Souveräne Ohnmacht

Überlegungen zu Macht- und Bewusstlosigkeit gegenüber den Verhältnissen

„Ger­ade im Eifer des Änderungswillen [wird] allzu leicht ver­drängt […], daß Ver­suche, in irgen­deinem par­tiku­laren Bere­ich unsere Welt wirk­lich ein­greifend zu ändern, sofort der über­wälti­gen­den Kraft des Beste­hen­den aus­ge­set­zt sind und zur Ohn­macht verurteilt erscheinen. Wer ändern will, kann es wahrschein­lich über­haupt nur, indem er diese Ohn­macht sel­ber und seine eigene Ohn­macht zu einem Moment dessen macht, was er denkt und vielle­icht auch was er tut.“

Theodor Adorno[1]

Sou­veränität und die Krise der Gesellschaft

Der All­t­agsver­stand, das Feuil­leton und die sozial­wis­senschaftlichen Diag­nosen sind sich mit­tler­weile einig, dass die Welt aus den Fugen ger­at­en sei. Damit sind zwei Dinge gesagt: Ein­er­seits, dass sich das, was ein­mal Finanz- und Wirtschaft­skrise hieß, nun auf nahezu alle Bere­iche des Lebens, die Welt also, aus­geweit­et habe. Und ander­er­seits, dass es keine Möglichkeit gebe, diesen Zusam­men­hang angemessen zu benen­nen. Es ist ein Gefühl von Krise, ein dif­fus­es Unbe­ha­gen, dass irgend­wie alles unge­ord­net und unvorherse­hbar den Bach runter gehe. In dem Jam­mern über eine undurch­schaubare und damit über­mächtige Welt zeigt sich die Krise schein­bar in ihrem ganz grundle­gen­den Zusam­men­hang, als Kon­trol­lver­lust und Ohnmacht. 

Was damit so grundle­gend ins Wanken ger­at­en ist, ist eine Vorstel­lung von Sou­veränität, der Fähigkeit zur Selb­st­bes­tim­mung, die zum Herzstück lib­eraler Ide­olo­gie gehört. Entsprechend beklagt etwa der gegen­wär­tige reak­tionäre Pop­ulis­mus eine solche Sou­veränität­skrise: Die anonyme Glob­al­isierung und ihr Welt­markt bedro­he die ökonomis­che Sou­veränität, Kor­rup­tion und lib­erale Eliten die poli­tis­che Sou­veränität des „wahren Volkes“ und „Über­frem­dung“ die Kul­tur. Diese Agi­ta­tion und poli­tis­che Mobil­isierung eines Gefühls der Krise beschwört einen regres­siv­en Abwehrkampf gegen die dro­hende Ohn­macht, indem eben die Sou­veränität wieder stark gemacht wer­den soll.

Das scheint insofern nahe­liegend, da Sou­veränität immer noch als das zen­trale Prinzip der grundle­gen­den Organ­i­sa­tion­sein­heit dieser krisen­geschüt­tel­ten Gesellschaft gilt: des lib­er­aldemokratis­chen Nation­al­staats. Der mod­erne Staat ist die Zen­tralin­stanz, die jene Mit­tel (der Gewalt) auf sich vere­int, um sich selb­st zu gestal­ten und in ein­er bes­timmten Gestalt zu erhal­ten, der bürg­er­lichen Gesellschaft.  Diese Repro­duk­tion­sauf­gabe stand schon immer im Dienst ein­er bes­timmten Herrschaft­sor­d­nung, die sich damit am Leben erhält. Zuerst set­zte der Staat die göt­tliche Herrschaft des Königs um, l’etat c‘est moi. Die Aufk­lärung diskred­i­tierte eine solche Zen­tral­isierung erfol­gre­ich und sprach der göt­tlichen oder natür­lichen Autorität die Berech­ti­gung ab. Die Herrschaft­sor­d­nung musste nun gewis­ser­maßen aus sich selb­st gerecht­fer­tigt wer­den und der Sou­verän wurde dezen­tral­isiert. Die Formel dafür lautete, dass die Betrof­fe­nen der Herrschaft auch deren Urhe­ber sein soll­ten. Das „Volk“, also die Gesamtheit der Bürger_innen (inklu­sive aller Auss­chlüsse), als Sou­verän war geboren, die Demokratie dessen Aus­druck. Schließlich ging dies mit jen­em bürg­er­lichen und sou­verä­nen Indi­vidu­um ein­her, dessen Frei­heit nur durch die Frei­heit der Anderen begren­zt wer­den dürfe. 

