Ein insgesamt betrachtet doch großer Erfolg war die diesjährige Historical Materialism-Konferenz in Athen, die traditionell aus dem Umfeld der gleichnamigen Zeitschrift und den Buchverlagen Verso, Brill und Haymarket organisiert wird und halbjährlich ihren Standort wechselt.
Die Ausrichtung der Konferenz in Athen hatte einen gewissen Symbolwert: Kaum ein anderes EU-Mitglied hat so hart unter der Wirtschaftskrise gelitten wie Griechenland. Die Frage, wie am besten gegen die Krise oder das Krisenregime aus Brüssel und Berlin zu kämpfen sei, hat hier eine besondere, praktische Bedeutung, und entsprechend emotional wurden die Debatten teils geführt.
Aber dazu später mehr. Denn zuallererst ist festzuhalten, dass es bei „historischem Materialismus“, oder eben auch bei „Marxismus“, nicht nur um Wirtschaft und Finanzen geht, sondern um die Gesellschaft als Ganzes – und alle ihre Aspekte und Erscheinungsformen. Und so gab es vor allen Dingen auch viele Diskussionen über die aktuell weltweit in Fahrt gekommene feministische Bewegung, Analysen über den globalen politischen Rechtsruck und vor allem über die Frage, was zum Teufel denn in der verfahrenen Situation linker Politik zu tun ist.
Als Materialismus.org waren wir auch vor Ort und schreiben an dieser Stelle unsere Eindrücke, Ergebnisse und Perspektiven auf, um sie allen zugänglich zu machen. Wir haben uns besonders darüber gefreut, dass das Organisationsteam erkennbar mehr und mehr Erfolg hat, solche Beiträge sichtbar zu machen, die nicht in die Schablone des weißen, männlichen Akademikers passen.
Erster Tag – Die „Roussauisierung von Marx“?
Die erste Veranstaltung zu Marx und Philosophie begann relativ enttäuschend, nämlich mit einer recht konservativen Lesart der vermeintlichen großen Gemeinsamkeiten von Marx und Foucault von Despina Paraskeva-Veloudogianni, die nicht erkennbar etwa über Judith Butlers Version hinausgeht. In aller Kürze: Foucault sei ja eigentlich nur der erweiterte Marx und alle Probleme zwischen den beiden wären ja damit dann auch erledigt.
Auf der zweiten Veranstaltung zu feministischer Strategie diskutierte derweil Clarisse de Almeida ihre Sicht auf die Wahl des Faschisten Bolsonaro in Brasilien. Sie ging vor allem auch mit der verfehlten Politik der Sozialisten in den letzten Jahren hart ins Gericht, die die Bevölkerung und Arbeiter*innenklasse durch und durch geschwächt habe. Im Anschluss stellte Somayeh Rostampour ihre Forschungsarbeit über die feministischen Ideen in den kurdischen Bewegungen vor. Ihre Interviews haben gezeigt, dass die Kämpferinnen sich oft gar nicht als „feministisch“ in einem westlichen Sinn des Wortes begreifen. Sie warnte vor einem „neu-orientalistischen“, romantisierenden Blick und erinnerte daran, dass es eine wichtige Aufgabe sein wird, den feministischen Charakter der lokalen Bewegungen auch nach einem eventuellen Ende des Krieges aufrecht zu erhalten, wenn der Druck von außen und damit auch der Zusammenhalt in den Frauen-Einheiten eventuell wegfallen. In Bezug auf Vivek Chibber wird betont, dass „lokale“ Bewegungen nicht immer unbedingt „progressive“ Bewegungen sind.
In der ersten abendlichen Plenarsitzung erklärte Savvas Michael-Matsas seine Sicht auf die neue Phase des Neoliberalismus, dem es bei der Krise nicht nur um Einsparungen, sondern auch um die Erschaffung eines generellen Klimas der Angst und der Disziplin gehe. Diesen Trend habe wiederum besonders Foucault schon mit dem Begriff Biopolitik beschrieben: Der Kapitalismus will nun nicht nur Produktionsweise sein, sondern den gesamten (auch biologischen/planetarischen) Stoffwechsel der Gesellschaft nach seinem Muster regeln. Foucault habe damit erfolgreich gegen die Verdrehung von Marx in einen zahnlosen Rousseau angekämpft.
