Materialistische Theorie und Trotzkismus

In Europa nur noch wenig bekan­nt, ste­ht vor allem in Lateinameri­ka derzeit eine neue alte poli­tis­che Bewe­gung wieder auf: der Trotzk­ismus. Doch was waren die the­o­retis­chen Grund­la­gen seines Namensge­bers? Manuel Kell­ners kurze, sehr dichte und wohlüber­legte Ein­führung fasst die wichtig­sten Bezugsprob­leme und Antworten des Trotzk­ismus zusam­men. Der fol­gende Artikel bespricht einige sys­tem­a­tis­che Weg­marken zwis­chen sein­er Geschichte als poli­tis­che Bewe­gung und der Entwick­lung mate­ri­al­is­tis­ch­er Gesellschaftstheorie.

 

Ein Rev­o­lu­tionär

Um das Leben und die Auf­fas­sun­gen des Beruf­s­rev­o­lu­tionärs Leo Trotzkis bess­er zu ver­ste­hen, hil­ft es, sie in den Kon­text der europäis­chen Rev­o­lu­tio­nen vom späten 18. bis ins 20. Jahrhun­dert einzuord­nen. Zu Trotzkis Geburt ist bere­its ein ganzes Jahrhun­dert seit den wichtig­sten Ref­eren­zpunk­ten des Aus­gangs aus dem frühkap­i­tal­is­tis­chen europäis­chen Kolo­nial­is­mus ver­gan­gen, die Rev­o­lu­tio­nen in Haiti und Frankre­ich sind längst vor­bei und in die bona­partis­tis­che Restau­ra­tion über­führt wor­den. Auch die Nieder­lage der Märzrev­o­lu­tion 1848 in Deutsch­land liegt bere­its 30 Jahre zurück. Und auch die kurze Phase der Paris­er Kom­mune von 1871 war schon längst hin­wegge­fegt, als Trotz­ki 1879 in eine zunächst arme Land­fam­i­lie geboren wurde, die später trotz viel­er Krisen einige Lan­dar­beit­er beschäfti­gen konnte.

In seinem jun­gen Erwach­se­nen­leben tendierte der städtisch, jüdisch und eher rus­sisch denn ukrainisch sozial­isierte Trotz­ki zur poli­tis­chen Bewe­gung der Nar­o­d­ni­ki, deren roman­tis­ches Nation­aldenken auf eine Verbindung des bäuer­lich geprägten Lebens mit mod­er­nen intellek­tuellen Inhal­ten zielte (21). Zum Marx­is­mus kommt Trotz­ki durch seine Beziehung zu Alexan­dra Lwow­na Sokolowska­ja. Welche Schriften von Marx genau zu dieser Zeit an diesem Ort zirkulierten und wie sie rezip­iert wur­den, ist heute schw­er zu beurteilen. Fest ste­ht jeden­falls, dass der junge Trotz­ki von dieser Zeit an nicht mehr in den Bauern und Intellek­tuellen, son­dern in den weni­gen gen­uinen Indus­triear­beit­ern des noch kaum indus­tri­al­isierten Lan­des die entschei­dende rev­o­lu­tionäre Kraft erblickt – und mit Gle­ich­gesin­nten den Südrus­sis­chen Arbeit­er­bund grün­det. Bere­its 1883 ent­stand ander­norts die Gruppe zur Befreiung der Arbeit (u. a. mit Plechanow, dem Mit­be­grün­der der II. Inter­na­tionalen, Axel­rod und Sas­sulitsch); 1895 der Kampf­bund zur Befreiung der Arbeit­erk­lasse (u. a. mit Lenin, aufgelöst von der Geheim­polizei 1897).

Keine Leichtigkeit, nachzu­vol­lziehen, auf welche the­o­retis­chen Schw­er­punk­te die Agi­ta­tion dieses Arbeit­er­bun­des set­zte. Trotz der his­torischen Dif­feren­zen dürften jedoch auch damals bere­its einige klas­sis­che Bezugsprob­leme des Marx­is­mus die wichtig­ste Rolle gespielt haben, die die Gesellschaft­s­the­o­rie bis heute beschäfti­gen: Die Suche nach ein­er neuen, objek­tiv­en Beschrei­bung der Entwick­lun­gen gesellschaftlich­er Pro­duk­tion, der Gründe für den unfrei­heitlichen und ärm­lichen Charak­ter des Lebens trotz der wach­senden Pro­duk­tivkräfte, die Frage nach der Ursache von Kriegen, sowie die Suche nach einem rev­o­lu­tionären Sub­jekt, dass die alte Herrschaft abschaf­fen kann und durch eine neue erset­zt, die den Möglichkeit­en der Mod­erne angemessen­er ist.

