Massenhaft Materialismus

Ein ins­ge­samt betrach­tet doch gro­ßer Erfolg war die dies­jäh­ri­ge His­to­ri­cal Mate­ria­lism-Kon­fe­renz in Athen, die tra­di­tio­nell aus dem Umfeld der gleich­na­mi­gen Zeit­schrift und den Buch­ver­la­gen Ver­so, Brill und Hay­mar­ket orga­ni­siert wird und halb­jähr­lich ihren Stand­ort wechselt.

Die Aus­rich­tung der Kon­fe­renz in Athen hat­te einen gewis­sen Sym­bol­wert: Kaum ein ande­res EU-Mit­glied hat so hart unter der Wirt­schafts­kri­se gelit­ten wie Grie­chen­land. Die Fra­ge, wie am bes­ten gegen die Kri­se oder das Kri­sen­re­gime aus Brüs­sel und Ber­lin zu kämp­fen sei, hat hier eine beson­de­re, prak­ti­sche Bedeu­tung, und ent­spre­chend emo­tio­nal wur­den die Debat­ten teils geführt.

Aber dazu spä­ter mehr. Denn zual­ler­erst ist fest­zu­hal­ten, dass es bei „his­to­ri­schem Mate­ria­lis­mus“, oder eben auch bei „Mar­xis­mus“, nicht nur um Wirt­schaft und Finan­zen geht, son­dern um die Gesell­schaft als Gan­zes – und alle ihre Aspek­te und Erschei­nungs­for­men. Und so gab es vor allen Din­gen auch vie­le Dis­kus­sio­nen über die aktu­ell welt­weit in Fahrt gekom­me­ne femi­nis­ti­sche Bewe­gung, Ana­ly­sen über den glo­ba­len poli­ti­schen Rechts­ruck und vor allem über die Fra­ge, was zum Teu­fel denn in der ver­fah­re­nen Situa­ti­on lin­ker Poli­tik zu tun ist.

Als Materialismus.org waren wir auch vor Ort und schrei­ben an die­ser Stel­le unse­re Ein­drü­cke, Ergeb­nis­se und Per­spek­ti­ven auf, um sie allen zugäng­lich zu machen. Wir haben uns beson­ders dar­über gefreut, dass das Orga­ni­sa­ti­ons­team erkenn­bar mehr und mehr Erfolg hat, sol­che Bei­trä­ge sicht­bar zu machen, die nicht in die Scha­blo­ne des wei­ßen, männ­li­chen Aka­de­mi­kers passen.

Erster Tag – Die „Roussauisierung von Marx“?

Die ers­te Ver­an­stal­tung zu Marx und Phi­lo­so­phie begann rela­tiv ent­täu­schend, näm­lich mit einer recht kon­ser­va­ti­ven Les­art der ver­meint­li­chen gro­ßen Gemein­sam­kei­ten von Marx und Fou­cault von Des­pi­na Paraske­va-Velou­do­gi­an­ni, die nicht erkenn­bar etwa über Judith But­lers Ver­si­on hin­aus­geht. In aller Kür­ze: Fou­cault sei ja eigent­lich nur der erwei­ter­te Marx und alle Pro­ble­me zwi­schen den bei­den wären ja damit dann auch erledigt.

