­ze über­haupt eine Gel­tungs­kraft zukom­men kann, doch jeder Publi­ka­ti­on als offe­ne Dis­kus­si­on voranstehen.

Ansons­ten liegt die Stär­ke des Bands bei der Dar­stel­lung des Span­nungs­felds zwi­schen Kri­tik und Gegen­kri­tik, die außer bei Hegel auch in Reli­gio­nen, in der Lite­ra­tur und sogar in Kino­fil­men unter­sucht wird, inklu­si­ve einer Wie­der­ho­lung etwa der­sel­ben schie­fen Inter­pre­ta­ti­on von E. L. Doc­to­rows Roman Rag­time, wie sie schon bei Kohl­haas vor­ge­zeich­net war. Der limi­tie­ren­de Fak­tor bleibt dabei stets das aus­ge­schlos­se­ne Drit­te: eine Kri­tik, die den Rah­men der Imma­nenz und der Ent­frem­dung nicht über­schrei­tet, kann eine Welt nicht den­ken, in der pro­gres­si­ve Gegen­macht oder Gegen­ge­walt gewinnt.

Frag­wür­dig bleibt daher auch Loicks Sicht auf Marx’ Inter­pre­ta­ti­on der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on und ihrem Umschlag in die Dik­ta­tur: „Wenn die Men­schen kei­ne inner­lich affir­mier­ten Gemein­sam­kei­ten mehr zusam­men­hal­ten, so ver­hin­dert nur noch ein exter­nes Band das Aus­ein­an­der­fal­len der Gesell­schaft. Sozi­al des­in­te­grier­te Gesell­schaf­ten sind daher grund­sätz­lich stär­ker auf die Gewalt­ap­pa­ra­te des Staa­tes ange­wie­sen“ (46). Dass der Staat aber der Gewalt­ap­pa­rat in der Hand einer Men­ge mit durch­aus affir­mier­ten Gemein­sam­kei­ten sein könn­te, der eine ande­re Men­ge unter­drückt, bleibt in die­ser fahr­läs­si­gen Rekon­struk­ti­on unbe­ach­tet. Wenn Ent­frem­dung als Patho­lo­gie all­ge­mein the­ma­ti­siert wird, ver­stärkt sich damit nur nach all­ge­mei­nem Zusam­men­ste­hen, nach „Sinn“ und „Gemein­schaft“. Die Idee eines moder­nen Rechts auf Leben frei von Ent­frem­dung und frei von Gemein­schafts­zwang, und sei es der der com­mons-Gemein­de, die vor dem Toben des frei­en Mark­tes zumin­dest vor­ge­zo­gen wird, gerät aus dem Blick.

Ver­wandt­schaft von Aner­ken­nung und Entfremdung

Ent­spre­chend kon­stru­iert bleibt auch der Blick auf die Gegen­wart: Etwa der Slo­gan Black Lives Mat­ter rekur­riert laut Loick auf „die poli­ti­sche Dimen­si­on [der] straf­recht­li­chen Aner­ken­nung (oder Nicht­an­er­ken­nung) einer Unrechts­er­fah­rung“ (104). Nun hat die Bewe­gung dan­kens­wer­ter­wei­se noch nicht ganz so viel Hegel gele­sen und zielt des­halb nicht nur auf die Aner­ken­nung von ras­sis­ti­scher Poli­zei­ge­walt als Pro­blem, und auch nicht auf eine Kri­tik der Ent­frem­dung, die durch sol­che Gewalt ent­steht und einer For­de­rung von Aner­ken­nung durch die wei­ße Mehr­heits­ge­sell­schaft, son­dern auf ein Ende von ras­sis­ti­scher Poli­zei- und struk­tu­rel­ler Gewalt. Und auch wenn bei­des eng zusam­men­ge­hö­ren mag, han­delt es sich den­noch um einen gro­ßen Unter­schied der Per­spek­ti­ve. Es sind Kon­struk­tio­nen wie die­se, die die Lek­tü­re von Loicks Unter­su­chung sehr müh­sam machen. Bei jedem Schritt des Argu­ments – das sehr wohl poin­tier­te Stu­di­en zu Lite­ra­tur etwa von Haber­mas, Hon­neth, Brown und Deleu­ze ent­hält – muss die grund­sätz­li­che Ver­schie­bung des Dis­kur­ses hin zu einer Mobi­li­sie­rung von Sub­al­ter­ni­tät als Kor­rek­tiv des Sys­tems mit­be­dacht, zurück­ge­dacht, umfasst und zurück­ge­spult werden.