Sicher eine elegante Idee, doch mit einem großen Denkfehler verbunden: Wann hat es sich denn beim Kapitalismus einmal nicht um den sozialen Metabolismus gedreht? Wann soll denn diese Epoche gewesen sein, in der sich Kapitalismus nur als Produktionsweise, und nicht auch schon Disziplinierung- und Unterdrückungsweise war? Natürlich gab es diese Phase nie. Die Nekropolitik, wie es heute gerne heißt, also in etwa das Sterben-Lassen (von Alten, Kranken, Unnützen, Migrant*innen, etc.), ist nur dann eine neue Phase, wenn man die gewaltsame Geschichte des „frühen“ Kapitalismus vergessen hat. Das ständige Neu-Erfinden eines vermeintlich anti-dogmatischen, neuen Marx, der Antworten auf vorgeblich neue Phasen des Kapitalismus bereit halten soll kann – dies war einer unserer stärksten Eindrücke auf der Konferenz – nur dazu dienen, die in Zeiten der Krise eigentlich doch gar nicht so unzeitgemäßen Kategorien des “traditionellen Marxismus” weiter zu entkernen, ohne sich einer ernsten Revision zu stellen. So verdienstvoll der Kampf gegen die „Rousseauisierung von Marx“ ist, wäre es doch auch angebracht, kritisch über die, wenn man so will, „Foucaultisierung von Marx“ nachzudenken.
Zweiter Tag – Ein neuer Hauptwiderspruch?
Der zweite Tag begann für uns mit unserem eigenen Beitrag über das Verhältnis von Krise und Populismus. Wir haben uns in den letzten Jahren daran gesetzt, uns einen Überblick über verschiedene linksradikale Interpretationen zu Krise zu machen und waren überrascht davon, wie schlecht dieser Bereich theoretisch aufgestellt ist und vor welch großen Schwierigkeiten er steht. Wir haben versucht aufzuzeigen, dass die gegenwärtig viel gebrauchte Strategie, populäre, oberflächlich durch die Krise ausgelöster Kämpfe an ihrem Standpunkt „abzuholen“ und für marxistische Perspektiven „einzuspannen“, viel eher eine Kapitulation vor diesen Schwierigkeiten als ihre Lösung darstellt.
Mit dem Publikum konnten wir dieses These kontrovers etwa am Beispiel Jeremy Corbyn diskutieren: Auch er versucht im Brexit-Debakel nur von der öffentlichen Enttäuschung über die Politik der Konservativen zu profitieren und vermeidet es dabei geradezu systematisch, einen klaren, linksradikalen Standpunkt zur EU auszusprechen. Die aktuelle Entwicklung scheint uns recht zu geben: Früher oder später stellt sich die Brexit-Frage unausweichlich, und dann wird auch Corbyn nicht mehr rhetorisch über die Unvereinbarkeit von Pro- und Contra-Brexit-Positionen hinwegtäuschen können. Dann wird er sich positionieren müssen, und wird ohne einen ausführlichen, wohlbegründeten Standpunkt zur Geschichte und Rolle der EU in der Krise beide Lager nur enttäuschen können.[1]
Auch weitere Kollegen auf dem Panel kamen zu einer vergleichbaren Diagnose, besonders Grigoris Markou aus Thessaloniki, der an den Unterschied zwischen Marxismus und populärem Keynesianismus erinnerte und erklärte, inwiefern Populismus und Zentrismus zusammenhängen. Ein Thema, das in den folgenden Tagen noch heiß diskutiert werden sollte. Anton Jaeger aus den USA lenkte die Aufmerksamkeit auf das Problem der „Politik für Massen oder für Klassen?“. Auch er erteilte dem Konzept „Massen ohne Klassen“ eine Absage und erinnerte daran, dass eine Rückkehr zur „einfachen“ Klassenpolitik aber ebenfalls eine Illusion wäre. An dieser Stelle ein Danke an Panagiotis Sotiris, der die Diskussion leitete.
Viel Interesse gab es auch an der Diskussionsrunde zur Vergangenheit und Gegenwart des Faschismus. Penny Galani entblößte die schiere Dummheit neuer rassistischer Diskurse über Genetik und stellte über die Frage „Ist biologischer Rassismus einfach nur schlechte Wissenschaft?“ eine Verbindung zum Verhältnis von Marxismus und Wissenschaftlichkeit her. Dem Argument, nur ein dialektischer Materialismus könne etwas gegen rassistische Tendenzen ausrichten, können wir allerdings nicht zustimmen. Der Vorwurf, „schlechte Wissenschaft“ zu betreiben, sollte doch wohl ausreichen, um Rassisten und Antisemiten aus linken Diskursen auszuschließen und es ist uns nicht klar geworden, warum die Kritik an schlechter Wissenschaft ausgerechnet mit einem philosophischen Werkzeug erfolgen soll, der Dialektik, von dem keine rationale Form vorliegt und die mit großer Wahrscheinlichkeit ein Relikt aus einer längst vergangenen literarischen Tradition darstellt.
