Drei Besprechungen
Buchbesprechung zu Daniel Loick: Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts.
2017 | 342 Seiten | 18 € | Suhrkamp Verlag | ISBN: 978–3‑518–29812‑1
In aktuelleren gesellschaftstheoretischen Ansätzen hat sich eine bestimmte Form von Kritik herausgebildet, die sich stark auf die von Karl Marx her stammende Analyse von Entfremdungseffekten bezieht.
Nach Marx ruft besonders die industrielle, kapitalistische Art zu arbeiten problematische Effekte hervor. Dadurch, dass das Produkt der Arbeit am Ende des Tages nicht den Arbeitenden, sondern den Kapitalisten gehört, entsteht zunächst eine emotionale Distanz zwischen Produkt und Arbeiter. Da die Arbeiter dabei aber noch auf einem Arbeitsmarkt in Konkurrenz zueinander stehen, entsteht auch zwischen ihnen untereinander eine feindliche Stimmung. Da sie in der Fabrik außerdem einer starken Disziplin ausgesetzt sind, nehmen sie ihr Arbeitsumfeld zunehmend als feindliche Bedrohung wahr, und selbst die Maschinen erscheinen Ihnen eher als Konkurrenz denn als nützliche Werkzeuge.
Weil es außerdem einen beständigen Interessengegensatz zwischen den Inhabern der Fabrik und den Arbeiter*innen gibt, steigt die Frustration bei den Beschäftigten noch zusätzlich: Mit jedem erfolgreichen Produktionszyklus hat der Inhaber mehr und mehr Geld in der Hand als zuvor, und umso schwieriger wird es für die Beschäftigten, ihre eigenen Interessen gegen die wachsende Macht der Unternehmer durchzusetzen. Selbst Streiks kann der Unternehmer einfach aussitzen, während den Beschäftigten dann meist schlicht Auskommen fehlt. Paradoxerweise sind die Arbeitenden vom Wohlwollen der Inhaber umso stärker abhängig, je besser der Betrieb läuft. Aus der Gegenwart ist uns dieser Zusammenhang aus dem Wechselspiel von „Rekordgewinnjahren“, auf die meist ein großer „Personalabbau“ folgt. Die Arbeitenden verstärken mit ihrer Arbeit also ihre eigene Abhängigkeit und entfremden sich deshalb von ihr. Dadurch, dass die produzierten Werte dann auch noch in den Staat einfließen, der im Zweifelsfall ebenso stets eher die Interessen der Kapitalisten schützt und dafür die Rechte der Arbeitenden unterdrückt, sich frei zu versammeln und für ihre Ansprüche zu kämpfen – mit anderen Worten: dadurch, dass die Arbeiterinnen ihre eigene Unterdrückung produziert haben –, entsteht letztendlich eine sehr stark ablehnende Haltung, sozusagen ein Bruch zwischen Arbeitenden und der Gesellschaft, eine Situation völliger Entfremdung.
Auf diesem Grundgedanken aufbauend wurde in neuerer Zeit wieder vermehrt darauf hingewiesen, dass nicht nur in der kapitalistischen Fabrik, sondern auch in vielen anderen Bereichen des Lebens ähnliche Entfremdungseffekte auftreten. Argumentierte der klassische Marxismus noch, dass solche Entfremdungseffekte eben in der Natur kapitalistischer Produktion lägen und nur durch deren Abschaffung neutralisiert werden können, wurde in neuerer Zeit vermehrt danach gefragt, wie eine solche Transformation denn auch in anderen Lebensbereichen als in den unmittelbar kapitalistischen Verhältnissen in der Fabrik aussehen kann. Die Frage, was Entfremdung heute bedeutet, geht dadurch mit einer anderen Perspektive auf Staat und Revolution einher: Nicht mehr als Nebenwiderspruch und Oberflächenphänomen soll Entfremdung behandelt werden, sondern als soziale Pathologie, nicht als Symptom, sondern als die zu heilende Krankheit selbst.
Im Folgenden sind Besprechungen von Büchern versammelt, die der Entfremdung in verschiedenen Bereichen nachgehen.