In dieser his­torischen Entwick­lung ist Sou­veränität der Idee nach Mit­tel und Garant der Frei­heit in der bürg­er­lichen Gesellschaft und zwar auf allen ihren Ebe­nen: Staat, poli­tis­che Ord­nung, Indi­vidu­um. Dies erk­lärt auch einiger­maßen das Aus­maß der gegen­wär­ti­gen „Krise“. Die Sou­veränität bildet ein fun­da­men­tales Prinzip der Gesellschaft und bet­rifft diese als Ganze. Dort wo nun die Ver­w­er­fun­gen der Ökonomie über die poli­tis­che Ord­nung bis zum Indi­vidu­um durch­schla­gen und das Prinzip auf allen Ebe­nen unter­graben, ist dieser Zusam­men­hang deut­lich­er spür­bar. Die gesellschaftliche Real­ität fühlt sich mehr nach Krise an, nach Kon­trol­lver­lust und Chaos und Ohn­macht. Der ideelle Zusam­men­hang der Gesellschaft, dass das selb­st­bes­timmte Indi­vidu­um so sou­verän wie sein selb­stregiert­er Staat sein soll, erweist sich auf allen Ebe­nen als hin­fäl­lig. Und dort wo diese Vorstel­lung der Selb­st­bes­tim­mung bröck­elt zeigt sich der darin aufge­hobene Zwangscharak­ter sehr deut­lich: Der Sou­veränitätsver­lust des Nation­al­staats in ein­er glob­al­isierten Welt mün­det in jenen autoritären Etatismus, der die Repro­duk­tion der Herrschaft durch die Beschränkung von Frei­heit umset­zt und die sym­bol­is­chen Momente der ver­meintlichen Stärke, an die man sich verzweifelt klam­mert, gewalt­sam vertei­digt (Gren­zen, Nationalmythen etc.). Gle­ich­es lässt sich für die Demokratie beobacht­en. Im post­demokratis­chen Zus­tand der lib­eralen Demokra­tien tritt ein Pop­ulis­mus auf den Plan, der die Ver­wirk­lichung des „wahren“ Volk­swil­lens her­beifan­tasiert. Recht­sautoritäre Parteien in ganz Europa bedi­enen sich dieser Seman­tik und ihr Auf­stieg belegt den Erfolg der Beschwörung der Sou­veränität. Nicht zulet­zt, weil der Ver­lust gesellschaftlich­er Sicher­heit­en und Ori­en­tierungsmuster auf der indi­vidu­ellen Ebene autoritäre Charak­tere forciert, die jene Zurich­tung durch die gesellschaftlichen Ver­hält­nisse nur ertra­gen kön­nen, wenn sie die realen „Schwächen“ dieser Ord­nung auf ein Äußeres pro­jizieren und an ihm exerzieren. 