Auf der zwei­ten Ver­an­stal­tung zu femi­nis­ti­scher Stra­te­gie dis­ku­tier­te der­weil Cla­ris­se de Almei­da ihre Sicht auf die Wahl des Faschis­ten Bol­so­na­ro in Bra­si­li­en. Sie ging vor allem auch mit der ver­fehl­ten Poli­tik der Sozia­lis­ten in den letz­ten Jah­ren hart ins Gericht, die die Bevöl­ke­rung und Arbeiter*innenklasse durch und durch geschwächt habe. Im Anschluss stell­te Somay­eh Rostam­pour ihre For­schungs­ar­beit über die femi­nis­ti­schen Ideen in den kur­di­schen Bewe­gun­gen vor. Ihre Inter­views haben gezeigt, dass die Kämp­fe­rin­nen sich oft gar nicht als „femi­nis­tisch“ in einem west­li­chen Sinn des Wor­tes begrei­fen. Sie warn­te vor einem „neu-ori­en­ta­lis­ti­schen“, roman­ti­sie­ren­den Blick und erin­ner­te dar­an, dass es eine wich­ti­ge Auf­ga­be sein wird, den femi­nis­ti­schen Cha­rak­ter der loka­len Bewe­gun­gen auch nach einem even­tu­el­len Ende des Krie­ges auf­recht zu erhal­ten, wenn der Druck von außen und damit auch der Zusam­men­halt in den Frau­en-Ein­hei­ten even­tu­ell weg­fal­len. In Bezug auf Vivek Chib­ber wird betont, dass „loka­le“ Bewe­gun­gen nicht immer unbe­dingt „pro­gres­si­ve“ Bewe­gun­gen sind.

In der ers­ten abend­li­chen Ple­nar­sit­zung erklär­te Sav­vas Micha­el-Mat­s­as sei­ne Sicht auf die neue Pha­se des Neo­li­be­ra­lis­mus, dem es bei der Kri­se nicht nur um Ein­spa­run­gen, son­dern auch um die Erschaf­fung eines gene­rel­len Kli­mas der Angst und der Dis­zi­plin gehe. Die­sen Trend habe wie­der­um beson­ders Fou­cault schon mit dem Begriff Bio­po­li­tik beschrie­ben: Der Kapi­ta­lis­mus will nun nicht nur Pro­duk­ti­ons­wei­se sein, son­dern den gesam­ten (auch biologischen/planetarischen) Stoff­wech­sel der Gesell­schaft nach sei­nem Mus­ter regeln. Fou­cault habe damit erfolg­reich gegen die Ver­dre­hung von Marx in einen zahn­lo­sen Rous­se­au angekämpft.

Sicher eine ele­gan­te Idee, doch mit einem gro­ßen Denk­feh­ler ver­bun­den: Wann hat es sich denn beim Kapi­ta­lis­mus ein­mal nicht um den sozia­len Meta­bo­lis­mus gedreht? Wann soll denn die­se Epo­che gewe­sen sein, in der sich Kapi­ta­lis­mus nur als Pro­duk­ti­ons­wei­se, und nicht auch schon Dis­zi­pli­nie­rung- und Unter­drü­ckungs­wei­se war? Natür­lich gab es die­se Pha­se nie. Die Nekro­po­li­tik, wie es heu­te ger­ne heißt, also in etwa das Ster­ben-Las­sen (von Alten, Kran­ken, Unnüt­zen, Migrant*innen, etc.), ist nur dann eine neue Pha­se, wenn man die gewalt­sa­me Geschich­te des „frü­hen“ Kapi­ta­lis­mus ver­ges­sen hat. Das stän­di­ge Neu-Erfin­den eines ver­meint­lich anti-dog­ma­ti­schen, neu­en Marx, der Ant­wor­ten auf vor­geb­lich neue Pha­sen des Kapi­ta­lis­mus bereit hal­ten soll kann – dies war einer unse­rer stärks­ten Ein­drü­cke auf der Kon­fe­renz – nur dazu die­nen, die in Zei­ten der Kri­se eigent­lich doch gar nicht so unzeit­ge­mä­ßen Kate­go­rien des “tra­di­tio­nel­len Mar­xis­mus” wei­ter zu ent­ker­nen, ohne sich einer erns­ten Revi­si­on zu stel­len. So ver­dienst­voll der Kampf gegen die „Rous­se­aui­sie­rung von Marx“ ist, wäre es doch auch ange­bracht, kri­tisch über die, wenn man so will, „Fou­caul­ti­sie­rung von Marx“ nachzudenken.

sex­po­si­tiv antinational

Zweiter Tag – Ein neuer Hauptwiderspruch?