Teil 1 – Daniel Loick:
Entfremdung als Juridismus – Ein neues Recht für einen neuen Menschen
Der in der Bundesrepublik recht bekannt gewordene (hin und wieder als ultra-links rezipierte) Philosoph Daniel Loick hat 2017 seine Habilitationsschrift über Entfremdung in Recht und Justiz vorgelegt. Unter der Bezeichnung „Juridismus“ fasst er dabei Symptome von Entfremdung durch Rechtssysteme im Spätkapitalismus zusammen (13).
Ganz grob umrissen gibt es für Loick vier Problembereiche: Erstens produzieren moderne juristische Systeme manchmal schlicht falsche Erwartungen, die enttäuscht werden. Die bürgerliche Form von Recht führe zweitens zu Illusionen und zu Ideologie. Sie führe außerdem drittens zu Beschädigungen der Psyche und zum Verlust der Fähigkeit zu einer klaren Kommunikation. Jeder Mensch, der schon einmal unfreiwillig in die verwinkelte, feindliche Denkweise eines juristischen Verfahrens verwickelt war, wird sofort wissen, was hier gemeint ist. Viertens meint Loick einen Verlust politischer Handlungsfähigkeit von Menschen und sozialen Bewegungen im Bereich des modernen Rechts zu erkennen.
Entfremdung und Entsetzlichkeit
Aber von vorne. Loick errichtet seine Untersuchung selbst nicht vor dem Hintergrund einer spezifischen politischen oder sozialen Bewegung. Sein Zugang ist abstrakt, genauer: sozialphilosophisch. Es geht Loick nicht nur um die eventuelle Ungerechtigkeit der Ergebnisse von rechtlichen Regelungen, sondern um die Frage, inwiefern die Form des Rechts selber ein Hindernis auf dem Weg zu einem gelingenden menschlichen Zusammenleben darstellt (11).
Diese Entscheidung hat einige Vorteile, stellt die Studie aber auch vor große begriffliche Probleme. Denn die große Frage im Raum, die unbeantwortet bleibt, lautet: Sind denn die Menschen überhaupt alle gleichermaßen und im gleichen Sinne an einem gelingenden Zusammenleben interessiert und wie sähe dieses aus? Die traditionelle, nicht ganz unüberzeugende Antwort lautete ja: Nein, sind sie nicht. Können sie auch nicht, weil prinzipielle objektive Interessenkonflikte eine Einigung unmöglich machen. Zumindest der klassischen Auffassung nach ist die kapitalistische (und auch die patriarchale) Form der Arbeitsteilung ganz simpel gesagt nicht dazu in der Lage, dauerhaft einen zufriedenstellend verteilbaren Überschuss zu produzieren, der Konflikt ist also unausweichlich vorprogrammiert. Auch in eigentlich jeder anderen der neuen sozialen Bewegungen gibt es diese Idee in der ein oder anderen Form.
Feministische Bewegungen etwa können und wollen zurecht nicht einfach ein friedliches Zusammenleben mit heteronormativer Männlichkeit einfordern. Es gibt aus ihrer Sicht gute Gründe zu der Annahme, dass diese Form von Männlichkeit ganz prinzipiell auf einer systematischen Abjektion und Abwertung von Frauen* und Weiblichkeit beruht. Daher sind die Strömungen des radikalen Feminismus stets auch an einer prinzipiellen Ablehnung dieser Geschlechterbilder interessiert, bevor von einem gelingenden Zusammenleben auch nur die Rede sein kann. Die Geschichte der engen Verzahnung von Staatlichkeit und herrschender Männlichkeit gibt ihnen dabei oftmals recht. Aber auch anti-rassistische und postkoloniale Bewegungen, sowie Kritiken an modernen Formen internationaler Arbeitsteilung (die oft Abhängigkeiten der Länder eher verstärkt als sie abzumildern), weisen ganz zurecht darauf hin, dass es eine neutrale Grundgesamtheit von gleichen Menschen schlicht gar nicht erst gibt – und es deswegen auch müßig ist, ein Mangel an geeigneten (rechtlichen) Mitteln zur Gestaltung eines harmonischen Miteinanders zu beklagen. Staat und Recht nehmen diese Menschen schlicht – wie es auch die klassische Perspektive zumindest rudimentär tat – oft als Werkzeug ihrer eigenen Unterdrückung wahr, im Rahmen derer es keine gemeinsamen Interessen von Unterdrückern und Unterdrückten geben kann. Auch nicht zuletzt ein großer Teil der Umweltbewegung weist darauf hin, dass es sich beim anhaltenden Raubbau nicht um eine Pathologie von Gesellschaft oder Recht an sich handelt, sondern schlicht um eine Durchsetzung bestimmter, oft: kapitalistischer Interessen, die mit den Existenzbedingungen der Natur unvereinbar sind.