Ohn­macht und die Real­ität kap­i­tal­is­tis­ch­er Verhältnisse

All diese Entwick­lun­gen sind, zumin­d­est the­o­retisch, hin­länglich bekan­nt. Man lese etwa Nicos Poulantzas‘ Staat­s­the­o­rie, Johannes Agno­lis Par­la­men­taris­muskri­tik und Adornos Faschis­musstu­di­en. Dort sind die indi­vidu­ellen, kollek­tiv­en und poli­tis­chen Abwehrmech­a­nis­men gegen die Ohn­macht bestens doku­men­tiert. Vor allem aber ist darin fest­ge­hal­ten, welch­er notwendi­ge Zusam­men­hang zwis­chen der bes­timmten Organ­i­sa­tion der Gesellschaft und der Ohn­macht ihrer Sub­jek­te demge­genüber beste­ht. Die gegen­wär­tige Sou­veränität­skrise ist also nur gefühlt etwas Neues. Damit erk­lärt sich auch, warum die Abwehr gegen diese Krise notwendi­ger­weise regres­siv aus­fällt, näm­lich weil sie eine Ver­drän­gungsleis­tung ist. Ver­drängt wird darin, dass der gefühlte Sou­veränitätsver­lust nicht eine Bedro­hung der bürg­er­lichen Gesellschaft von Außen ist (zu der er ja ständig gemacht wer­den soll), son­dern vielmehr deren eigentlichen Kern bildet. Sou­veränität ist das Ver­sprechen auf die bürg­er­liche Frei­heit der Selb­st­bes­tim­mung, die aber in der kap­i­tal­is­tis­chen Gesellschaft gar nicht real­isiert wer­den kann. Unab­hängig davon, ob Indi­viduen mit der Frei­heit über­haupt zurechtkom­men wür­den und ob Regres­sion nicht auch entsprechend Frei­heitsab­wehr bedeuten kann, bleibt die Sou­veränität dabei ein Phan­tas­ma der Stärke, das darüber hin­weghelfen soll, wie erbärm­lich die eigene Posi­tion in den gesellschaftlichen Ver­hält­nis­sen ein­gerichtet ist. So wird die Sou­veränität zum Fetisch, zur bloßen Autorität, die wenig­stens irgen­deine Bes­tim­mung durch­set­zen kann. Ein solche Verkehrung wird dort ständig beschworen, wo die Abwe­sen­heit der Frei­heit eine Begrün­dung braucht, die von ihrem sys­temis­chen Ursprung ablenkt.

Unsere gegen­wär­tige Sit­u­a­tion der Krise zeich­net aus, dass die Ohn­macht, mit der sie einen als Bedro­hung kon­fron­tiert, schon längst vorherrscht. Ohn­macht ist nicht erst das Ergeb­nis eines ver­meintlichen Sou­veränitätsver­lusts in der „Krise“, es ist die Real­ität der Sou­veränität. Mit drama­tis­ch­er Deut­lichkeit zeigt sich die Ohn­macht des Nation­al­staats – sobald dieser sich von der Repro­duk­tion ein­er glob­al­isierten Ökonomie dis­tanziert –, die demokratis­che Ohn­macht – sobald diese Des­i­den­ti­fika­tion zu ein­er Sys­temkri­tik anschwellen müsste – und let­ztlich die Ohn­macht des Indi­vidu­ums, doch an sehr viele Gren­zen dabei zu stoßen, des Glück­es eigen­er Schmied zu sein. Diese gesellschaftliche Ohn­macht ist nichts Neues, sie ist höch­stens deut­lich­er spür­bar. Entsprechend müssen diese inneren Wider­sprüche irgend­wo nach außen ver­schoben wer­den und zwar so, dass man sie dort als einen Kampf führen kann, der einem zugle­ich erlaubt, die eigene Stärke, Integrität und so weit­er zu beweisen. Diese Pro­jek­tion­sleis­tung erfüllen nun genau die zahlre­ichen Bedro­hun­gen der Sou­veränität von außen, die sich in der „Krise“ ausdrücken. 

Es han­delt sich dabei aber um die Skan­dal­isierung des kap­i­tal­is­tis­chen Nor­malzu­s­tands, der dadurch als Aus­nahme behan­delt wer­den kann: Ein Zus­tand, in dem etwas drin­gend fehlt, was anson­sten aber da sein müsste und einem fol­glich von irgendwem oder irgen­det­was genom­men wurde. Sei dies nun die kul­turelle (sprich nationale) Iden­tität der abendländis­chen Patriot_innen, die die feindlichen „Inva­soren“ fürcht­en, die soziale Sicher­heit, die von der „Ein­wan­derung in die Sozial­sys­teme“ bedro­ht werde, oder die bösen Frei­han­delsabkom­men und der „Raubtierkap­i­tal­is­mus“, welche die Bauern­hofro­man­tik lokaler Wirtschaften trübe. Solche Pro­jek­tio­nen nach Außen sollen beweisen, dass die beste­hende Ord­nung (vor dem Ver­lust) eine gute war, und ihre Wieder­her­stel­lung nun noch mehr des­sel­ben abver­lan­gen wird: Opfer­bere­itschaft, Diszi­plin, Härte, also die Gefol­gschaft gegenüber der Autorität. Da wo die Gegen­wart schließlich einen Ver­lust bedeutet, wird die Zukun­ft zu einem ungewis­sen und dun­klen Schick­sal, dem man nur in der heimeli­gen Roman­tisierung der Ver­gan­gen­heit entkom­men kann – Retropie nan­nte dies jüngst Zyg­munt Bau­man und wieder­holt damit nur schlecht die Befunde der kri­tis­chen Sozialpsy­cholo­gie zur Faschisierung der Gesellschaft. Der allerortens emp­fun­dene Sou­veränitätsver­lust, ob poli­tisch, ökonomisch oder kul­turell, artikuliert damit zwar die Ohn­macht, aber ohne auf ihre gesellschaftlichen Grund­la­gen zu schauen. 

