Imperiale Festung II

Zur “Fes­tung Europa” gehört nicht nur die rig­orose Abschot­tung nach Außen hin, son­dern auch eine ganz bes­timmte Leben­sart auf der Innen­seite, ober­fläch­lich gekennze­ich­net von hohen Kon­sum­stan­dards und riesigem Energie- und Ressourcenver­brauch. Tat­säch­lich kann man sagen, dass es allen poli­tis­chen Akteuren und Strö­mungen – nicht nur den Sozial­istIn­nen – schw­er fällt, gegen diese Lebensweise vorzuge­hen. Eine Beschränkung der Kon­sumer­wartung der Massen ist schw­er zu legit­imieren im Angsichts der immer weit­er aufge­gan­genen Schere zwis­chen Arm und Reich. Aber auch materiell sind die vie­len mikroskopis­chen “Verbesserun­gen” des All­t­ags – Plas­tikver­pack­un­gen für alles, Elek­tro­n­is­che “Hil­fen” für jede erden­kliche Sit­u­a­tion, ein Smart­phone als Grund­vo­raus­set­zung für die Teil­nahme am öffentlichen Leben vom zugänglichen Bah­ntick­et bis zum Leihrolle – nicht ein­fach durch grüne Appelle zu tilgen. Wer ohne­hin vor der Wahl ste­ht, entwed­er einen gesun­den Schlafrhyth­mus durchzuhal­ten oder pünk­tlich zur Arbeit zu erscheinen, dem wird es dreifach schw­er­fall­en, auf den trag­baren Cap­puc­ci­no zu verzicht­en. Auch die Über­flu­tung des Kon­ti­nents mit Elek­tron­ik aus Asien ist schlicht nicht real­isier­bar ohne die großen Con­tain­er­flot­ten und die bil­lige Verk­lap­pung der Alt­geräte ebendort.

Im mark­tlib­eralen Sys­tem kön­nen – bis auf wenige Aus­nah­men, etwa den plöt­zlichen Atom­ausstieg – umweltscho­nen­dere und sozial verträglichere Kon­sumweisen größ­ten­teils ver­mit­telt über Preise ges­teuert wer­den, also etwa durch höhere Steuern auf fos­silen Treib­stoff oder Gebühren für Plas­tik. In der Prax­is laufen solche Maß­nah­men aber der Real­ität meist nur hin­ter­her: Stets zu spät, stets zu wenig, um wirk­lich einen Effekt zu erzie­len. Der Über­schuss, der verteilt wer­den muss, um auch “dem kleinen Mann” einen “fairen” Kon­sum zu ermöglichen, muss erst erwirtschaftet wer­den. Und erwirtschaftet wird er eben impe­r­i­al: Durch gewollte Aufrechter­hal­tung inter­na­tionaler Entwick­lungs- und Han­del­sun­gle­ichgewichte. Die Periph­e­rien haben nur die Wahl, ihre unter­ge­ord­nete Stel­lung im glob­alen Macht­sys­tem zu akzep­tieren und zu hof­fen, dass über Jahrzehnte andauernde Prozesse ein Aus­gle­ich der Bed­i­n­un­gen entsteht. 

Der­weil arbeit­en natür­lich die gewählten Eliten der impe­ri­alen Zen­tren daran – rechte wie sozial­lib­erale – diesen Aus­gle­ich um jeden Preis zu ver­hin­dern. Hat­te nun ger­ade eine neue Gen­er­a­tion ent­deckt, dass die Hoff­nun­gen auf einen Wan­del in der Per­pipherie nicht real­is­tisch sind, haben sich west­lichen Eliten daran gemacht, ihre ohne­hin strikt regle­men­tierten Gren­zen gegen die einzig vernün­ftige Kon­squenz – fliehen, solange es noch geht – abzu­dicht­en, mit tatkräftiger Unter­stützung eines großen Teils der “eige­nen” werk­täti­gen Bevölkerung, die über­haupt nicht daran denkt, sich für die Ärm­sten ger­ade zu machen. Nicht unbe­d­ingt, weil sie per se schlechte Men­schen wären, son­dern eher, weil ihnen die großen “linken” Parteien und Gew­er­schaften jeden sol­i­darischen Grundim­puls gründlich abtrainiert hat­ten, um dadurch ihren eige­nen Stand in der sozialen Hack­o­rd­nung nicht zu gefährden. 