Der zwei­te Tag begann für uns mit unse­rem eige­nen Bei­trag über das Ver­hält­nis von Kri­se und Popu­lis­mus. Wir haben uns in den letz­ten Jah­ren dar­an gesetzt, uns einen Über­blick über ver­schie­de­ne links­ra­di­ka­le Inter­pre­ta­tio­nen zu Kri­se zu machen und waren über­rascht davon, wie schlecht die­ser Bereich theo­re­tisch auf­ge­stellt ist und vor welch gro­ßen Schwie­rig­kei­ten er steht. Wir haben ver­sucht auf­zu­zei­gen, dass die gegen­wär­tig viel gebrauch­te Stra­te­gie, popu­lä­re, ober­fläch­lich durch die Kri­se aus­ge­lös­ter Kämp­fe an ihrem Stand­punkt „abzu­ho­len“ und für mar­xis­ti­sche Per­spek­ti­ven „ein­zu­span­nen“, viel eher eine Kapi­tu­la­ti­on vor die­sen Schwie­rig­kei­ten als ihre Lösung darstellt.

Mit dem Publi­kum konn­ten wir die­ses The­se kon­tro­vers etwa am Bei­spiel Jere­my Cor­byn dis­ku­tie­ren: Auch er ver­sucht im Bre­x­it-Deba­kel nur von der öffent­li­chen Ent­täu­schung über die Poli­tik der Kon­ser­va­ti­ven zu pro­fi­tie­ren und ver­mei­det es dabei gera­de­zu sys­te­ma­tisch, einen kla­ren, links­ra­di­ka­len Stand­punkt zur EU aus­zu­spre­chen. Die aktu­el­le Ent­wick­lung scheint uns recht zu geben: Frü­her oder spä­ter stellt sich die Bre­x­it-Fra­ge unaus­weich­lich, und dann wird auch Cor­byn nicht mehr rhe­to­risch über die Unver­ein­bar­keit von Pro- und Con­tra-Bre­x­it-Posi­tio­nen hin­weg­täu­schen kön­nen. Dann wird er sich posi­tio­nie­ren müs­sen, und wird ohne einen aus­führ­li­chen, wohl­be­grün­de­ten Stand­punkt zur Geschich­te und Rol­le der EU in der Kri­se bei­de Lager nur ent­täu­schen kön­nen.[1]

Auch wei­te­re Kol­le­gen auf dem Panel kamen zu einer ver­gleich­ba­ren Dia­gno­se, beson­ders Gri­go­ris Mark­ou aus Thes­sa­lo­ni­ki, der an den Unter­schied zwi­schen Mar­xis­mus und popu­lä­rem Keyne­sia­nis­mus erin­ner­te und erklär­te, inwie­fern Popu­lis­mus und Zen­tris­mus zusam­men­hän­gen. Ein The­ma, das in den fol­gen­den Tagen noch heiß dis­ku­tiert wer­den soll­te. Anton Jae­ger aus den USA lenk­te die Auf­merk­sam­keit auf das Pro­blem der „Poli­tik für Mas­sen oder für Klas­sen?“. Auch er erteil­te dem Kon­zept „Mas­sen ohne Klas­sen“ eine Absa­ge und erin­ner­te dar­an, dass eine Rück­kehr zur „ein­fa­chen“ Klas­sen­po­li­tik aber eben­falls eine Illu­si­on wäre. An die­ser Stel­le ein Dan­ke an Panagio­tis Soti­ris, der die Dis­kus­si­on leitete.