Die gesellschaftliche Dimen­sion der Ohn­macht muss ver­drängt und das Gefühl der Ohn­macht um jeden Preis ver­mieden wer­den, denn es würde son­st die ganze Exis­tenz in Frage stellen. Das Beispiel der Incels, der, frei über­set­zt, unfrei­willig Zöli­bitären ist dafür anschaulich. Jed­er High School- oder Tee­niefilm ken­nt die Sozial­fig­ur des Geeks und Außen­seit­ers, der unter der Demü­ti­gung sein­er Unangepass­theit lei­det und von nichts mehr träumt, als endlich die soziale Anerken­nung der „Entjungfer­ung“ oder „eine Fre­undin“ zu bekom­men. In sozialen Net­zw­erken und Foren find­en sich neuerd­ings Zusam­men­rot­tun­gen von jun­gen Män­nern, die sich untere­inan­der in dieser Selb­st­wahrnehmung sol­i­darisieren und in gewaltvollen Rachefan­tasien (oder jüngst auch Tat­en) erge­hen. Die Ver­lier­er der mark­t­för­mi­gen Organ­i­sa­tion von Intim- und Sex­u­al­beziehun­gen kanal­isieren ihre gefühlte Demü­ti­gung in den gewalt­samen Hass auf die Objek­te dieser Bedro­hung. Weil ihnen ihr eigentlich­er Anspruch (auf sex­uellen Zugriff auf Frauen) ver­wehrt werde, üben sie Rache an den Ver­ant­wortlichen, die diese ursprüngliche Stärke sabotiert hät­ten (zum Beispiel an zu selb­st­be­wussten Frauen). Die Macht­losigkeit lässt sich offen­sichtlich nur ertra­gen, indem sie an einem Schuldigen exerziert und damit abgewehrt wer­den kann. Dieses regres­sive Auf­begehren gegen die Ohn­macht deutet dabei auf jenen zen­tralen Kon­flikt der kap­i­tal­is­tis­chen Gesellschaft hin, deren Leit­prinzip der Frei­heit im stärk­sten Wider­spruch zu ihrer realen Ver­fass­theit absoluter Deter­mi­na­tion und Notwendigkeit ste­ht. Der lib­er­al-demokratis­che Staat richtet die Ord­nung von Indi­vidu­um zu Volk zur Herrschaft ein, und zwar so, dass ein ganz bes­timmtes Ver­hält­nis der Men­schen zueinan­der repro­duziert wird: Sie müssen sich als Objek­te wahrnehmen, die in Hin­blick auf eine „höhere“ Ein­heit ver­gle­ich­bar und ver­w­ert­bar sind. Dieses Ver­hält­nis ist wiederum die Exis­tenzbe­din­gung des Kap­i­tals, die in der kap­i­tal­is­tis­chen Gesellschaft repro­duziert wird: Markt, Zirku­la­tion, also Warentausch, und in let­zter Kon­se­quenz die Waren­för­migkeit von immer mehr Objek­ten, also deren Äquiv­alenz, damit die Zirku­la­tion am Laufen bleibt. 