Diese neue Art des Denkens zieht jeden­falls schnell einiges Pub­likum an, Kell­ner nen­nt eine Zahl von ca. 10.000 Sym­pa­thisan­ten und Zuläufern zu dem Arbeit­er­bund (22) – genug, um die zaris­tis­che Polizei 1898 zu ver­an­lassen, die Führungs­gruppe der Organ­i­sa­tion als Staatsver­brech­er zu ver­fol­gen. Trotz­ki, noch nicht ein­mal 20 Jahre alt, wird zum Verbannten.

 

Trotzk­ismus und Bolschewismus

In Haft und Ver­ban­nung hört Trotz­ki von der Grün­dung der Sozialdemokratis­chen Arbeit­er­partei Rus­s­lands in Min­sk und arbeit­et bald für deren von Lenin geführten Zeitung Iskra. 1903 kon­nte die Partei ihren zweit­en Kongress mit ein­er viel größeren Teil­nehmerzahl abhal­ten – es sollte ihr Grün­dungskongress wer­den, doch er ging stattdessen als Auf­takt zur bis dato fol­gen­re­ich­sten parteipoli­tis­chen Spal­tung der Welt in die Geschichte ein. Auf­grund uner­wartet tiefer organ­isatorisch­er und poli­tis­ch­er Dif­feren­zen kristallisierten sich ein radikaler und ein gemäßigter Flügel her­aus – so uner­wartet sog­ar, dass den Beteiligten nichts anders übrig­blieb, als die bei­den Seit­en nach den finalen Abstim­mungsergeb­nis­sen zu benen­nen: als Mehrheits- und Min­der­heits­frak­tion, Bolschewi­ki und Men­schewi­ki.

Die Gruppe um Lenin wollte wed­er lockere Mit­glied­schafts­be­din­gun­gen noch ein poli­tis­ches Pro­gramm mit nur mit­tlerer Reich­weite zulassen, eine dur­chor­gan­isierte Kampf­partei mit rev­o­lu­tionär­er Per­spek­tive war ihr Ziel. Lenins Gedanken ent­standen zwar in ein­er Auseinan­der­set­zung mit Marx – gle­ichzeit­ig ist aber vor allem in seinem Hauptwerk dieser Zeit, Was tun? (1902), ger­ade ein poli­tis­ches, und nicht wie bei Marx ein politökonomis­ches Prob­lem der Hauptbezugspunkt.

Die Arbeiter*innenklasse werde sys­tem­a­tisch von poli­tis­ch­er Bil­dung abge­hal­ten und laufe daher den ein­fachen Gew­erkschaften zu, weswe­gen Lenin eine poli­tis­che Avant­garde­partei zur Führung vorschlägt. Die Frage bestand dann nur noch darin, wie diese Führung bess­er organ­isiert wer­den kann: Als geschlossene Partei oder als offen­er Zusammenhang.

Außer Frage stand für Lenin, dass ein­fache Gew­erkschaften Erfolg haben kön­nen: „spon­tane Arbeit­er­be­we­gung ist Trade-Union­is­mus, ist Nur-Gew­erkschaftlerei, Trade-Union­is­mus aber bedeutet eben ide­ol­o­gis­che Ver­sklavung der Arbeit­er durch die Bour­geoisie.“[1] Es sollte noch 15 Jahre dauern, bis Lenin sich daran­machen sollte, diese Ansicht auch in seinen ökonomis­chen Hauptwerken Impe­ri­al­is­mus als höch­stes Sta­di­um des Kap­i­tal­is­mus und Staat und Rev­o­lu­tion neu zu begrün­den. Sicher­lich hat­te Lenin zu sein­er Zeit eine Wahrheit aus­ge­sprochen. Heute dage­gen glauben nur noch sehr wenige an die Unre­formier­barkeit des Kap­i­tal­is­mus – und eine The­o­rie, die das nur als Effekt ein­er Ide­olo­gie sieht, macht es sich sehr einfach.