Im Ple­nar­saal

Viel Inter­es­se gab es auch an der Dis­kus­si­ons­run­de zur Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart des Faschis­mus. Pen­ny Gala­ni ent­blöß­te die schie­re Dumm­heit neu­er ras­sis­ti­scher Dis­kur­se über Gene­tik und stell­te über die Fra­ge „Ist bio­lo­gi­scher Ras­sis­mus ein­fach nur schlech­te Wis­sen­schaft?“ eine Ver­bin­dung zum Ver­hält­nis von Mar­xis­mus und Wis­sen­schaft­lich­keit her. Dem Argu­ment, nur ein dia­lek­ti­scher Mate­ria­lis­mus kön­ne etwas gegen ras­sis­ti­sche Ten­den­zen aus­rich­ten, kön­nen wir aller­dings nicht zustim­men. Der Vor­wurf, „schlech­te Wis­sen­schaft“ zu betrei­ben, soll­te doch wohl aus­rei­chen, um Ras­sis­ten und Anti­se­mi­ten aus lin­ken Dis­kur­sen aus­zu­schlie­ßen und es ist uns nicht klar gewor­den, war­um die Kri­tik an schlech­ter Wis­sen­schaft aus­ge­rech­net mit einem phi­lo­so­phi­schen Werk­zeug erfol­gen soll, der Dia­lek­tik, von dem kei­ne ratio­na­le Form vor­liegt und die mit gro­ßer Wahr­schein­lich­keit ein Relikt aus einer längst ver­gan­ge­nen lite­ra­ri­schen Tra­di­ti­on darstellt.

Anki­ca Čakar­dić und Alek­san­dar Mat­ko­vić erin­ner­ten anschlie­ßend an das anti­fa­schis­ti­sche Erbe von Cla­ra Zet­kin und die enge Ver­knüp­fung der deut­schen Indus­trie mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus. „Für kein ein­zi­ges deut­sches Unter­neh­men lässt sich bele­gen, dass es zur Benut­zung von Zwangs­ar­bei­tern gezwun­gen wur­de“ – viel­mehr gab es eine nach­weis­ba­re, hohe Nach­fra­ge nach Zwangsarbeiter*innen sei­tens der Unter­neh­men, sagt Mat­ko­vić. Lei­der geht in Zet­kins unter­kom­ple­xer Ana­ly­se von lee­ren Ver­spre­chun­gen, mit denen die Nazis gekö­dert hät­ten, die Fra­ge unter, ob es nicht doch am Ende objek­ti­ve Inter­es­sen der Deut­schen gab, den Inter­na­tio­na­lis­mus zu ver­ra­ten. Adria­na Sil­va Gre­go­rut zeig­te auf, ähn­lich wie schon Cla­ris­se De Almei­da, wie gera­de die Mecha­nis­men des geschei­ter­ten sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Umver­tei­lungs­pro­jekts in Bra­si­li­en zum Auf­stieg Bol­so­na­ros führten.

Vor uner­war­te­ten Pro­ble­men stand Micha­el Hein­rich, der in der par­al­le­len Vor­stel­lung sei­ner neu­en Marx­bio­gra­fie die Rele­vanz die­ses Mam­mut­pro­jekts kaum begrün­den konn­te. Anstel­le des­sen refe­rier­te Hein­rich über Mar­xens poe­ti­sche Ambi­tio­nen, war­um sein Hege­lia­nis­mus ihm die­se Roman­tik ver­bot und was es mit sei­ner Dis­ser­ta­ti­on auf sich habe. Die­ses Pro­blem des feh­len­den poli­ti­schen Gehalts soll­te sich in der gro­ßen Abend­ple­nar­sit­zung wiederholen.