Ankica Čakardić und Aleksandar Matković erinnerten anschließend an das antifaschistische Erbe von Clara Zetkin und die enge Verknüpfung der deutschen Industrie mit dem Nationalsozialismus. „Für kein einziges deutsches Unternehmen lässt sich belegen, dass es zur Benutzung von Zwangsarbeitern gezwungen wurde“ – vielmehr gab es eine nachweisbare, hohe Nachfrage nach Zwangsarbeiter*innen seitens der Unternehmen, sagt Matković. Leider geht in Zetkins unterkomplexer Analyse von leeren Versprechungen, mit denen die Nazis geködert hätten, die Frage unter, ob es nicht doch am Ende objektive Interessen der Deutschen gab, den Internationalismus zu verraten. Adriana Silva Gregorut zeigte auf, ähnlich wie schon Clarisse De Almeida, wie gerade die Mechanismen des gescheiterten sozialdemokratischen Umverteilungsprojekts in Brasilien zum Aufstieg Bolsonaros führten.
Vor unerwarteten Problemen stand Michael Heinrich, der in der parallelen Vorstellung seiner neuen Marxbiografie die Relevanz dieses Mammutprojekts kaum begründen konnte. Anstelle dessen referierte Heinrich über Marxens poetische Ambitionen, warum sein Hegelianismus ihm diese Romantik verbot und was es mit seiner Dissertation auf sich habe. Dieses Problem des fehlenden politischen Gehalts sollte sich in der großen Abendplenarsitzung wiederholen.
Darin zeichnete Michael Roberts ein eindrückliches Bild des totalen Versagens der offiziellen akademischen Ökonominnen und Ökonomen in den letzten zehn Jahren der Krise und fragte, warum linke Kräfte nicht von dieser Niederlage des Liberalismus profitieren konnten. Klarerweise befände sich die globale Wirtschaft in einer ernsten Depression, die aller Voraussicht nach leicht in eine neue Rezession übergehen könnte. Roberts ist ein Anhänger eines alten, aber zentralen Arguments von Marx, nämlich dass die Profite der Kapitalisten über längere Zeit hinweg unweigerlich so tief fallen würden, dass es sich ohne grundsätzliche Veränderung nicht weiter wirtschaften lasse. Besonders von Michael Heinrich wurde diese Auffassung lange Jahre vehement kritisiert, sowohl philologisch an Marx’ Texten, als auch systematisch, denn wie genau eine „grundsätzliche Veränderung“ denn aussehen würde, bleibt bei solchen Analysen meist unbestimmt. Roberts sah die klassischen Ansichten zur Krisenhaftigkeit des Kapitalismus nun allerdings in der gegenwärtigen Krise wieder bestätigt. Doch wer von beiden hat nun Recht? Offensichtlich liegt auch hier ein Denkfehler vor: Weder Roberts noch Heinrich machen sich viel Gedanken darüber, welche Folgen ihre theoretischen Positionen haben. Der Kapitalismus stürzt also nachweisbar immer wieder in Krisen. Oder eben nicht. So what? Was bedeutet das für linke Kämpfe? Auch dieses Jahr wird diese Frage leider wieder von beiden nicht beantwortet.
Dass die Antwort jedoch Konsequenzen hat, bewies Costas Lapavitsas im Anschluss. Lapavitsas, in London ausgebildeter griechischer Ökonom, verficht in der griechischen Linkspartei Syriza den Austritt des Landes aus dem Euro. Seiner Ansicht nach unterscheidet sich die gegenwärtige, zweite große Welle der Finanzialisierung der Welt von der ersten Welle am Anfang des 20. Jahrhunderts. Vor hundert Jahren habe die boomende Industrialisierung eine Nachfrage nach Krediten und Konvertibilität erzeugt und so die Banken nach ihren eigenen Bedürfnissen geschaffen. Heute säße die Industrie aber bereits auf unbegreiflichen Kapitalmassen und habe gerade kein Bedürfnis nach neuem Kapital, weil sich neue Inverstitionen und Wachstum überhaupt nicht lohnen.