Ist das Recht noch zu retten?
All diese Schwierigkeiten mit der Spannung zwischen einer auf Formaspekte fokussierenden Kritik einerseits und einer Inhaltskritik andererseits bleiben vorerst ausgeklammert. Loick will sich damit den Raum für eine formale Begriffsarbeit schaffen, mit Hilfe derer erst im Nachhinein auf die Bewegungen und den Inhalt des Rechts zurückgeschwenkt wird. Doch die Begriffsarbeit selbst strauchelt eher unter dieser ungeheuren Verdrängungsleistung, als dass sie gedeiht. Deutlich wird das schon an Loicks einleitender Interpretation einer Novelle von Heinrich von Kleist, die deren Sinn grenzwertig verbiegt. Es handelt sich um das Stück Michael Kohlhaas. Der Protagonist Kohlhaas, der mit Pferden handelt, wird darin von der korrupten staatlichen Obrigkeit um zwei seiner Pferde betrogen. All seine Versuche, die Angelegenheit auf dem Rechtsweg zu klären, enden mit Ausflüchten seitens der Täter: Die staatliche Gerichtsbarkeit ist weder willens noch in der Lage, gegen sich selbst vorzugehen, die Täter zu bestrafen und Kohlhaas’ Schaden zu kompensieren. Ganz im Gegenteil wird Kohlhaas und sein Umfeld eingeschüchtert und zum Schweigen gebracht: Sein Angestellter wird schwer misshandelt, Kohlhaas’ Partnerin Lisbeth, die eine romantische Beziehung mit ihm pflegt, wird letztlich, weil sie sich in der Sache engagiert, von einem Söldner der Obrigkeit umgebracht – was in gängigen Zusammenfassung übrigens gerne als „Unglück“, „zu Tode kommen“ oder ähnlich bezeichnet wird, und in Loicks Kurzdarstellung gleich gar nicht vorkommt. Kohlhaas radikalisiert daraufhin sein Vorgehen, bildet eine Bande und terrorisiert auf der Suche nach Gerechtigkeit das umliegende Land und die Städte, die er plündern lässt und niederbrennt. Kohlhaas wird bei der Verfolgung seines erlittenen Unrechts selbst zum Mörder.
Trotz dieser wahrhaft chaotischen Situation interpretiert Loick die Geschichte als eine Parabel über ein „Zuviel an Recht“ (11) – es sei gerade Kohlhaas’ Rechtschaffenheit, die die Entsetzlichkeit der Geschichte ausmache. Andersherum: Ohne Kohlhaas’ Unbeugsamkeit und Sturheit wäre die Geschichte auch nicht derart entsetzlich ausgefallen. Als ob die Geschichte nicht gerade nach einer Interpretation im Sinne einer materialistischen Klassen‑, Staats- und Rechtstheorie verlangen würde, die herausstellt, inwiefern das scheinbar neutrale Recht nur den Junkern dient (denn letztendlich sind diese in ihrer Position aufgrund eines Unterdrückungssystems, das sich einen legitimen Anstrich gibt), schneidet Loick diese Hintergründe zunächst völlig ab und zieht stattdessen einen weiteren Trick aus der Theoriekiste: Die immanente Kritik.
Anstelle eine Vision über eine befreite Gesellschaft ihrer unfreien Realität gegenüberzustellen und ein Programm der Besserung zu entwickeln – heute scheinbar ein großes no-go in der Gesellschaftstheorie – muss natürlich „die Realität sozialer Praktiken mit den in ihnen selbst verkörperten normativen Prinzipien [konfrontiert werden]” (12). Ein solches Vorgehen verspricht einen großen Vorteil: Ganz offensichtlich wandeln sich patriarchal-kapitalistische Rechtsformen beständig, und ebenso offensichtlich wandeln sie sich manchmal auch „zum Guten“. Wer eine immanente Kritik betreibt, nimmt diesen Wandel zum Besseren mit in seine Theorie auf und läuft nicht Gefahr, Recht, Staat und Gesellschaft nur eindimensional als alleiniges Werkzeug einer bösen, verschwörerischen Kaste zu begreifen.