Dar­in zeich­ne­te Micha­el Roberts ein ein­drück­li­ches Bild des tota­len Ver­sa­gens der offi­zi­el­len aka­de­mi­schen Öko­nom­in­nen und Öko­no­men in den letz­ten zehn Jah­ren der Kri­se und frag­te, war­um lin­ke Kräf­te nicht von die­ser Nie­der­la­ge des Libe­ra­lis­mus pro­fi­tie­ren konn­ten. Kla­rer­wei­se befän­de sich die glo­ba­le Wirt­schaft in einer erns­ten Depres­si­on, die aller Vor­aus­sicht nach leicht in eine neue Rezes­si­on über­ge­hen könn­te. Roberts ist ein Anhän­ger eines alten, aber zen­tra­len Argu­ments von Marx, näm­lich dass die Pro­fi­te der Kapi­ta­lis­ten über län­ge­re Zeit hin­weg unwei­ger­lich so tief fal­len wür­den, dass es sich ohne grund­sätz­li­che Ver­än­de­rung nicht wei­ter wirt­schaf­ten las­se. Beson­ders von Micha­el Hein­rich wur­de die­se Auf­fas­sung lan­ge Jah­re vehe­ment kri­ti­siert, sowohl phi­lo­lo­gisch an Marx’ Tex­ten, als auch sys­te­ma­tisch, denn wie genau eine „grund­sätz­li­che Ver­än­de­rung“ denn aus­se­hen wür­de, bleibt bei sol­chen Ana­ly­sen meist unbe­stimmt. Roberts sah die klas­si­schen Ansich­ten zur Kri­sen­haf­tig­keit des Kapi­ta­lis­mus nun aller­dings in der gegen­wär­ti­gen Kri­se wie­der bestä­tigt. Doch wer von bei­den hat nun Recht? Offen­sicht­lich liegt auch hier ein Denk­feh­ler vor: Weder Roberts noch Hein­rich machen sich viel Gedan­ken dar­über, wel­che Fol­gen ihre theo­re­ti­schen Posi­tio­nen haben. Der Kapi­ta­lis­mus stürzt also nach­weis­bar immer wie­der in Kri­sen. Oder eben nicht. So what? Was bedeu­tet das für lin­ke Kämp­fe? Auch die­ses Jahr wird die­se Fra­ge lei­der wie­der von bei­den nicht beantwortet.

Dass die Ant­wort jedoch Kon­se­quen­zen hat, bewies Cos­tas Lapa­vit­s­as im Anschluss. Lapa­vit­s­as, in Lon­don aus­ge­bil­de­ter grie­chi­scher Öko­nom, ver­ficht in der grie­chi­schen Links­par­tei Syri­za den Aus­tritt des Lan­des aus dem Euro. Sei­ner Ansicht nach unter­schei­det sich die gegen­wär­ti­ge, zwei­te gro­ße Wel­le der Finan­zia­li­sie­rung der Welt von der ers­ten Wel­le am Anfang des 20. Jahr­hun­derts. Vor hun­dert Jah­ren habe die boo­men­de Indus­tria­li­sie­rung eine Nach­fra­ge nach Kre­di­ten und Kon­ver­ti­bi­li­tät erzeugt und so die Ban­ken nach ihren eige­nen Bedürf­nis­sen geschaf­fen. Heu­te säße die Indus­trie aber bereits auf unbe­greif­li­chen Kapi­tal­mas­sen und habe gera­de kein Bedürf­nis nach neu­em Kapi­tal, weil sich neue Invers­ti­tio­nen und Wachs­tum über­haupt nicht lohnen.

His­to­ri­sche Reak­tio­nen auf Zentrismus

Die Ban­ken hät­ten sich des­halb von den Fir­men eman­zi­piert und in Staats- und Haus­halts­kre­di­ten ein neu­es, boo­men­des Betä­ti­gungs­feld gesucht. Im Jah­re 2000 habe die­ses Feld, das im Wesent­li­chen ja nichts ande­res als eine gesell­schaft­li­che Umver­tei­lung von Geld weg von Staats­haus­hal­ten und Pri­vat­haus­hal­ten bedeu­tet, in man­chen Regio­nen sagen­haf­te 30% des gesam­ten Wirt­schafts­tä­tig­keit ange­nom­men: Von jeden 100 ins­ge­samt umge­setz­ten Euro sind 3 Euro direkt von Staat- und Pri­vat­haus­hal­ten an die Ban­ken geflos­sen. Im Gegen­satz zu Lenins Zei­ten sei es daher nicht die Ver­schrän­kung, son­dern gera­de die Unab­hän­gig­keit der Zen­tral­ban­ken von der Indus­trie, die die­sen Aus­beu­tungs­me­cha­nis­mus mög­lich macht. Dar­un­ter lei­det am Ende auch die Real­öko­no­mie: Die Haus­hal­te wer­den der­art zah­lungs­un­fä­hig, dass sich Pro­duk­ti­on nicht mehr lohnt. Gesell­schaft­lich kon­trol­lier­te Zen­tral­ban­ken wür­den daher natur­ge­mäß die Infla­ti­on erhö­hen, um Ihre Schul­den zu ent­wer­ten (oder gleich ganz zu annul­lie­ren) und so wie­der zah­lungs­fä­hig zu wer­den. Das kön­nen sie aber nicht, nicht weil die Zen­tral­ban­ken abhän­gig sind, son­dern weil sie gera­de unab­hän­gig sind von staat­li­cher Weisung.

