Es soll wieder mehr ums Wesentliche gehen, darin sind sich die Linken einig, von den Jusos bis über Didier Eribon bis hin zu den Vertretern einer „Neuen Klassenpolitik“: Zu lange hätte das moderne kritische Denken die Möglichkeiten des Marxismus brach liegen lassen, endlich sei es jetzt an Zeit, doch zum Beispiel Marx’ Thesen über Feuerbach aufzuschlagen und guten alten Materialismus zu pauken.
Während viele Kommentare aber den Begriff „Materialismus“ zumeist einfach mit Bildern von rauchenden Schloten und rußverschmierten Gesichtern verbinden – also schlicht mit „Materiellem“ eben, gehen die Beiträge im neuen Band „materializing feminism“ aus dem Unrast Verlag dankenswerterweise ein wenig der Frage nach, was denn „Materialismus“ überhaupt ist und was es bedeuten kann, Feminismus und Materialismus in Verbindung zu bringen.
In dieser Frage ringen traditionell zwei große Schulen um Einfluss und Bedeutung. In der einen, sich stärker auf Karl Marx beziehenden Denkweise wird üblicherweise untersucht, wie die materiellen Eckdaten des Alltagslebens – also etwa Klassenlage, Produktionsweisen oder die internationalen Verkehrsformen – sich auf das Bewusstsein der einzelnen Menschen und den Zustand von Gesellschaft, Politik und Kultur auswirken. In einer anderen, entgegengesetzten Denkweise – die oft eher mit Namen wie Michel Foucault oder Judith Butler in Verbindung gebracht wird – geht es dagegen um die Frage, wie genau umgekehrt die Kultur und die Art und Weise, wie die Gesellschaft ihre Mitglieder in Kategorien einteilt, sich später wieder in der Produktionsweise wiederfinden, sprich: sich „materialisieren“.
Die einzelnen Beiträge, die aus der letzten Berliner Tagung anlässlich des Frauenkampftags unter dem gleichen Titel hervorgegangen sind, zeigen die Schnittmengen, aber auch die Probleme bei der Vermittlung dieser beiden Seiten auf. Friederike Beier zeigt, wie feministische Bewegungen in der Geschichte oft in rassistischer und kolonialer Weise umgedeutet und so Teil des neoliberalen Systems wurden. Als Lösung wird vorgeschlagen, sich als Bewegung in Zukunft lieber „Zeit und Räume außerhalb jener internationalen Regierungsstrukturen“ zu suchen, in denen diese Vereinnahmung möglich wurde. Stattdessen müsse sich der Feminismus auf die materialistischen Theorien internationaler Politik besinnen. Fabian Henning verwirft den in letzter Zeit verstärkt ins Spiel gebrachten „new materialism“ als eine „Affirmation postmoderner Geschlechterverhältnisse“. Andrea Trumann diagnostiziert „immer autoritärere Züge“ in der Queer-Szene und bekennt nach einer ausführlichen Butler-Kritik Farbe für eine Art Primat der materialistischen Perspektive: „In der kapitalistischen Produktionsweise ist die Produktion von der Reproduktion getrennt [und] in dieser Trennung liegt der zentrale Grund der Geschlechtertrennung“.
Das Alleinstellungsmerkmal des Bandes ist, dass er sich in relativer Nähe zur Tradition der Kritischen Theorie positioniert und sich unter anderem mit den Möglichkeiten einer „Formanalyse“ von Gesellschaften auseinandersetzt. Damit unterscheidet er sich etwa von den Beiträgen aus der Richtung einer feministisch-materialistischen Staatstheorie (z. B. Scheele/Wöhl 2018) oder denen aus einer eher operaistischen (z. B. Arruzza 2017) oder trotzkistischen Perspektive (z. B. d’Atri/Schön 2019) auf Feminismus.
Den wichtigsten Beitrag des Bandes stellt Juliana Moreira Strevas Auseinandersetzung mit der postkolonialen Identitätspolitik dar. Darin wird als zentrales Problem benannt, „dass das patriarchalisch-kapitalistische System und die koloniale Expansion primär nicht nur auf unterbezahlter, sondern auch auf versklavter und gänzlich unbezahlter Arbeit basieren“ – und warum schon deshalb die Alternative von Identitätspolitik und der Analyse reiner kapitalistischer „Formen“ eine falsche ist.
Jeder Schritt heraus aus dem autoritären Schatten der „Blauen Bände“ der Marx-Engels-Gesamtausgabe ist also zu begrüßen – wenn er wohl überlegt ist. Gut beraten mit dem Band sind sicher alle, die sich für die offenen Fragen und vor allem auch für die Probleme bei der Zusammenführung der Kämpfe gegen Patriarchat, Kolonialismus und Kapital ernsthaft interessieren.
Worin genau die Verquickung von Feminismus und Materialismus letztendlich besteht, bleibt natürlich am Ende offen. Doch je mehr wir lernen, nicht nur nach der Vereinbarkeit von feministischer Kritik und Materialismus zu fragen, sondern wirklich jenseits dieses falschen Gegensatzes zu denken, desto näher kommen wir auch neuen politischen Lösungen.
Friederike Beier/Lisa Yashodhara Haller/Lea Haneberg (Hg.) (2018): materializing feminism. Positionierungen zu Ökonomie, Staat und Identität. Unrast-Verlag, 16 €
Cinzia Arruzza (2017): Feminismus und Marxismus. Eine Einführung. Neuer ISP Verlag, 12,80 €
Andrea D’Atri/Lilly Schön (2019): Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalismus. Argument-Verlag, 15 €
Alexandra Scheele/Stefanie Wöhl (Hg.) (2018): Feminismus und Marxismus. Beltz Juventa-Verlag, 29,95 €
Lesenotiz zu Friederike Beier/Lisa Yashodhara Haller/ Lea Haneberg (Hg.): materializing feminism. Positionierungen zu Ökonomie, Staat und Identität
2018 | 244 Seiten | 16 € | Unrast Verlag | ISBN: 978–3‑89771–319‑2
Der Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in der Tageszeitung Neues Deutschland, https://www.neues-deutschland.de/artikel/1110092.henne-oder-ei.html