Stattdessen kann Loick sich offen die Frage stellen, warum „das moderne Recht, obwohl es Freiheit und Gleichheit realisieren soll, Freiheit und Gleichheit behindert“ (13). Traditioneller orientierte Standpunkte haben es da leichter: Das Recht hat überhaupt gar nichts mit Freiheit oder Gleichheit zu tun, sondern ist ein Ergebnis von Klassenkämpfen und ‑kompromissen sowie den sich wandelnden Anforderungen an die Reproduktion. Werden die Maschinen komplexer, werden besser ausgebildete Bedienmannschaften gebraucht – die aber formt man nicht in der 16-Stunden-Schicht am Webstuhl (wo sie früh eingehen) sondern im relativ angenehmen Normalarbeitsverhältnis, und dazu gehören dann auch ein paar Rechte, die die Illusion erwecken können, frei und gleich zu leben. Mit Loicks Fragestellung hingegen erscheint „das Recht … nicht nur als unzureichendes Gegenmittel, sondern vielmehr selbst eine Ursache für … soziale Pathologien“ (16) – wohlgemerkt das Recht selbst, und nicht etwa die Urheber dieses Rechts, wer auch immer sie sein mögen.
Mit Marx gegen Marx
Welche Herangehensweise hat nun Recht? Eine ernsthaft materialistische Perspektive muss natürlich stets beide Seiten im Blick haben. Es verbietet sich, einfach unter einer falschen Anrufung der Autorität etwa eines „wahren Marx“ die Entfremdungskritik des Rechts und ihren vermeintlich „falschen Marx“ zu denunzieren. Solche philologischen Zirkelbeweise müssen ein Ende finden, wenn materialistische Theorie eine sinnvolle Zukunft haben will (andererseits lässt es aber auch Loick sich nicht nehmen, noch einmal dem bereits toten Hund eines Basis-Überbau Widerspiegelungsmarxismus nachzutreten (15), obwohl selbiger längst nicht mehr die Gangart der linken Theorie vorgibt). Der Mode der Zeit folgend, die diktiert, dass es die freiwerdende Nische zwischen Ableitungsmarxismus, Linksradikalismus und kraftlosem Reformismus auf jeden Fall zu besetzen gilt, will Loick „nicht die Forderung nach Abschaffung oder Überwindung von Recht, wie sie in einigen Varianten marxistischer oder anarchistischer Gesellschaftskritik erhoben wird“ (18) wiederholen.
Nun müsste man, schon der Fairness halber, ein wenig darüber reden, dass die überhaupt in Frage kommenden Formen des Marxismus gerade keine Abschaffung oder Überwindung von Recht gefordert haben, sondern vielmehr ein Bemühen, Verhältnisse zu schaffen, in denen die Notwendigkeit von besonderer Gewalt, Staat und Recht sich erkennbar im Absterben befindet. Diese Marxismen haben dabei teils erhebliche Energie in den Versuch gesteckt, diesen Umstand zu beschreiben und theoretisch zu begründen. Allerdings, es trifft zu, dass seit diesen Versuchen sehr viel Zeit vergangen ist, und es schwerfällt, diese weitreichenden und leider abstrakten Fragen allgemeingültig zu beantworten. Loick wählt deshalb den Umweg über die Philosophiegeschichte von Hegel zu Marx und Nietzsche, um sich dem Problem zu nähern. Kann Loick zeigen, dass die vom Marxismus stets beackerte These – Staat und Recht seien, trotz aller Kniffe, letztendlich doch abhängig von Klassenkampf und ökonomischer Basis – sich heute als falsch erweist, und eine „radikale Transformation von Recht“ (18) wirklich möglich ist?