Weil die Staa­ten aber umge­kehrt nichts ande­res tun kön­nen, als den Aus­teri­täts­vor­ga­ben zu ent­spre­chen, wür­den daher unwei­ger­lich alle zivil­ge­sell­schaft­li­chen und sozi­al­po­li­ti­schen Pro­jek­te ein­ge­spart und die­ses finan­zi­el­le Spa­ren resul­tiert in kon­ser­va­ti­ve poli­ti­sche Stim­mung. Gera­de des­halb sei es aber das Gebot der Stun­de, trotz aller Zwei­fel, die­sen Mecha­nis­mus zu bre­chen und die natio­na­le (eine ande­re sei nicht in Sicht­wei­te) Sou­ve­rä­ni­tät über die Ban­ken wie­der­her­zu­stel­len, selbst wenn das eine Koali­ti­on mit erstar­ken­den kon­ser­va­ti­ven Kräf­ten bedeu­te. Mit ande­ren Wor­ten, Lapa­vit­s­as plä­diert mit viel Lei­den­schaft für eine moder­ne und viel­leicht sogar berech­tig­te Neu­auf­la­ge einer Haupt­wi­der­spruchs­the­se, auch wenn er den Begriff selbst sicher zurück­wei­sen wür­de: Fis­ka­li­sche Aus­teri­tät zieht unwei­ger­lich ein Erstar­ken von sozia­ler Kon­ser­va­ti­vi­tät nach sich, die ein­zi­ge Chan­ce, aus einer Min­der­hei­ten­po­si­ti­on dar­an etwas zu ändern, ist ein Aus­bruch aus der Aus­teri­tät, sei es auch mit­hil­fe von kon­ser­va­ti­ven Kräften.

Die­se Posi­ti­on wür­den wir in Erman­ge­lung einer bes­se­ren Bezeich­nung „neu­er Zen­tris­mus“ nen­nen. Wir den­ken, dass sich an die­ser Fra­ge vie­les über die nächs­te Deka­de der lin­ken Kräf­te ent­schei­den wird.

Dritter Tag – „Ideologie ohne Basis“

Die Ple­nar­sit­zung am dar­auf­fol­gen­den Sams­tags dreh­te sich genau um die­sen „Neo­zen­tris­mus“. Als Platt­form für die Posi­ti­on eines gemä­ßig­ten, popu­lä­ren Sozia­lis­mus (alle Rede­bei­trä­ge kamen aus dem unmit­tel­ba­ren Umfeld des Jaco­bin-Maga­zins) wur­de im wei­tes­ten Sin­ne für brei­te gesell­schaft­li­che Bünd­nis­se als neue Stra­te­gie gewor­ben. Mit­hil­fe gro­ßer Par­tei­en und Orga­ni­sa­tio­nen könn­te die Unzu­frie­den­heit der Mas­sen arti­ku­liert wer­den. Uns hat die­ser Stan­dunkt ver­wun­dert, scheint es uns doch so, dass gera­de die­se gro­ßen Par­tei­en sich nicht nur gewei­gert haben, alter­na­ti­ve poli­ti­sche Stand­punk­te zu arti­ku­lie­ren, son­dern viel­mehr maß­geb­lich an der Zer­schla­gung die­ser Stand­punk­te teil­ha­ben, wir den­ken dabei etwa an die unrühm­li­che Rol­le der deut­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie in der Geschich­te der Antiglo­ba­li­sie­rungs­be­we­gung, die epo­cha­le Dis­zi­pli­nie­rung der radi­ka­len öko­lo­gi­schen Bewe­gung durch grü­ne Par­tei­en, u.v.m.