Dieses Ver­hält­nis beste­ht als notwendi­ger Zusam­men­hang zwis­chen lib­eraler Frei­heit, demokratis­ch­er Herrschaft und Staats­form. Aber eben nicht, weil der „irgend­wo hin­ter allem ste­hende“ Sou­verän sie fes­tlegt, son­dern weil es die innere Logik des Zusam­men­hangs selb­st ist. Dies genau meint die Formel, der Kap­i­tal­is­mus ist die Herrschaft des abstrakt All­ge­meinen. Der kap­i­tal­is­tis­che Staat hat die Gewährleis­tung dieser Herrschaft zur Auf­gabe, unab­hängig aller Ein­rich­tun­gen, die lib­er­aldemokratis­che Legit­im­ität her­stellen sollen. Die uneinge­holte Stärke der Marxschen Analyse beste­ht darin, genau diesen Zusam­men­hang aufzuzeigen, und zwar als den bes­tim­menden Zusam­men­hang der Total­ität der kap­i­tal­is­tis­chen Gesellschaft.

Eine der Pointen dieser Analyse ist, dass sich diese kap­i­tal­is­tis­che Gesellschaft über­haupt nur als Total­ität her­stellen lässt. Sie ist grundle­gend darauf angewiesen, alle gesellschaftlichen Momente nach dieser Waren­form zu bes­tim­men, eine Welt nach ihrem Vor­bild zu schaf­fen. Kap­i­tal­is­mus ist gesellschaftliche Deter­mi­na­tion und kon­nte his­torisch über­haupt erst vor dem Hin­ter­grund zen­tral­isiert­er Herrschaft und Kon­trolle der Gesellschaft entste­hen. Die viel beschworene Trans­for­ma­tions­fähigkeit des Kap­i­tal­is­mus bedeutet daher zuallererst die Anpas­sung dieser Notwendigkeit­en an die sozialen Kon­flik­te, die daraus resul­tieren, also die Ver­hand­lung des Wider­spruchs aus real­er Deter­mi­na­tion und der Idee der Freiheit.

Ide­olo­gie und die über­wälti­gende Kraft des Bestehenden

Angesichts dieser Herrschaft des abstrakt All­ge­meinen ist Ohn­macht gegenüber den gesellschaftlichen Ver­hält­nis­sen eine reale Gegeben­heit. Das heißt nicht, dass das Ver­sprechen der Frei­heit ein­fach nur eine Lüge wäre. Die Men­schen machen ja tat­säch­lich ihre Geschichte und richt­en sich die Ver­hält­nisse selb­st ein. Marx’ Fetis­chkapi­tel zeigt sehr deut­lich, wie daraus jedoch eine Welt entste­ht, die den Men­schen als fremde und unverän­der­liche Macht ent­ge­gen­tritt: als verd­inglichte Welt, der man schein­bar ohn­mächtig gegenüber­ste­ht.[2] Die men­schliche Prax­is, die den Ver­hält­nis­sen zugrunde liegt, ist darin nicht mehr erkennbar. In so ein­er Welt meint Frei­heit in erster Lin­ie eine reine For­mal­ität, näm­lich so etwas wie Unbes­timmtheit (damit man sich selb­st bes­tim­men kann) beziehungsweise die Unab­hängigkeit des Indi­vidu­ums, die zugle­ich seine Besit­zlosigkeit an allem außer sich selb­st bedeutet. Aus­druck dessen ist der dop­pelt freie Lohnar­beit­er, „frei in dem Dop­pelsinn, daß er als freie Per­son über seine Arbeit­skraft als seine Ware ver­fügt, daß er andr­er­seits […] frei ist von allen zur Ver­wirk­lichung sein­er Arbeit­skraft nöti­gen Sachen“[3]. Statt nur für die Arbeit­skraft gibt es mit­tler­weile für alles einen Markt, auf dem man in der Konkur­renz um Glück, Anse­hen, Lifestyle, Genuss etc. beste­hen muss. So frei man sich in diesen Ver­hält­nis­sen auch fühlen kann, etwas an ihnen ändern kann man nicht.

Ohn­macht hat daher eine struk­turelle Kom­po­nente und das führt zu einem recht alten Prob­lem zurück, das man als Ide­olo­gieprob­lem beze­ich­nen kann. Ide­olo­gie ver­söh­nt das Indi­vidu­um mit sein­er Anteil­nahm­slosigkeit an den gesellschaftlichen Ver­hält­nis­sen und zwar indem diese Ver­hält­nisse sys­tem­a­tisch verkan­nt wer­den. Das berühmt berüchtigte notwendig falsche Bewusstsein meint also: die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Zusam­men­hangs nicht zu erken­nen – und das notwendi­ger­weise, weil jenes Bewusst­sein auch zum Gesamtzusam­men­hang gehört. Das Phan­tas­ma der lib­eralen Frei­heit durch Sou­veränität operiert genau auf diesem Niveau, denn es beschwört unaufhör­lich die gren­zen­losen Möglichkeit­en der (Selbst)Bestimmung, um darin keinen Platz für irgen­deine Reflex­ion zu lassen, woher diese emp­fun­dene Schwäche eigentlich kommt, die das Mantra so notwendig macht.