Dieser Begriff der Transformation grenzt sich von anderen Politikformen ab, gemeint sind die klassischen Vorstellungen der radikalen Linken: Nicht nur repräsentative Politikformen (Partei, Gewerkschaft, Klassenkampf und Revolution etc.), sondern auch solche „Aktionsformen, die auf der Ebene der Zivilgesellschaft, der Ökonomie oder der Intimbeziehungen direkt ansetzen“ (21), sollen als Politik anerkannt werden. Das ist einerseits nur die begrüßenswerte theoretische Anwendung der 50 Jahre alten Forderung, auch das Private sei politisch. So notwendig es ist, diese Erkenntnis ernsthaft in die politische Theorie einzubauen, so anachronistisch wirkt sie dennoch in einer Welt, die nicht mehr vom Aufbruch der 60er- und 70er-Jahre, sondern von der Depression der post-1989, post‑9/11, post-Trump, post-Syrien, post-Brexit Welt etc. geprägt ist. Zum Zeitpunkt dieses Textes ist der parlamentarische Arm der Fremdenfeindlichkeit und des beschleunigten, national abgeschirmten Neoliberalismus, die AfD, auf Bundesebene zur zweitstärksten Kraft in der Sonntagsfrage geworden – und lässt mit ihrem Hass auf die „linksgrüne“ Gesellschaft gar keinen Zweifel daran bestehen, dass sie sich von der politischen Kraft des Privaten oder auch der Zivilgesellschaft nicht im geringsten hineinregieren lassen wird, wo immer sie in Entscheidungspositionen kommen sollte. Im Gegenteil sind schon jetzt gerade die Institutionen, die sich mit der Arbeit an Lebens- und Beziehungsweisen befassen, das allererste Angriffsziel von AfD-Funktionär*innen, während z. B. die rechtsradikale Regierung Ungarns seine Zerstückelung etwa der Gender Studies und der sonstigen Opposition schon fast vollendet hat.
Transformation und Souveränität – Widerstand nur ohne Machtoption
Diese rapiden Entwicklungen werfen die Frage auf, ob Loicks Vorstellung von Transformation und Wandel, in dessen Dienst die Analyse des Juridismus doch steht, in naher Zukunft überhaupt noch Geltung haben können. Die Akteur*innen stehen Loick zufolge vor dem Dilemma, einerseits „soziale Praktiken zu etablieren … die dem Rechtscode gegenüber indifferent oder inkommensurabel sind“, andererseits müssen sie „das Recht fordern, und somit Transformation betreiben“ (21). Das ist zunächst eine treffende Abbildung der gegenwärtigen Situation: Einerseits soll Aktivismus radikal, militant, queer und vor allem kompromisslos gegen Staat und Kapital vorgehen – andererseits sollen Aktivisten sich aufrichtig empören, als hätten sie von Staat und Recht, eben noch als Bluthunde des Kapitals verteufelt, eigentlich etwas besseres erwartet. Doch gleichzeitig ist es eben auch nicht viel mehr als die Abbildung der Diskursstrategie, wie sie aktuell betrieben wird und wie sie eben auch in die aktuellen politischen Krise hineingeführt hat: Der vermeintliche Vorteil dieser diskursiven Doppelstrategie für in die totale politische Depression und “linke Melancholie” (Enzo Traverso). Das Kritikmodell, dass der Gesellschaft ihren Spiegel vorhalten will, baut darauf, dass diese Gesellschaft vor diesem Anblick auch tatsächlich erschrickt und Besserung gelobt – doch gegenwärtig deutet nichts darauf hin, dass die bürgerliche Mitte des Spätkapitalismus dafür noch hinreichend Kräfte mobilisieren kann.
Loicks Transformationsmodell stellt die Frage: Wie kann man den status quo radikal kritisieren, und dennoch gleichzeitig Forderungen an seine Institutionen stellen? Was bei dieser Frage aber außen vor bleibt, ist die Gemeinsamkeit zwischen beiden Seiten. Denn in beiden Varianten bleibt das politische Subjekt außerhalb der Souveränität: Der Aktivismus fordert etwa das Recht von der Sphäre des Privaten her heraus, oder er transformiert das Recht, indem er Forderungen an es stellt. Aber ein Szenario, in dem der Aktivismus selbst in die Verantwortung kommt, Recht zu setzen, also etwa selbst in die Mehrheit zu kommen und die Gestaltungsmacht der Institutionen tatsächlich selbst zu ergreifen, hat in dieser Denkweise nur noch wenig Platz. Die Idee, dass nicht eine Transformation, sondern eine Ergreifung des gesellschaftlichen Gestaltungspotentials tatsächlich machbar ist, die das Recht nicht kritisiert, sondern neues, besseres Recht schafft, liegt jenseits des Terrains der Untersuchung.