Am Ende bleibt ein Ein­druck davon zurück, wie tief der Gra­ben zwi­schen einer auf den Grund­la­gen einer mate­ria­lis­ti­schen Staats- oder Geschichts­theo­rie ope­rie­ren­den Kri­tik und einer Kri­tik von Aner­ken­nungs­pro­ble­men auf Basis eines hegel­mar­xis­ti­schen Ent­frem­dungs­vo­ka­bu­lars im Moment noch ist. Dani­el Loick kommt hier jeden­falls der Ver­dienst zu, die Über­le­gun­gen ent­lang die­ser Gren­ze am Leben zu halten.

von Flo­ri­an Geisler

2 Kommentare

  1. Zu dem Span­nungs­ver­hält­nis zwi­schen radi­ka­ler Kri­tik des Bestehen­den und des­sen Bear­bei­tung zum Bes­se­ren, in dem sich der Band der Rezen­si­on nach bewegt, kommt sicher­lich noch der Wider­spruch zwi­schen einem poli­ti­schen Anspruch und den Anfor­de­run­gen einer wis­sen­schaft­li­chen Qua­li­fi­ka­ti­ons­ar­beit hin­zu, die man dem for­ma­len Cha­rak­ter des Buches anmerkt. Ein ähn­li­ches Phä­no­men ließ sich auch bei Bini Adamc­zaks letz­tem Buch zur “Bezie­hungs­wei­se Revo­lu­ti­on” beob­ach­ten, das sei­nen Gegen­stand bis zur Unkennt­lich­keit der For­ma­li­sie­rung unter­wirft und dabei hin­ter ihre freie­ren Arbei­ten zur kom­mu­nis­ti­schen Trau­er­ar­beit zurück­fällt. Viel­leicht spielt ja auch hier die “Form” der Wis­sen­schaft eine Rol­le, die der des Rechts ver­gleich­bar wäre. Das trifft in etwa auch eine der ers­ten Irri­ta­tio­nen, die ich mit dem Buch hat­te: Ist denn die sys­te­ma­ti­sche Ver­zer­rung im Juri­dis­mus nicht ein­fach Ideo­lo­gie im ana­ly­ti­schen Sin­ne? Und damit dann gar kein so gro­ßes Wun­der, das einer kom­pli­zier­ten Her­lei­tung über abwe­gi­ge Theo­rien und Kul­tur­gü­ter bedarf? Aber für solch eine The­se bedürf­te es gera­de jener Ana­ly­se­per­spek­ti­ve gesell­schaf­li­cher Tota­li­tät, deren Unmög­lich­keit Loick zum Aus­gangs­punkt sei­ner Unter­su­chung dient. Gefühlt war aber selbst die Sozi­al­phi­lo­so­phie dar­über hin­aus, einen sol­chen Gegen­stand nur aus sich her­aus erklä­ren zu wol­len. Ent­spre­chend tref­fend sind ja auch Loicks Dia­gno­sen zum Recht, die aber in eine poli­ti­sche Hilf­lo­sig­keit ver­fal­len, gera­de weil sie nicht über Ihre Selbst­er­kennt­nis hin­aus­kom­men. Die­ses Pro­blem fin­de ich hier im Zusam­men­hang der “imma­nen­ten Kri­tik” gut ange­spro­chen, wobei aber berech­tig­ter­wei­se die Fra­ge offen­bleibt, was genau die Alter­na­ti­ve dazu sein kann. Imma­nen­te Kri­tik ist ja gera­de der Ver­such, jen­seits von Öko­no­mis­mus, Essen­tia­lis­mus und Deter­mi­nis­mus eine radi­ka­le Kri­tik­per­spek­ti­ve zu ent­wi­ckeln, für die das rück­wärts­ge­le­se­ne Werk von Marx als Kron­zeu­ge dient (von alt nach jung). Dass eine sol­che Abgren­zung aber heu­te immer mehr zum Schat­ten­bo­xen wird, weil wirk­lich gar nie­mand eine sol­che Posi­ti­on mit Auto­ri­tät behaup­tet, ist in der Bespre­chung auch betont wor­den. Die­ser Ana­chro­nis­mus steht tat­säch­lich in stärks­tem Kont­rats zu dem Selbst­be­wusst­sein der neo­fa­schis­ti­schen Kräf­te, die kei­ner­lei Berüh­rungs­ängs­te damit zei­gen, alle Ver­su­che der Dif­fe­renz der Auto­ri­tät zu opfern.