Die Jaco­bin-Frak­ti­on?

Beson­ders ver­wun­dert hat uns die Posi­ti­on der Genos­sin Ines Schwer­dt­ner, die eben­falls für einen erhöh­ten Aus­tausch (=„prac­ti­cal dialec­tics“) auch mit den kon­ser­va­ti­ven Armen der gro­ßen Par­tei­en wirbt, um die Arti­ku­la­ti­on von alter­na­ti­ven For­de­run­gen zu för­dern. Unse­rer Ansicht nach exis­tie­ren sol­che Arti­ku­la­tio­nen ja bereits auf den Stra­ßen, und zwar seit vie­len Jah­ren, und die Abwe­sen­heit von Soli­da­ri­tät sei­tens der Par­tei­en kann nicht durch man­geln­de Kom­mu­ni­ka­ti­on oder „Sek­tie­rer­tum“ erklärt wer­den, son­dern nur durch den Unwil­len, ja die offen­ba­re Geg­ner­schaft der gro­ßen Par­tei­en gegen­über den For­de­run­gen der Jugend und der radi­ka­len Lin­ken. Doch genau das scheint den poli­ti­schen Gehalt des neu­en Zen­tris­mus aus­zu­ma­chen: Wer aus einer Posi­ti­on der Schwä­che her­aus eine Alli­anz mit der Sozi­al­de­mo­kra­tie anstrebt, kann ja gar nicht anders, als deren Feh­ler zu igno­rie­ren oder zumin­dest klein­zu­re­den. Es scheint uns so, dass zwi­schen die­ser Stra­te­gie einer­seits, und der Stra­te­gie einer unab­hän­gi­gen Stra­te­gie mit inhalt­li­cher Inte­gri­tät ande­rer­seits eine wich­ti­ge Bruch­li­nie für die gegen­wär­ti­ge Lin­ke liegt.

Kait­lin Peters ent­wi­ckel­te außer­dem eine span­nen­de Per­spek­ti­ve im Anschluss an Sil­via Fede­ri­ci zum Begriff „Frau­en“ als rela­tio­na­le Kate­go­rie nach dem Vor­bild von „Klas­se“, die eben­falls nicht als Iden­ti­tät son­dern als Ver­hält­nis gemeint ist. Bra­nis­la­va Petrov stell­te eine span­nen­de Stu­die zu häus­li­cher Gewalt und Miss­brauch vor und erin­ner­te an ein Kon­zept der früh ver­stor­be­nen jugo­sla­wi­schen Femi­nis­tin Lydia Skle­vicky, nament­lich der „Ideo­lo­gie ohne Basis“, einer inter­es­san­ten Brü­cke zwi­schen den „häus­li­chen“ Pro­duk­ti­ons­wei­sen und einer mate­ria­lis­ti­schen Auf­fas­sung von Ideo­lo­gie. Ari­ad­ni Poli­chro­niou expe­ri­men­tier­te mit einer Erwei­te­rung von But­lers Gedan­ken zu „Ver­letz­lich­keit“ als grund­le­gen­dem Kon­zept für poli­ti­sche Theorie.

Letzter Tag – Feindbilder

Col­le­en Lye schloß an die Dis­kus­si­on zum Ver­hält­nis­be­griff an und rekon­stru­iert die Debat­ten der radi­ka­len Lin­ken in der USA in den 70ern rund um (dou­ble) explo­ita­ti­on und (dou­ble) opp­res­si­on. Sie erin­ner­te dar­an, dass der ver­meint­lich klas­sisch-mate­ria­lis­ti­sche Begriff „Aus­beu­tung“ an sich noch kein fer­ti­ges Werk­zeug für eine Lin­ke ist, son­dern sich immer zu Unter­drü­ckung und Herr­schaft in Bezug set­zen muss, um die­se Bedeu­tung zu erlangen.