Trotz­ki war zu dieser Zeit jeden­falls von Lenins Posi­tion nicht ganz überzeugt und wen­det sich in sein­er Schrift Unsere poli­tis­chen Auf­gaben von 1904 gegen einen „jakobinis­chen Zen­tral­is­mus“ (24), wie er Lenins Posi­tion zusam­men­fasst. Zur rus­sis­chen Rev­o­lu­tion von 1905 war der 26-jährige Trotz­ki daher noch kein Bolschewik. Doch auch die Min­der­heit­en­po­si­tion in der Partei, die daran glaubte, zuerst müssten »nor­male« kap­i­tal­is­tis­che Ver­hält­nisse geschaf­fen wer­den, bevor eine sozial­is­tis­che Rev­o­lu­tion erfol­gen kön­nen stieß ihn ab – und wurde auch durch das Scheit­ern der Rev­o­lu­tion 1905 gründlich wider­legt: Wed­er kam es zu einem Aus­gle­ich der sozialen Extreme noch zu ein­er Ver­fas­sung und funk­tion­ieren­den demokratis­chen Orga­nen. Aus heutiger Sicht para­dox­er­weise wurde diese gemäßigte Poli­tik zu dieser Zeit ger­ade als marx­is­tis­che Ortho­dox­ie betitelt, gemäß ein­er his­torischen Lesart von Marx’ Wert­the­o­rie, in der die einzel­nen Sta­di­en der Verge­sellschaf­tung über Waren- und Werte­tausch nur nacheinan­der ablaufen kön­nen. So blieb Trotz­ki „bis zur offiziellen Spal­tung in zwei Parteien im Jahr 1912 zwis­chen den Frak­tio­nen und stellte sich an die Spitze der Ver­söhn­ler, die bei­de zusam­men­führen woll­ten“ (25).

 

Kri­tik der Sozialdemokratie

In Ergeb­nisse und Per­spek­tiv­en von 1906 kam Trotz­ki zu dem Schluss, dass die Arbeiter*innenklasse ger­ade auf­grund der ökonomis­chen Rück­ständigkeit des Zaren­re­ich­es eine stärkere Führung übernehmen müsse. Lenin und die Bolschewi­ki dage­gen, die viel für die Losung der Dik­tatur des Pro­le­tari­ats gewor­ben hat­ten, sprachen jet­zt eher von ein­er „demokratis­chen Dik­tatur der Arbeit­er und Bauern“ (29). In der Auseinan­der­set­zung mit den rev­o­lu­tionären Strö­mungen ent­deck­ten bei­de einen ganz neuen Prob­lem­bere­ich für sich: Die sys­tem­a­tis­che Kri­tik der Sozialdemokratie.

Es stellte sich näm­lich her­aus, dass die Sozialdemokrat­en viel zu schnell und leicht, in Rus­s­land im Laufe nur weniger Jahre, ihren pro­gres­siv­en Charak­ter gegen einen reak­tionären tauscht­en. Die Möglichkeit, im nationalen Rah­men Anerken­nung zu find­en war ein Ange­bot, das viele Parteien der Sozialdemokratie kaum ablehnen kon­nten. Wie kon­nte diese Entwick­lung the­o­retisch einge­holt werden?

Die Sozialdemokratie hat­te sich zunehmend von der Idee des Inter­na­tion­al­is­mus ver­ab­schiedet. Stattdessen gaben sie sich erkennbar damit zufrieden, ihre Rolle als Vertreter der Inter­essen ein­er nationalen Arbeit­erk­lasse einzunehmen – Inter­essen, die im Zeichen der stetig steigen­den organ­is­chen Zusam­menset­zung des Kap­i­tals sehr wohl auch im Inter­esse der Kap­i­tal­is­ten selb­st waren, schließlich benötigt kom­plexere Maschiner­ie keine ver­armten Lumpen, son­dern gutaus­ge­bildete Vorarbeiter*innen und später vor allem auch Abnehmer für ihren gesteigerten Pro­duk­tausstoß. Die müh­sam aufge­baute Inter­na­tionale der sozialdemokratis­chen Parteien zer­fiel dann schließlich mit der Zus­tim­mung der jew­eili­gen Parteien zum ersten Weltkrieg.

Die Frage, wie sich eine gemäßigte Posi­tion mit ein­er radikalen Kri­tik der gew­erkschaftlichen Poli­tik im Ter­rain eines Staates in den Hän­den von Grun­deigen­tümern und Bour­geoisie vere­in­baren lässt, ver­wan­delte sich daher Stück für Stück in die Frage, wie die Notwendigkeit zur Abkehr von den Parteien der Sozialdemokratie wirk­sam durchge­set­zt wer­den kön­nte. Dieser hier vol­l­zo­gene Bedeu­tungswan­del, der sich in einem Gegen­satz zwis­chen Sozialdemokrat­en und Kom­mu­nis­ten aus­drückt, hat sich bis heute stil­bildend erhalten.