 Da wo diese Ver­söh­nung mit der Ohn­macht nicht funk­tion­iert, muss als Erk­lärung der Ohn­macht irgen­deine Bedro­hung von außen fab­u­liert wer­den. Das bet­rifft nicht nur die recht­en Pop­ulis­ten und ver­meintlichen Mod­ernisierungsver­lier­er, die sich in ihr nation­al­soziales Kollek­tiv wün­schen. Auch Linke kom­men ja ganz unver­hohlen auf die Idee, ihrer Iden­tität­skrise und dem schwinden­den Ein­fluss mit Pop­ulis­mus beikom­men zu wollen. Die unerträgliche gesellschaftliche Irrel­e­vanz lässt schein­bar dazu tendieren, den zugrun­deliegen­den Wider­spruch doch bess­er mit irgen­deinem kämpf­baren Kampf erset­zen zu wollen und so doch wenig­stens die Fas­sade der Sou­veränität zu wahren. Hier zeigt sich das ide­ol­o­gis­che Prob­lem als ein ganz prak­tis­ches, denn indem die Ohn­macht ger­ade nicht auf ihre gesellschaftlichen Grund­la­gen zurück­ge­führt wird, beste­ht das Phan­tas­ma weit­er: Statt erk­lären zu kön­nen, warum Frei­heit in den gegen­wär­ti­gen gesellschaftlichen Ver­hält­nis­sen notwendig ver­stellt ist, wird auch von links – dem lib­eralen Main­stream bis zur radikalen Linken – so getan, als sei Frei­heit eigentlich bere­its real­isiert und gewis­ser­maßen nur von außen eingeschränkt. Die „bösen“ Rechtspopulist_innen sind der beste­hen­den Demokratie gegenüber etwas Fremdes und Äußeres, auf das sich die eige­nen struk­turellen Schwächen abwälzen lassen. Dies funk­tion­iert also ganz ähn­lich, wie sich der AfD-Wäh­ler an seinem Hass auf die Einge­wan­derten bestärkt, zumin­d­est ähn­lich in der Hin­sicht, wie es vom eigentlichen Prob­lem ablenkt. Das ist genau der Punkt, an dem sich lib­eraler Sta­tus Quo und Regres­sion ide­ol­o­gisch die Hand reichen. Sprich, an dem sich der Zusam­men­hang zeigt.

Total­ität und die Frage der Revolution

Dass sich in dieser Sit­u­a­tion, die wir Krise nen­nen, dieser Zusam­men­hang zeigt, ist das Einzige, das eine radikale Linke zum Opti­mis­mus ver­leit­en sollte. Anstatt sich darauf zu konzen­tri­eren, wie man der eige­nen Ohn­macht – die ja beson­ders für eine gesellschaftliche Linke so schmerzhaft spür­bar ist – noch das abwegig­ste Fanal der Stärke ent­ge­genset­zen kann, muss sie als objek­tive Bedin­gung anerkan­nt wer­den. Pop­ulis­mus, Samm­lungs­be­we­gung oder hege­mo­ni­ales Pro­jekt, was auch immer sich die Linke für einen Namen gibt für ihr ver­meintlich­es Wieder­erstarken, es meint immer auch die Akzep­tanz jen­er gesellschaftlichen Ver­hält­nisse, aus denen das Prob­lem erst entspringt. Und die Hoff­nung, man kön­nte wenig­stens irgen­det­was reißen, weil die Rev­o­lu­tion eh außer Sichtweite ist, erweist sich als naiv. Denn es ist abso­lut abse­hbar, dass die Linke im Konkur­ren­zkampf um die erfol­gre­ichere Agi­ta­tion, die stärkere Erzäh­lung, den besseren Nation­al­is­mus etc. den Kürz­eren ziehen wird. Genau dies erledi­gen die reak­tionären Phan­tasien bis hin zum Faschis­mus um vieles besser. 