    • Selbst­ver­ständ­lich kann auch ein Dani­el Loick in einem aka­de­mi­schen Betrieb nicht ganz das schrei­ben, was er denkt (sonst wäre er nicht in die­sem Betrieb). Aber was ist dabei die lang­fris­ti­ge Perspektive?
      Offen­bar soll die Kri­tik der Ent­frem­dung, genau­so wie die Kri­tik bei Adamc­zak, dabei hel­fen, die Trans­for­ma­ti­on vom Kapi­ta­lis­mus in den Sozia­lis­mus hin­ein zu errei­chen. “Die Ris­se im Sys­tem ver­brei­tern”, “Welt ver­än­dern ohne die Macht zu ergrei­fen”, den “Kapi­ta­lis­mus von innen auf­bre­chen”, das ist die Stra­te­gie. Hier: Das Recht so kri­ti­sie­ren, dass es an sei­nen eige­nen Ansprü­chen schei­tert und sich trans­for­miert. Das ist nicht die schlech­tes­te Per­spek­ti­ve. Aber, und das ist der gan­ze Punkt: Es sieht im Moment nicht danach aus. Es sieht nicht danach aus, dass es Ris­se im Sys­tem gibt. Der Rechts­ruck erscheint nicht als Lücken­bü­ßer, son­dern fügt sich völ­lig orga­nisch in die Insti­tu­tio­nen ein. Die Kri­se lässt nichts zusam­men­stür­zen, sosehr man auch dar­auf hofft, son­dern sta­bi­li­siert alles. Blank­ge­putz­te Ober­flä­che wie eine Bowlingkugel.
      Was der Gegen­satz zu die­ser Stra­te­gie der Imma­nenz wäre? Naja: “Sagen, was ist.” Die moder­ne Wirt­schafts­wei­se hat einen Huma­nis­mus her­vor­ge­bracht, der gegen­wär­tig nicht erfüllt wird. Viel­leicht klappt’s in noch­mal 150 Jah­ren, wenn vol­le Gleich­stel­lung und ein gren­zen­lo­ses Grund­ein­kom­men erreicht sind. Wer dar­an nicht glaubt (oder nicht solan­ge war­ten will, weil’s mit dem letz­ten Mal 150 Jah­re war­ten auch nicht geklappt hat), kann ja hin­ge­hen, und es jetzt ein­for­dern. Ob eine Poli­tik des Huma­nis­mus die Macht bekom­men kann oder nicht, steht auf einem ande­ren Blatt, aber erst mal *wol­len* müss­te man.
      Aber die Dia­gno­se, dass Recht oder Macht schon “der Form nach” kor­rum­piert, regt natür­lich nicht dazu an, zu Erken­nen, dass das Recht men­schen­ge­macht ist, und damit auch ver­än­der­bar ist – jetzt. Es erzieht Leu­te dazu, vor den Gated Com­mu­nities der Mäch­ti­gen sit­zen zu blei­ben und dar­über zu lamen­tie­ren, dass die Form des Zau­nes irgend­wie gemein ist. Nicht die Form des Zau­nes, nicht *dass* er teilt und ver­bin­det, son­dern *was* und *wen* er teilt, scheint doch das wich­ti­ge­re zu sein. Ich fin­de schon, dass man die­sen Effekt zumin­dest irgend­wie kon­trol­lie­ren soll­te, auch wenn es quer zur Mei­nung an den Lehr­stüh­len geht.

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