 

Von der kri­tis­chen zur prak­tis­chen Herausforderung

Die Bolschewi­ki hat­ten ihre Lek­tion von 1905 über die Notwendigkeit der Räte zur schnellen Organ­isierung gel­ernt und eroberten mit ein­er Schritt-für-Schritt-Poli­tik, immer fokussiert auf das Ziel eines Umsturzes nicht nur des Zar­en­tums, son­dern auch der zu lib­eralen Zugeständ­nis­sen bere­it­en »Pro­vi­sorischen Regierung« die Herzen und Mehrheit­en in den Sow­jets: „Alle Macht den Räten“ (30) war ihre neue Losung während der Auf­stände, die in Folge der Not durch den Krieg los­ge­brochen waren, der zu allem Über­fluss auch noch ver­loren war.

Mit der Ver­haf­tung der Regierung Keren­s­ki übernehmen die Sow­jets in der Okto­ber­rev­o­lu­tion 1917 endlich die Kon­trolle im Land und Trotz­ki been­det als Volk­skom­mis­sar für äußere Angele­gen­heit­en den Krieg gegen die düpierten deutschen Trup­pen. 1918 wech­selt Trotz­ki in die Rolle des Kom­mis­sars für Kriegswe­sen und organ­isiert den Bürg­erkrieg im Inneren, der auf die Rev­o­lu­tion gefol­gt war.

Diese neue Sit­u­a­tion stellte die poli­tis­che The­o­rie wiederum vor völ­lig andere Her­aus­forderun­gen. An die Stelle der Kri­tik der Sozialdemokratie war nun die Auf­gabe der prak­tis­chen Gestal­tung eines riesi­gen Flächen­lands getreten. Welche The­o­rie stand schon zur Ver­fü­gung, um Rev­o­lu­tionäre dabei zu berat­en, wie viel Ent­ge­genkom­men gegenüber zaris­tisch-loy­al­is­tis­chen Offizieren und Trup­pen angemessen ist? Wieviel Tol­er­anz gegenüber eher anar­chis­tisch inspiri­erten Auf­stän­den wie in Kro­n­stadt nötig ist, wieviel Unter­drück­ung von Auf­stän­den gegen die Las­ten des Kriegskom­mu­nis­mus gerecht­fer­tigt sein kön­nte? Wieviel Zwangskollek­tivierung richtig, wie viel indi­vidu­elle Frei­heit denkbar?

Kell­ner stellt –ein wenig unfrei­willig– vor allem her­aus, wie wenig sich diese Epoche in manchen Hin­sicht­en für die Def­i­n­i­tion eines heute aktuellen Trotzk­ismus eignet. Es ist eine Zeit geprägt von Ambivalen­zen, Wen­dun­gen, Inkon­sis­ten­zen auf allen Seit­en. Kein­er der the­o­retis­chen Stand­punk­te kommt der Entwick­lung hin­ter­her. Als einziger kon­stan­ter Trend stellt sich später die Bürokratisierung der Partei her­aus. Anstatt die offe­nen Fra­gen, Her­aus­forderun­gen und Wider­sprüche zu organ­isieren, ver­wan­delt sich die Partei in eine Organ­i­sa­tion der Macht – die Bürokratie ver­schmilzt mit dem Staat, statt ihn, der alten Losung nach, zum Abster­ben zu bringen.

Über­raschen­der­weise spart Kell­ner ger­ade so wichtige Fra­gen wie die nach der Hal­tung der Partei zu Fem­i­nis­mus und Homo­sex­u­al­ität aus. Zwar stimmt es, dass mit der Aufhe­bung der zaris­tis­chen Strafge­set­zge­bung auch die Ver­fol­gung von Homo­sex­uellen zurück­ging.[2] Ander­er­seits war dies vielle­icht „nur“ ein Neben­ef­fekt – es ging den Bolschewi­ki möglicher­weise eher um die Abschaf­fung des zaris­tis­chen Rechtscodex als Ganzes, und weniger expliz­it um eine Legal­isierung der Homo­sex­u­al­ität. Über­liefert sind näm­lich auch Zeug­nisse über die Ger­ingschätzung, die manche Bolschewi­ki solchen ver­meintlich bürg­er­lichen Prob­le­men entgegenbrachten.

Aus Sicht des heuti­gen Trotzk­ismus erscheint die kurze Dauer jen­er pro­gres­siv­en Ten­den­zen natür­lich als ein Neben­pro­dukt aus der bürokratis­chen Degen­er­a­tion der Partei. Aus anderen Per­spek­tiv­en freilich erscheint diese kurze Peri­ode bis zur Rekrim­i­nal­isierung der Homo­sex­u­al­ität eher als ein Schluck­auf der Geschichte, zumal sich diese Rekrim­i­nal­isierung min­destens bis in die 80er Jahre erhal­ten hat. Bis heute ist die Forschung hier noch nicht wirk­lich weit­ergekom­men – keine The­o­rie hat es bish­er geschafft, die Frage nach dem Zusam­men­hang von ver­schieden­er sozialer Fra­gen zufrieden­stel­lend zu beantworten.