Der Mech­a­nis­mus der “Exter­nal­isierungs­ge­sellschaft”, wie ihn etwa Stephan Lessenich beschreibt, ist also kein neues poli­tis­ches Phänomen im Spätkap­i­tal­is­mus oder nur eine der “For­men der Krisen­bear­beitung seit 2008” (20), wie man es beim Auf­schlag für den Begriff der “impe­ri­alen Lebensweise als Forschung­spro­gramm” ver­muten kön­nte. Der sys­tem­a­tis­che Drang der poli­tis­chen Vertreter der weniger priv­i­legierten, das Leben­sniveau ihres Elek­torats auf Kosten drit­ter zu heben, ist so alt wie die Idee der demokratis­chen Wahl selbst.

Insofern ist eine gewisse Vor­sicht ange­bracht, wie Lukas Obern­dor­fer erneut von “klaren Zeichen für die Krise der einst führen­den Weltan­schau­ung” (44) zu sprechen. Der Gedanke ist sim­pel: Die Gesamtkrise ist da und wird autoritär gelöst, wo sie doch auch pro­gres­siv gelöst wer­den kön­nte. Es gibt aber ebenso­viele Anze­ichen dafür, dass es sich bei dieser Sichtweise um einen Fehlschluss han­delt. Nötig wäre vielmehr, die ger­adezu bedrohliche Sta­bil­ität der Insti­tu­tio­nen und impe­ri­alen Lebensweise zu unter­suchen. Wir erin­nern uns an eben­so spek­takuläre wie fol­gen­lose Einzelfälle: Hor­rende Enthül­lun­gen von Jour­nal­is­ten, über die Kor­rup­tion von einzel­nen Staat­sober­häuptern sowie berechtigten Gen­er­alver­dacht über Betrug und Steuer­hin­terziehung von der poli­tis­chen Klasse generell; aber auch bis hin zu ganz und gar dystopis­chen und eben­so fol­gen­losen Vorgän­gen, wie das Ein­richt­en von geheimen tech­nis­chen Son­der­abteilun­gen bei großen Auto­mo­bil­fir­men, um sys­tem­a­tisch staatliche Umweltkon­trollen zu umge­hen. Die erwarteten Hege­moniekrisen bleiben bei all dem flächen­deck­end aus. Seb­st der bemerkenswerteste Auf­s­tand, die Regierung Syrizas, wurde schlicht wieder abgewählt. 

Der Fokus auf ein Gram­s­cian­is­ches Krisen­ver­ständ­nis ver­stellt hier die Erken­nt­nis: “Die Krise der Demokratie sei ver­ant­wortlich gewe­sen, dass sich keine tragfähige Exit­strate­gie [aus der Finanzkrise, FG] etablieren kon­nte”, zitiert Obern­dor­fer Stephen Gill und Ingar Solty. Das scheint nicht plau­si­bel, da die Krisen­lö­sungsstrate­gien über den lan­gen Zeitraum seit min­destens 2007 ja mehrfach zur demokratis­chen Wahl standen, und nie – mit Aus­nahme allein Griechen­lands – Alter­na­tiv­en eine nen­nenswerte Trak­tion gewin­nen kon­nten. Es han­delt sich also wohl nicht um eine Hege­moniekrise, son­dern ger­adezu um die finest hour des Neolib­er­al­is­mus: Möge er auch ökonomisch scheit­ern, ver­liert er den­noch nicht seine Stel­lung als hege­mo­ni­ale Ide­olo­gie. Das neue Staat­sregime stellt nicht ein­fach die Sicher­heits­frage in all ihren Facetten als das wichtig­ste All­ge­meingut dar, und die Men­schen fall­en darauf here­in – vielmehr haben die Men­schen in den Zen­tren offen­bar ein Inter­esse an dieser, wenn man so will: biopoli­tis­chen, Sicher­heit, das von den neuen poli­tis­chen Fig­uren wie John­son, wie Trump, wie Salvi­ni, tre­f­fend und wahrhaftig artikuliert wird.

Ohne eine Artiku­la­tion ein­er poli­tis­chen Antithese dazu, ohne dem Ziehen ein­er klaren Gren­ze, ohne let­z­tendlich ein ganz anderes Poli­tik­mod­ell als dem Greifen nach der Hege­moniekrise wird sich die Linke möglicher­weise schw­er tun, gegen diese Kon­stel­la­tion glaub­würdig zu werden.

(Auss­chweifende) Leseno­tiz zum AKG-Son­der­band 2019, Teil II: Das Prob­lem mit der Hegemonie

Cari­na Book, Niko­lai Huke, Sebas­t­ian Klauke, Olaf Tiet­je (Hrsg.) | Alltägliche Grenzziehun­gen | Das Konzept der »Impe­ri­alen Lebensweise«, Exter­nal­isierung und exk­lu­sive Sol­i­dar­ität | 2019 | West­fälis­ches Dampf­boot | 25€

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.