Die Banken hätten sich deshalb von den Firmen emanzipiert und in Staats- und Haushaltskrediten ein neues, boomendes Betätigungsfeld gesucht. Im Jahre 2000 habe dieses Feld, das im Wesentlichen ja nichts anderes als eine gesellschaftliche Umverteilung von Geld weg von Staatshaushalten und Privathaushalten bedeutet, in manchen Regionen sagenhafte 30% des gesamten Wirtschaftstätigkeit angenommen: Von jeden 100 insgesamt umgesetzten Euro sind 3 Euro direkt von Staat- und Privathaushalten an die Banken geflossen. Im Gegensatz zu Lenins Zeiten sei es daher nicht die Verschränkung, sondern gerade die Unabhängigkeit der Zentralbanken von der Industrie, die diesen Ausbeutungsmechanismus möglich macht. Darunter leidet am Ende auch die Realökonomie: Die Haushalte werden derart zahlungsunfähig, dass sich Produktion nicht mehr lohnt. Gesellschaftlich kontrollierte Zentralbanken würden daher naturgemäß die Inflation erhöhen, um Ihre Schulden zu entwerten (oder gleich ganz zu annullieren) und so wieder zahlungsfähig zu werden. Das können sie aber nicht, nicht weil die Zentralbanken abhängig sind, sondern weil sie gerade unabhängig sind von staatlicher Weisung.
Weil die Staaten aber umgekehrt nichts anderes tun können, als den Austeritätsvorgaben zu entsprechen, würden daher unweigerlich alle zivilgesellschaftlichen und sozialpolitischen Projekte eingespart und dieses finanzielle Sparen resultiert in konservative politische Stimmung. Gerade deshalb sei es aber das Gebot der Stunde, trotz aller Zweifel, diesen Mechanismus zu brechen und die nationale (eine andere sei nicht in Sichtweite) Souveränität über die Banken wiederherzustellen, selbst wenn das eine Koalition mit erstarkenden konservativen Kräften bedeute. Mit anderen Worten, Lapavitsas plädiert mit viel Leidenschaft für eine moderne und vielleicht sogar berechtigte Neuauflage einer Hauptwiderspruchsthese, auch wenn er den Begriff selbst sicher zurückweisen würde: Fiskalische Austerität zieht unweigerlich ein Erstarken von sozialer Konservativität nach sich, die einzige Chance, aus einer Minderheitenposition daran etwas zu ändern, ist ein Ausbruch aus der Austerität, sei es auch mithilfe von konservativen Kräften.
Diese Position würden wir in Ermangelung einer besseren Bezeichnung „neuer Zentrismus“ nennen. Wir denken, dass sich an dieser Frage vieles über die nächste Dekade der linken Kräfte entscheiden wird.
Dritter Tag – „Ideologie ohne Basis“
Die Plenarsitzung am darauffolgenden Samstags drehte sich genau um diesen „Neozentrismus“. Als Plattform für die Position eines gemäßigten, populären Sozialismus (alle Redebeiträge kamen aus dem unmittelbaren Umfeld des Jacobin-Magazins) wurde im weitesten Sinne für breite gesellschaftliche Bündnisse als neue Strategie geworben. Mithilfe großer Parteien und Organisationen könnte die Unzufriedenheit der Massen artikuliert werden. Uns hat dieser Standunkt verwundert, scheint es uns doch so, dass gerade diese großen Parteien sich nicht nur geweigert haben, alternative politische Standpunkte zu artikulieren, sondern vielmehr maßgeblich an der Zerschlagung dieser Standpunkte teilhaben, wir denken dabei etwa an die unrühmliche Rolle der deutschen Sozialdemokratie in der Geschichte der Antiglobalisierungsbewegung, die epochale Disziplinierung der radikalen ökologischen Bewegung durch grüne Parteien, u.v.m.
Besonders verwundert hat uns die Position der Genossin Ines Schwerdtner, die ebenfalls für einen erhöhten Austausch (=„practical dialectics“) auch mit den konservativen Armen der großen Parteien wirbt, um die Artikulation von alternativen Forderungen zu fördern. Unserer Ansicht nach existieren solche Artikulationen ja bereits auf den Straßen, und zwar seit vielen Jahren, und die Abwesenheit von Solidarität seitens der Parteien kann nicht durch mangelnde Kommunikation oder „Sektierertum“ erklärt werden, sondern nur durch den Unwillen, ja die offenbare Gegnerschaft der großen Parteien gegenüber den Forderungen der Jugend und der radikalen Linken. Doch genau das scheint den politischen Gehalt des neuen Zentrismus auszumachen: Wer aus einer Position der Schwäche heraus eine Allianz mit der Sozialdemokratie anstrebt, kann ja gar nicht anders, als deren Fehler zu ignorieren oder zumindest kleinzureden. Es scheint uns so, dass zwischen dieser Strategie einerseits, und der Strategie einer unabhängigen Strategie mit inhaltlicher Integrität andererseits eine wichtige Bruchlinie für die gegenwärtige Linke liegt.