Hegel vorwärts und rückwärts
Loick klammert auch diese Frage ein und wendet sich also dem Juridismus als Entfremdung zu, wie er von Hegel beschrieben wird. Loick zeigt die verschiedenen Dimensionen von Hegels Schriften, die theologische, die anthropologische, etc. und spricht sogar den Springpunkt aller solcher philosophischen Argumentationsweise an: „Inwiefern lassen sich aus dem deskriptiven Nachweis, dass der Mensch sozial ist … überhaupt ethische, moralische oder politische, das heißt präskriptive Konsequenzen ziehen?“ (37).
Als aufgeklärter Materialist weiß natürlich auch Loick, dass kein Knecht jemals von seinem Herrn die Freiheit bekommen hat, weil er jenen von seinem negativen Freiheitsbegriff geheilt und von einem Hegelschen Begriff „sozialer Freiheit“ (39) überzeugt hat – und dass die Antwort daher nur lauten kann, dass sich aus deskriptiven Sätzen eben unter keinen Bedingungen präskriptive Sätze ableiten lassen bzw. genauer: Es lassen sich tatsächliche jede Menge Sätze irgendwie begründen, nur erwächst deren tatsächliche Geltungskraft niemals aus den Sätzen selbst, sondern aus der mal mehr mal weniger großen ideologischen Verdrängungsleistung, die mit ihnen in die Wege gesetzt wird, weil die prinzipielle Anordnung des Staates ihnen stets entgegensteht. Wäre der Staat darauf aus, Interessenkonflikte zwischen seinen Mitgliedern zu mildern, so benötigte er offenbar auch keine präskriptiven Begründungen sozialer Freiheit – sein Ziel wäre es ja bereits, im Konfliktfall zu vermitteln (was immer die genaue Begründung sei), schlicht weil es sich bei den Konfliktparteien um Menschen handelt. Allein, es wird die prinzipelle Lektion leicht vergessen, dass dem eben nicht so ist: Der Staat ist – in eben der Hegel entgegengesetzten Sichtweise – nicht die Agentur der Harmonie, sondern der Verwalter der Konflikte zwischen verschiedenen Klassen und Schichten in einem globalen Ringen um Dominanz unter einer partikularen Führung. Nur als solcher benötigt er aus dem Deskriptiven abgeleitete präskriptive Moralsätze: Einerseits, um seine Herrschaft ideologisch zu legitimieren, andererseits, um mithilfe eines organisierten philosophischen Mechanismus sicherzustellen, dass die eigene Reproduktionsweise auch vor dem Hintergrund technischen und natürlichen Wandels zukunftsfähig bleibt, wozu eben hin und wieder auch die ideologischen Leitsätze überprüft und ggf. revolutioniert werden müssen.
Diese Ebene kommt bei Hegel noch nicht vor, und sie kommt bei Loick und der Kritik von Entfremdungseffekten nicht mehr vor. Es kann gute Gründe geben, diese Ebene nicht mehr zu untersuchen. Aber ganz im Mindesten müsste diese wirklich grundlegende Fragestellung, in welcher politischen Verfassung der Kritik von Entfremdungseffekten, der Kritik von Lebensformen oder der Formierung präskriptiver Sätze überhaupt eine Geltungskraft zukommen kann, doch jeder Publikation als offene Diskussion voranstehen.
Ansonsten liegt die Stärke des Bands bei der Darstellung des Spannungsfelds zwischen Kritik und Gegenkritik, die außer bei Hegel auch in Religionen, in der Literatur und sogar in Kinofilmen untersucht wird, inklusive einer Wiederholung etwa derselben schiefen Interpretation von E. L. Doctorows Roman Ragtime, wie sie schon bei Kohlhaas vorgezeichnet war. Der limitierende Faktor bleibt dabei stets das ausgeschlossene Dritte: eine Kritik, die den Rahmen der Immanenz und der Entfremdung nicht überschreitet, kann eine Welt nicht denken, in der progressive Gegenmacht oder Gegengewalt gewinnt.