Die ein­mal los­ge­tretene Bürokratisierung der Partei samt Ver­bot jed­er Frak­tions­bil­dung ließ sich jeden­falls kaum noch aufhal­ten. Trotz­ki selb­st wurde von 1926 an zunehmend aus allen Ämtern aus­geschlossen und schließlich 1929 in die Ver­ban­nung geschickt. Es sollte neun Jahre dauern, bis die 1938 als Reak­tion auf den fest­gestell­ten Bankrott sowohl der Sozialdemokratie der II. als auch des Kom­mu­nis­mus der III. Inter­na­tionale in Paris eine neue, eben trotzk­istis­che IV. Inter­na­tionale aus­gerufen wird.

 

Exkurs: Die IV. Inter­na­tionale und Gesellschaftstheorie

Die Grund­po­si­tio­nen ein­er trotzk­istis­chen Per­spek­tive lassen sich – bei allen großen Dif­feren­zen, die es hier gegeben hat – zumin­d­est in den Grundzü­gen als eine Rück­kehr nicht zu den let­zten Wahrheit­en, son­dern zu der Forschungs­frage des Marx­is­mus ver­ste­hen: Wie ist die all­ge­meine Emanzi­pa­tion aller Men­schen gegen jede Unter­drück­ung zu erreichen?

Marx und Engels fan­den in Deutsch­land eine ähn­lich dop­pelt ver­fahrene Sit­u­a­tion vor, wie später die Rev­o­lu­tionäre in Rus­s­land: Ein­er­seits erstickt ein immens repres­sives Sys­tem gewalt­sam alle Reformbe­mühun­gen. Somit wird jede vere­inzelte Emanzi­pa­tions­be­mühung schein­bar zu einem Kampf ums Ganze. Ander­er­seits bedeutet dieser ver­meintliche Uni­ver­sal­is­mus keine echte Solidarität.

Die uni­ver­sal­is­tis­che Philoso­phie der Aufk­lärung hat­te nicht alle Men­schen im Sinn, wenn sie an Frei­heit und Gle­ich­heit dachte. Natür­lich waren z. B. wed­er Frauen noch nicht-weiße noch nicht-Chris­ten gemeint, und eben­so natür­lich auch nicht die nicht-Mit­glieder der bürg­er­lichen Mit­tel- und Oberk­lassen. Im Gegen­teil, die Men­schen­rechte des bürg­er­lichen Human­is­mus waren eine ide­ol­o­gis­che, anthro­pol­o­gis­che Pro­jek­tion der Notwendigkeit­en der Kap­i­ta­lakku­mu­la­tion. Für Tausch und Han­del mussten die Inhab­er der Ver­fü­gungs­ge­walt über Pro­duk­tion und Kon­sump­tion in gewiss­er Weise gle­ich sein, und für die flex­i­ble, unper­sön­liche Gestal­tung von Arbeitsver­hält­nis­sen durch Verträge mussten auch deren Sub­jek­te in gewiss­er Weise frei sein, Verträge zu schließen.

Keineswegs war die tat­säch­liche Unfrei­heit und Ungle­ich­heit daher nur ein tragis­ch­er, kontin­gen­ter Fehler in den Ver­hält­nis­sen, der beizeit­en kor­rigiert wer­den kann, son­dern ein essen­zieller Baustein des Kap­i­tal­is­mus: Mit falsch­er Frei­heit und falsch­er Gle­ich­heit akku­muliert sich eben schneller Kap­i­tal. Und wer nicht schnell genug akku­muliert muss mit­tel­fristig in der Konkur­renz unterge­hen. Insofern hat­ten die Pro­le­tari­ate und Sub­al­ter­nen gute Gründe, diesen ide­ol­o­gis­chen Illu­sio­nen zu mis­strauen und sie abzulehnen, da sie ein ganz deut­lich­es Herrschaftsin­stru­ment darstellten.