Kaitlin Peters entwickelte außerdem eine spannende Perspektive im Anschluss an Silvia Federici zum Begriff „Frauen“ als relationale Kategorie nach dem Vorbild von „Klasse“, die ebenfalls nicht als Identität sondern als Verhältnis gemeint ist. Branislava Petrov stellte eine spannende Studie zu häuslicher Gewalt und Missbrauch vor und erinnerte an ein Konzept der früh verstorbenen jugoslawischen Feministin Lydia Sklevicky, namentlich der „Ideologie ohne Basis“, einer interessanten Brücke zwischen den „häuslichen“ Produktionsweisen und einer materialistischen Auffassung von Ideologie. Ariadni Polichroniou experimentierte mit einer Erweiterung von Butlers Gedanken zu „Verletzlichkeit“ als grundlegendem Konzept für politische Theorie.
Letzter Tag – Feindbilder
Colleen Lye schloß an die Diskussion zum Verhältnisbegriff an und rekonstruiert die Debatten der radikalen Linken in der USA in den 70ern rund um (double) exploitation und (double) oppression. Sie erinnerte daran, dass der vermeintlich klassisch-materialistische Begriff „Ausbeutung“ an sich noch kein fertiges Werkzeug für eine Linke ist, sondern sich immer zu Unterdrückung und Herrschaft in Bezug setzen muss, um diese Bedeutung zu erlangen.
Das Abschlusspanel mit Ankica Cakardic, Holly Lewis, Lynne Segal und Angela Dimitrakaki offerierte weitere Perspektiven auf eine Zusammenführung von feministischer und materialistischer Theorie, wobei überraschenderweise gerade der xenofeministische Ansatz von Dimatrikaki zum Weiterdenken anregte: Die zunehmende Digitalisierung der Körper, die Selbstausbeutung und die sekundengenau getakteten Ausbeutungsverhältnisse machten es immer schwerer, in den Nischen der Verhältnisse die neuen Subjekte auszumachen, die es anzusprechen gelte. Umso wichtiger, sich auf den materiellen Gehalt der Verhältnisse zu besinnen, denn auch wenn Netzwerke wie Uber oder Airbnb, Fahrradkurierdienste und Leihmutteragenturen nicht in derselben Weise zu „enteignen“ sind wie industrielle Firmen, so verschwindet die Wirkmächtigkeit klassischer Ausbeutung doch nicht, sondern transformiert sich nur.
Wie also eine einheitliche und schlagkräftige Strategie entwickeln? Etwas, das natürlich immer geht, ist das international leider immer noch anerkannte Mittel der “legitimen Israelkritik”. Wurde schon während der Konferenz (zurecht) immer wieder die Schlüsselrolle der deutschen Linken hervorgehoben, deren Krise aufgrund der tonangebenden Rolle der BRD in der EU umso schwerer wiegt, so war das Problem (zu Unrecht) schnell identifiziert: Es sei natürlich ausgerechnet der Nahostkonflikt, der die deutsche Linke spalte und Europas Rettung hänge doch jetzt ganz deutlich davon ab, die Linke müsste endlich klar Farbe bekennen und Schluß machen mit einer differenzierten Analyse des Konflikts.
Es mag aus der Außenansicht wohl so scheinen als sei die linke in Deutschland unangemessen gespalten, und sicher ist daran ein Funken Wahrheit insofern, als dass diese Spaltung zum größten Teil als Identität konsumiert wird. Immer wieder hört man, dass Linke aus anderen Ländern gar nicht verstünden, was denn überhaupt der Grund Spaltung der deutschen Linken sei (was sich auf der Konferenz im übrigen nicht bestätigt hat, war es doch so, dass gerade Beiträge aus Osteuropa sowie aus Griechenland selbst eine große Feinfühligkeit rund um das Thema Arbeiterklasse und Faschismus bewiesen haben). Allein, Ignoranz ist kein gutes Argument, und so scheint uns doch eine gespaltene Linke immernoch attraktiver als eine, die, wie hier geschehen, auf dem Nachhauseweg noch gerne auf ein Getränk zum örtlichen Israel-Boykott-Festival trifft.
- https://derstandard.at/2000103979088/Labour-in-der-Brexit-Falle ↑