Fragwürdig bleibt daher auch Loicks Sicht auf Marx’ Interpretation der französischen Revolution und ihrem Umschlag in die Diktatur: „Wenn die Menschen keine innerlich affirmierten Gemeinsamkeiten mehr zusammenhalten, so verhindert nur noch ein externes Band das Auseinanderfallen der Gesellschaft. Sozial desintegrierte Gesellschaften sind daher grundsätzlich stärker auf die Gewaltapparate des Staates angewiesen“ (46). Dass der Staat aber der Gewaltapparat in der Hand einer Menge mit durchaus affirmierten Gemeinsamkeiten sein könnte, der eine andere Menge unterdrückt, bleibt in dieser fahrlässigen Rekonstruktion unbeachtet. Wenn Entfremdung als Pathologie allgemein thematisiert wird, verstärkt sich damit nur nach allgemeinem Zusammenstehen, nach „Sinn“ und „Gemeinschaft“. Die Idee eines modernen Rechts auf Leben frei von Entfremdung und frei von Gemeinschaftszwang, und sei es der der commons-Gemeinde, die vor dem Toben des freien Marktes zumindest vorgezogen wird, gerät aus dem Blick.
Verwandtschaft von Anerkennung und Entfremdung
Entsprechend konstruiert bleibt auch der Blick auf die Gegenwart: Etwa der Slogan Black Lives Matter rekurriert laut Loick auf „die politische Dimension [der] strafrechtlichen Anerkennung (oder Nichtanerkennung) einer Unrechtserfahrung“ (104). Nun hat die Bewegung dankenswerterweise noch nicht ganz so viel Hegel gelesen und zielt deshalb nicht nur auf die Anerkennung von rassistischer Polizeigewalt als Problem, und auch nicht auf eine Kritik der Entfremdung, die durch solche Gewalt entsteht und einer Forderung von Anerkennung durch die weiße Mehrheitsgesellschaft, sondern auf ein Ende von rassistischer Polizei- und struktureller Gewalt. Und auch wenn beides eng zusammengehören mag, handelt es sich dennoch um einen großen Unterschied der Perspektive. Es sind Konstruktionen wie diese, die die Lektüre von Loicks Untersuchung sehr mühsam machen. Bei jedem Schritt des Arguments – das sehr wohl pointierte Studien zu Literatur etwa von Habermas, Honneth, Brown und Deleuze enthält – muss die grundsätzliche Verschiebung des Diskurses hin zu einer Mobilisierung von Subalternität als Korrektiv des Systems mitbedacht, zurückgedacht, umfasst und zurückgespult werden.
Am Ende bleibt ein Eindruck davon zurück, wie tief der Graben zwischen einer auf den Grundlagen einer materialistischen Staats- oder Geschichtstheorie operierenden Kritik und einer Kritik von Anerkennungsproblemen auf Basis eines hegelmarxistischen Entfremdungsvokabulars im Moment noch ist. Daniel Loick kommt hier jedenfalls der Verdienst zu, die Überlegungen entlang dieser Grenze am Leben zu halten.