Gle­ichzeit­ig aber kon­nten diese Sub­jek­te nicht ein­fach so einen wirk­lichen Begriff von Frei­heit und Gle­ich­heit aus dem Hut zaubern. Der Kampf gegen den Feu­dal­is­mus und Kap­i­tal­is­mus ergab nicht von selb­st einen Kampf für eine echte Frei­heit und Gle­ich­heit, ein­fach weil diese Begriffe eben kom­plex und keine leicht ver­ständlichen Aller­welts­be­griffe sind. Dass eben z. B. das sex­is­tis­che Beschimpfen von Frauen* über­haupt nichts mit Frei­heit des Aus­drucks zu tun hat, geht selb­st heute noch nicht in die Köpfe viel­er Men­schen hinein. Und auch die Kämpfe für Sozial­is­mus und Inter­na­tion­al­is­mus zogen nicht automa­tisch ein Ende von eth­nis­chen oder religiösen Ressen­ti­ments nach sich. Die Her­aus­forderung der Zeit bestand also in der unmöglichen Quad­ratur des Kreis­es, sich ein­er­seits radikal von der materiellen und ide­ol­o­gis­chen Abhängigkeit der Bour­geoisie zu befreien, ander­er­seits aber die Ver­sprechun­gen der Mod­erne auf eine wirk­liche Frei­heit und Gle­ich­heit in ein­er wahren Form nicht fall­en zu lassen.

Der Trotzk­ismus kann ver­standen wer­den als der Ver­such, sich dieser Her­aus­forderung durch seine drei Kern­funk­tio­nen – demokratis­che Dik­tatur des Pro­le­tari­ats, Über­gang­spro­gramm und per­ma­nente Rev­o­lu­tion – anzunehmen. Die Chiffre der Dik­tatur ste­ht dabei für die Unab­hängigkeit von allen bürg­er­lichen Klassen und deren ide­ol­o­gis­chen Stand­punk­ten auf dem Weg zur Emanzi­pa­tion. Das Über­gang­spro­gramm ste­ht für den nöti­gen, kon­trol­lierten Prag­ma­tismus. Die Per­ma­nenz für die Weigerung, unvol­lkommene Etap­pen­ziele als Erfolg zu bezeichnen.

Der Trotzk­ismus hätte somit als eine prak­tis­che The­o­rie der Aufk­lärung auftreten kön­nen. Hätte, denn nicht nur bei Trotz­ki und Lenin, son­dern natür­lich auch bei Marx und Engels ist eine solche poli­tis­che The­o­rie der Gesellschaft natür­lich noch nicht in dieser Bre­ite und Bedeu­tung entwick­elt, son­dern verbleibt deut­lich im ersten Teil dieser Entwick­lung, näm­lich der Ablö­sung von der kap­i­tal­is­tis­chen Mod­erne ver­haftet. Auch Trotzkis Rin­gen mit den kul­turellen Aspek­ten der Rev­o­lu­tion, die weit über eine reine Erringung der Macht der Arbeiter*innenklasse hin­aus­re­ichen, ließ sich nicht mehr zu etwas Umfassenderen verallgemeinern.

 

Trotzk­ismus im Fluss der Zeit

Let­z­tendlich ist aber auch die trotzk­istis­che Hal­tung nicht nur an ein­er The­o­riear­mut, son­dern auch an einem Zeital­ter der Extreme gescheit­ert, in dem es kaum Luft zum Atmen gab für Emanzi­pa­torisches, son­dern vor allem Exzess und Zer­störung das Bild beherrscht­en. Diese Über­forderung ließ die den Trotzk­ismus nicht unbeschadet zurück – er begin­nt, sich the­o­retisch und prak­tisch zu zer­set­zen. Die poli­tis­che Meta­physik des Trotzk­ismus war ganz und gar vom Exzess der Rev­o­lu­tio­nen und Weltkriege vorgeze­ich­net. „Was aber, wenn dieses »ver­faulende« kap­i­tal­is­tis­che Sys­tem mehr oder weniger heil aus diesem Weltkrieg her­aus und gar zu ein­er lang andauern­den expan­siv­en Peri­ode kommt?“, fragt Kell­ner zurecht und kommt zum Schluss: „Das über­stieg den Hor­i­zont der Grün­der der IV. Inter­na­tionale“ (87).

Auf die Zuschauer­ränge ver­ban­nt beobachteten die Trotzkist*innen die Rev­o­lu­tio­nen in Jugoslaw­ien unter Tito, Chi­na unter Mao, Kuba unter Cas­tro und Gue­vara. Doch ihr Zugang zu diesen Phänome­nen schaffte lange nicht den Sprung auf eine all­ge­meinere The­o­rieebene, son­dern blieb in einzel­nen Aspek­ten ver­haftet. Die Geschehnisse wur­den z. B. danach beurteilt, wie sehr es die jew­eili­gen Führun­gen schafften, sich von Stal­in zu dis­tanzieren, oder wie ‚bürg­er­lich‘ sie waren.