Der pro­gres­sive Moment ein­er radikalen linken Per­spek­tive bestand noch nie darin, die Leute aufzus­tacheln und ihrem dif­fusen Unbe­ha­gen irgen­deine Rich­tung zu geben, die vielle­icht etwas an ihrer konkreten Sit­u­a­tion verbessert. Die Auf­gabe wäre vielmehr, das Elend und die vielfälti­gen For­men, unter denen Men­schen zu lei­den haben, als gesellschaftlichen Zusam­men­hang begreif­bar zu machen. Denn erst dieser Schritt, der all diese Kränkun­gen der Gesellschaft miteinan­der verk­lam­mert, macht sie als Momente dieser men­schlichen Gesellschaft wieder zugänglich. Nur die Gesellschaft, die als Ganze von den Men­schen ein­gerichtet wurde, kann über­haupt ein­er Verän­derung durch diese Men­schen wieder zugänglich gemacht wer­den – beziehungsweise zunächst ein­mal vorstell­bar gemacht wer­den. Das ist Sinn und Gehalt allen Redens über Revolution.

Bevor eine solche Rede sin­nvoll sein kann, ist die erste und wichtig­ste Bedin­gung gegen den ide­ol­o­gis­chen Zirkelschluss, in dem die äußeren Bedro­hun­gen von der imma­nen­ten „Schwäche“ ablenken, die Anerken­nung der objek­tiv­en Ohn­macht. Ein solch­es Plä­doy­er ruft natür­lich die Frage nach der Prax­is auf den Plan. Ist die Anerken­nung der gesellschaftlichen Ohn­macht nicht die eigentliche Kapit­u­la­tion vor den gesellschaftlichen Ver­hält­nis­sen? Ver­stellt sie nicht jede Form der prak­tis­chen Inter­ven­tion? Ganz zurecht drängt sich hier die Befürch­tung auf, eine solche Analyse werde zur selb­ster­fül­len­den Prophezeiung, sodass man nur erken­nen kann, dass man real wirk­lich keine Möglichkeit hat, auf die Gesellschaft einzuwirken. Ist es dann nicht bess­er, irgen­deine emanzi­pa­torische Prax­is voranzubrin­gen, auch wenn man damit Gefahr der Kom­plizen­schaft mit den Ver­hält­nis­sen läuft? Damit sind zwei, man will fast sagen, uralte Prob­leme link­er Auseinan­der­set­zun­gen wieder auf dem Tisch: Die Frage nach dem The­o­rie-Prax­is-Ver­hält­nis und daraus resul­tierend die Gretchen­frage, wie man es denn mit der Rev­o­lu­tion hält.[4] Um die schlechte Nachricht vor­wegzunehmen: Diese Fra­gen lassen sich the­o­retisch nicht zufrieden­stel­lend klären. Die gute Nachricht ist: Es gibt eine lange Geschichte der Auseinan­der­set­zun­gen um diese Prob­leme, aus denen man ler­nen kann und nicht immer wieder von vorne begin­nen muss.

Eine solche Geschichte macht min­destens auch ersichtlich, dass es ein gutes Zeichen ist, wenn eine Linke sich Fra­gen dieser Größenord­nung über­haupt stellen kann. So unbe­friedi­gend sie sein mögen, so ver­staubt und ewig gestrig – darüber zu stre­it­en, welche emanzi­pa­torische Prax­is einem die gesellschaftliche Ein­rich­tung ermöglicht oder ver­stellt, ist eine Errun­gen­schaft. In Zeit­en, in denen eine radikale Linke ger­ade damit aus­ge­lastet war, zu denken, ein­er bürg­er­lichen Zivilge­sellschaft erk­lären zu müssen, dass Ras­sis­mus nicht in Ord­nung geht, und an allen Eck­en und Enden die min­i­malen Errun­gen­schaften des Lib­er­al­is­mus weg­bröck­eln, ist das Nach­denken auf diesem Niveau rar. Die Krise der Gesellschaft als Ganz­er bringt daher die Möglichkeit jen­er Reflex­ion auf das Ganze mit sich. Statt dies als Läh­mung der Prax­is zu ver­ste­hen, sollte diese einzige Errun­gen­schaft ernst genom­men wer­den. Denn so wie die Sou­veränität­skrise auf die grundle­gende Organ­i­sa­tion der Gesellschaft ver­weist, ist die Ohn­macht der Hin­weis auf diese Organ­i­sa­tion als Totalität.