von Florian Geisler
Zu dem Spannungsverhältnis zwischen radikaler Kritik des Bestehenden und dessen Bearbeitung zum Besseren, in dem sich der Band der Rezension nach bewegt, kommt sicherlich noch der Widerspruch zwischen einem politischen Anspruch und den Anforderungen einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit hinzu, die man dem formalen Charakter des Buches anmerkt. Ein ähnliches Phänomen ließ sich auch bei Bini Adamczaks letztem Buch zur “Beziehungsweise Revolution” beobachten, das seinen Gegenstand bis zur Unkenntlichkeit der Formalisierung unterwirft und dabei hinter ihre freieren Arbeiten zur kommunistischen Trauerarbeit zurückfällt. Vielleicht spielt ja auch hier die “Form” der Wissenschaft eine Rolle, die der des Rechts vergleichbar wäre. Das trifft in etwa auch eine der ersten Irritationen, die ich mit dem Buch hatte: Ist denn die systematische Verzerrung im Juridismus nicht einfach Ideologie im analytischen Sinne? Und damit dann gar kein so großes Wunder, das einer komplizierten Herleitung über abwegige Theorien und Kulturgüter bedarf? Aber für solch eine These bedürfte es gerade jener Analyseperspektive gesellschaflicher Totalität, deren Unmöglichkeit Loick zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung dient. Gefühlt war aber selbst die Sozialphilosophie darüber hinaus, einen solchen Gegenstand nur aus sich heraus erklären zu wollen. Entsprechend treffend sind ja auch Loicks Diagnosen zum Recht, die aber in eine politische Hilflosigkeit verfallen, gerade weil sie nicht über Ihre Selbsterkenntnis hinauskommen. Dieses Problem finde ich hier im Zusammenhang der “immanenten Kritik” gut angesprochen, wobei aber berechtigterweise die Frage offenbleibt, was genau die Alternative dazu sein kann. Immanente Kritik ist ja gerade der Versuch, jenseits von Ökonomismus, Essentialismus und Determinismus eine radikale Kritikperspektive zu entwickeln, für die das rückwärtsgelesene Werk von Marx als Kronzeuge dient (von alt nach jung). Dass eine solche Abgrenzung aber heute immer mehr zum Schattenboxen wird, weil wirklich gar niemand eine solche Position mit Autorität behauptet, ist in der Besprechung auch betont worden. Dieser Anachronismus steht tatsächlich in stärkstem Kontrats zu dem Selbstbewusstsein der neofaschistischen Kräfte, die keinerlei Berührungsängste damit zeigen, alle Versuche der Differenz der Autorität zu opfern.
Selbstverständlich kann auch ein Daniel Loick in einem akademischen Betrieb nicht ganz das schreiben, was er denkt (sonst wäre er nicht in diesem Betrieb). Aber was ist dabei die langfristige Perspektive?
Offenbar soll die Kritik der Entfremdung, genauso wie die Kritik bei Adamczak, dabei helfen, die Transformation vom Kapitalismus in den Sozialismus hinein zu erreichen. “Die Risse im System verbreitern”, “Welt verändern ohne die Macht zu ergreifen”, den “Kapitalismus von innen aufbrechen”, das ist die Strategie. Hier: Das Recht so kritisieren, dass es an seinen eigenen Ansprüchen scheitert und sich transformiert. Das ist nicht die schlechteste Perspektive. Aber, und das ist der ganze Punkt: Es sieht im Moment nicht danach aus. Es sieht nicht danach aus, dass es Risse im System gibt. Der Rechtsruck erscheint nicht als Lückenbüßer, sondern fügt sich völlig organisch in die Institutionen ein. Die Krise lässt nichts zusammenstürzen, sosehr man auch darauf hofft, sondern stabilisiert alles. Blankgeputzte Oberfläche wie eine Bowlingkugel.
Was der Gegensatz zu dieser Strategie der Immanenz wäre? Naja: “Sagen, was ist.” Die moderne Wirtschaftsweise hat einen Humanismus hervorgebracht, der gegenwärtig nicht erfüllt wird. Vielleicht klappt’s in nochmal 150 Jahren, wenn volle Gleichstellung und ein grenzenloses Grundeinkommen erreicht sind. Wer daran nicht glaubt (oder nicht solange warten will, weil’s mit dem letzten Mal 150 Jahre warten auch nicht geklappt hat), kann ja hingehen, und es jetzt einfordern. Ob eine Politik des Humanismus die Macht bekommen kann oder nicht, steht auf einem anderen Blatt, aber erst mal *wollen* müsste man.
Aber die Diagnose, dass Recht oder Macht schon “der Form nach” korrumpiert, regt natürlich nicht dazu an, zu Erkennen, dass das Recht menschengemacht ist, und damit auch veränderbar ist – jetzt. Es erzieht Leute dazu, vor den Gated Communities der Mächtigen sitzen zu bleiben und darüber zu lamentieren, dass die Form des Zaunes irgendwie gemein ist. Nicht die Form des Zaunes, nicht *dass* er teilt und verbindet, sondern *was* und *wen* er teilt, scheint doch das wichtigere zu sein. Ich finde schon, dass man diesen Effekt zumindest irgendwie kontrollieren sollte, auch wenn es quer zur Meinung an den Lehrstühlen geht.