Kell­ner fasst zusam­men: „Von 1953 bis 1963 erlebte die trotzk­istis­che Bewe­gung … eine scharfe Krise“ (90). Die seit Beginn der fün­fziger Jahre ver­stärk­te Strate­gie des Entris­mus, also des Ein­tritts in sozialdemokratis­che bzw. kom­mu­nis­tis­che Parteien zur klan­des­ti­nen Bee­in­flus­sung deren Mit­glieder im Sinne trotzk­istis­ch­er Posi­tio­nen ist daher weniger als Ursache, son­dern eher als Ergeb­nis ein­er the­o­retis­chen Krise zu betrachten.

Vielle­icht ist dies auch eine bessere Erk­lärung dafür, dass viele Trotzkist*innen den Zeit­punkt für den Absprung aus dem Entris­mus ver­passten, als Mitte der sechziger Jahre die Poli­tik Europas erneut aus dem Tritt kam und z. B. Mit­glieder des SDS für Ihre Kri­tik an der SPD aus der Partei gewor­fen wur­den. „Es ist kein Zufall“, schreibt Kell­ner, „dass die deutschen Trotzk­isten ver­gle­ich­sweise spät mit ein­er unab­hängi­gen Organ­i­sa­tion, der Gruppe Inter­na­tionale Marx­is­ten (GIM) in die durch die Jugen­dradikalisierung aus­gelösten Prozesse ein­grif­f­en. Sie kon­nten dadurch Mit­glieder gewin­nen, blieben aber doch eher am Rand, und in der ersten Hälfte der 70er Jahre waren links von SPD und DKP die maois­tis­chen Organ­i­sa­tio­nen um ein Vielfach­es stärk­er“ (103).

Die Gen­er­a­tion der 68er ist als kul­turelle Rev­o­lu­tion in die Geschichte einge­gan­gen – doch nicht im trotzk­istis­chen Sinne des Begriffs. Ein maßge­blich­er Ein­fluss war vielmehr ger­ade die bürg­er­liche Intel­li­genz. In ein­er ganz erhe­blichen und eben­falls bis heute stil­bilden­den Wen­dung link­er The­o­riebil­dung wurde, quer über viele Schulen hin­weg, die Idee von der Unab­hängigkeit der Linken von bürg­er­lichem Staat und Ide­olo­gie fall­en gelassen.

In Deutsch­land brachte der Auf­stieg der Kri­tis­chen The­o­rie die demokratis­che Kri­tik an der bürg­er­lichen Gesellschaft nach vorne. Der bürg­er­lichen Gesellschaft sollte der Spiegel vorge­hal­ten, sie sollte an ihren eige­nen Maßstäben gemessen wer­den. In Frankre­ich stieg mit dem Exis­ten­zial­is­mus Sartres eine neue, linke Ver­sion der bürg­er­lichen Frei­heit­side­olo­gie auf, während gle­ichzeit­ig mit ein­er lin­guis­tisch und auf Hei­deg­ger ori­en­tierten Philoso­phie ein ganz neuer Anfang für Sozialthe­o­rie gelegt wurde.

Der Trotzk­ismus heute hat diese The­o­rieum­stel­lun­gen noch nicht wirk­lich verkraftet. Zwar gibt es einige Grup­pen, die expliz­it den Anschluss an akademis­che Kreise suchen, in denen Fra­gen dieser Reich­weite viel präsen­ter sind. Es ist aber deut­lich, dass diese Grup­pen oft viel eher mit der wis­senschaftlichen Unter­füt­terung bere­its beste­hen­der Parteipoli­tik zu tun haben, als wirk­lich radikale The­o­rieange­bote zu entwick­eln. Der auf diese Weise entste­hende Eklek­tizis­mus, in dem Ver­satzstücke des Marx­is­mus mit neuer Philoso­phie zusam­mengesteckt wer­den, ist nir­gend­wo wirk­lich unter Kon­trolle gebracht wor­den, und ste­ht ein­er emanzi­pa­torischen Prax­is heute fern­er denn je.