Von dieser Möglichkeit, die Gesellschaft als jene Total­ität zu begreifen, als die sie sich real darstellt, hängt sehr viel ab. Denn die gesellschaftliche Mar­gin­al­ität der Linken ist vor allem auch Aus­druck ein­er the­o­retis­chen Schwäche. Nicht in dem Sinne, wie es von so vie­len Seit­en beklagt wird, dass der Linken eine utopis­che Vision fehle, mit der sie die Men­schen begeis­tern könne. Vielmehr fehlt es an ein­er belast­baren The­o­rie der Gesellschaft, die über jene Diag­nosen und Beobach­tun­gen hin­aus­ge­ht, die den gesellschaftlichen Entwick­lun­gen „nur“ hin­ter­her­hinken und darauf reagieren. 

Eine solche the­o­retis­che Per­spek­tive ist zugle­ich die Möglichkeit, der Pattsi­t­u­a­tion zwis­chen prax­is­feindlich­er The­o­rie und reformerisch­er Kom­plizen­schaft mit den Ver­hält­nis­sen zu entkom­men. Nimmt man etwa die berühmte Phrase von der wech­sel­seit­i­gen Ver­schränkung von The­o­rie und Prax­is. Diese meint, wenn es mehr als ein Lip­pen­beken­nt­nis sein soll, dass die Erken­nt­nis der Welt selb­st eine Prax­is ist, in dem Sinne, als dass sie ihr Objekt, die Gesellschaft, repro­duziert oder verän­dert (denn Gesellschaft, so zumin­d­est die Annahme, ist ja auch nur Prax­is). Nur um ein Pos­i­tivbeispiel aus der linken The­o­riegeschichte anzuführen: Die Ide­olo­gi­ethe­o­rie stellte sich über Jahr(zehnt)e dieser Prob­lematik, wie das Bewusst­sein darüber hin­auskom­men könne, immer nur das Abfall­pro­dukt der gesellschaftlichen Ver­hält­nisse zu sein. Spoil­er­alarm: Ganz bes­timmt nicht dadurch, dass es sich ein­fach weigert, diesen Zusam­men­hang zu behandeln.

Eine radikale Linke sucht nach jen­er Prax­is, die die Gesellschaft pro­gres­siv verän­dert und zwar ohne jene Bedin­gun­gen zu repro­duzieren, die diese Verän­derun­gen erst nötig machen. Wie son­st kön­nte eine solche Prax­is gefun­den wer­den, wenn nicht in der Erken­nt­nis des notwendi­gen Zusam­men­hangs der Gesellschaft? Dass die landläu­fige Reak­tion auf eine the­o­retis­che Kri­tik der Prax­is immer noch aus­fällt als „Was soll man denn son­st machen?“, spricht ja eher ein Armut­szeug­nis aus, als dass es ein ern­sthaftes Argu­ment für die Prax­is wäre. Das Plä­doy­er für eine Anerken­nung der Ohn­macht meint dann keines­falls die Kapit­u­la­tion oder Depres­sion. Es meint vielmehr, über­haupt erst die Möglichkeit für eine Prax­is jen­seits der Ohn­macht zu schaf­fen. Und was soll das für eine Prax­is sein? Rev­o­lu­tion. Unvorstell­bar, oder?

von Alex Struwe

Der Artikel erschien unter dem­sel­ben Titel zuerst in Diskus 1/2018.


[1] Adorno, Theodor W. 1971: Erziehung zur Mündigkeit. Frank­furt am Main: Suhrkamp, 147.

[2] Vgl. Marx, Karl 1962: Das Kap­i­tal. Kri­tik der poli­tis­chen Ökonomie. Band I, in: MEW 23. Berlin: Dietz, 85 ff.

[3] Ebd., 183.

[4]Also eigentlich die Frage Was tun?, die oft, wenn nicht gar immer, auf die Strate­giefrage nach Reform oder Rev­o­lu­tion hinausläuft.

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