Das Abschluss­pa­nel mit Anki­ca Cakar­dic, Hol­ly Lewis, Lyn­ne Segal und Ange­la Dimi­tra­ka­ki offe­rier­te wei­te­re Per­spek­ti­ven auf eine Zusam­men­füh­rung von femi­nis­ti­scher und mate­ria­lis­ti­scher Theo­rie, wobei über­ra­schen­der­wei­se gera­de der xenofe­mi­nis­ti­sche Ansatz von Dima­tri­ka­ki zum Wei­ter­den­ken anreg­te: Die zuneh­men­de Digi­ta­li­sie­rung der Kör­per, die Selbst­aus­beu­tung und die sekun­den­ge­nau getak­te­ten Aus­beu­tungs­ver­hält­nis­se mach­ten es immer schwe­rer, in den Nischen der Ver­hält­nis­se die neu­en Sub­jek­te aus­zu­ma­chen, die es anzu­spre­chen gel­te. Umso wich­ti­ger, sich auf den mate­ri­el­len Gehalt der Ver­hält­nis­se zu besin­nen, denn auch wenn Netz­wer­ke wie Uber oder Airbnb, Fahr­rad­ku­rier­diens­te und Leih­mut­ter­agen­tu­ren nicht in der­sel­ben Wei­se zu „ent­eig­nen“ sind wie indus­tri­el­le Fir­men, so ver­schwin­det die Wirk­mäch­tig­keit klas­si­scher Aus­beu­tung doch nicht, son­dern trans­for­miert sich nur.

Wie also eine ein­heit­li­che und schlag­kräf­ti­ge Stra­te­gie ent­wi­ckeln? Etwas, das natür­lich immer geht, ist das inter­na­tio­nal lei­der immer noch aner­kann­te Mit­tel der “legi­ti­men Israel­kri­tik”. Wur­de schon wäh­rend der Kon­fe­renz (zurecht) immer wie­der die Schlüs­sel­rol­le der deut­schen Lin­ken her­vor­ge­ho­ben, deren Kri­se auf­grund der ton­an­ge­ben­den Rol­le der BRD in der EU umso schwe­rer wiegt, so war das Pro­blem (zu Unrecht) schnell iden­ti­fi­ziert: Es sei natür­lich aus­ge­rech­net der Nah­ost­kon­flikt, der die deut­sche Lin­ke spal­te und Euro­pas Ret­tung hän­ge doch jetzt ganz deut­lich davon ab, die Lin­ke müss­te end­lich klar Far­be beken­nen und Schluß machen mit einer dif­fe­ren­zier­ten Ana­ly­se des Konflikts.

Es mag aus der Außen­an­sicht wohl so schei­nen als sei die lin­ke in Deutsch­land unan­ge­mes­sen gespal­ten, und sicher ist dar­an ein Fun­ken Wahr­heit inso­fern, als dass die­se Spal­tung zum größ­ten Teil als Iden­ti­tät kon­su­miert wird. Immer wie­der hört man, dass Lin­ke aus ande­ren Län­dern gar nicht ver­stün­den, was denn über­haupt der Grund Spal­tung der deut­schen Lin­ken sei (was sich auf der Kon­fe­renz im übri­gen nicht bestä­tigt hat, war es doch so, dass gera­de Bei­trä­ge aus Ost­eu­ro­pa sowie aus Grie­chen­land selbst eine gro­ße Fein­füh­lig­keit rund um das The­ma Arbei­ter­klas­se und Faschis­mus bewie­sen haben). Allein, Igno­ranz ist kein gutes Argu­ment, und so scheint uns doch eine gespal­te­ne Lin­ke immer­noch attrak­ti­ver als eine, die, wie hier gesche­hen, auf dem Nach­hau­se­weg noch ger­ne auf ein Getränk zum ört­li­chen Isra­el-Boy­kott-Fes­ti­val trifft.

  1. https://derstandard.at/2000103979088/Labour-in-der-Brexit-Falle

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