 

Besprechung von Manuel Kell­ner 2013 [2004], Trotzk­ismus. Ein­führung in seine Grund­la­gen – Fra­gen nach sein­er Zukun­ft, Stuttgart: Schmetter­ling, 175 S., 10 €

 

[1] Lenin, W. I. (1963): Aus­gewählte Werke, Band I, Berlin: Dietz, 175

[2] Trotz­ki selb­st wid­met sich der Frage nach den möglichen Wegen zur pro­gres­siv­en Trans­for­ma­tion der gesamten Kul­tur etwa in: ders. (2001): Fra­gen des All­t­agslebens, Trotz­ki-Bib­lio­thek Band XVI, Essen: Arbeiterpresse/Mehring

Ein Kommentar

  1. Ich finde den Beitrag her­vor­ra­gend geschrieben, eine leicht­füßige kri­tis­che Besprechung, die den besten Ansatzpunkt nimmt: eine gesellschaft­spoli­tis­che Rel­e­vanz, vor deren Hin­ter­grund eine Besprechung ja über­haupt erst Sinn macht. Ohne im Detail in der Materie zu ste­hen, muss ich ein­er­seits viele Infor­ma­tio­nen erst ein­mal dank­end hin­nehmen und mich ander­er­seits zu eige­nen Fra­gen inspiri­eren lassen. Es bet­rifft ein wenig die „symp­to­ma­tis­che“ Einord­nung des Trotzk­ismus. In der Besprechung nun wirkt es so, als sei die Bewe­gung kon­se­quenter­weise Aus­druck und Bear­beitung ein­er his­torischen Pattsi­t­u­a­tion und kommt entsprechend gut weg, als diejenige, die sich ern­sthaft mit den Prob­lematiken eines The­o­rie-Prax­is-Dilem­mas auseinan­der­set­zt. Dahingestellt, ob dem so sein kann, aber ließe sich, wie du es am Ende sel­ber andeutest, jenes nicht eigentlich über jede Strö­mung sagen? Kri­tis­che The­o­rie ist die Antwort auf die Sack­gasse. Althuss­er sowieso. Die Post-Marx­is­ten ver­längern jene Diag­nose für sich… Und alle kom­men an ihre jew­eilige Prax­is­gren­ze, über die sich dann sagen lässt, sie „hätte[n] somit als eine prak­tis­che The­o­rie der Aufk­lärung auftreten kön­nen.“ Aber „eine solche poli­tis­che The­o­rie der Gesellschaft [war] natür­lich noch nicht in dieser Bre­ite und Bedeu­tung entwick­elt, son­dern verbleibt deut­lich im ersten Teil dieser Entwick­lung, näm­lich der Ablö­sung von der kap­i­tal­is­tis­chen Mod­erne verhaftet.“
    Das Scheit­ern des Trotzk­ismus wirkt dann ein wenig exem­plar­isch als die Kom­bi­na­tion aus The­o­riear­mut und Über­forderung angesichts der über­wälti­gen­den Real­ität. Aus mate­ri­al­is­tis­ch­er Per­spek­tive berührt das den Knack­punkt: Die The­o­rie, die die Welt erk­lären soll, welche zuerst der Aus­gangspunkt der The­o­rie selb­st sein muss. Das Prob­lem dabei ist doch also, dass der sug­gerierte erste Schritt ein­er „Ablö­sung von der kap­i­tal­is­tis­chen Mod­erne“ nur ein the­o­retis­ch­er sein kann, zumin­d­est wenn man nicht schon das rev­o­lu­tionäre Sub­jekt an der Hand hat, das entsprechende Tat­sachen schafft. Aber: Wenn „die Men­schen­rechte des bürg­er­lichen Human­is­mus […] eine ide­ol­o­gis­che, anthro­pol­o­gis­che Pro­jek­tion der Notwendigkeit­en der Kap­i­ta­lakku­mu­la­tion [waren]“, die das Begrün­dungs­fun­da­ment der poli­tis­chen Prax­is bilden, lässt sich dem ja nicht ein­fach eine wirk­lich uni­verselle Idee von Frei­heit oder Gle­ich­heit in Stel­lung brin­gen. Bzw. wo soll diese herkom­men? Soweit ich das sehe, haben sich etwa auch Marx und Engels dage­gen gewährt, die Erfül­lungs­ge­hil­fen der Aufk­lärung spie­len zu wollen. Ich denke, dass eine solche Prob­lematik im Kern das Unbe­ha­gen berührt, dass sich in den kri­tis­chen Abgren­zungs­be­we­gun­gen a la Post­struk­tu­ral­is­mus gegen den Uni­ver­sal­is­mus als Ganzen artikuliert. Nun­ja, in der falschen Aufhe­bung des Prob­lems selb­stver­ständlich. Es bringt mich aber dann zumin­d­est zu der Frage zurück, warum der Trotzk­ismus dann etwas anzu­bi­eten hat, außer ein weit­er­er Aus­druck der Symp­to­matik zu sein, den man beobacht­en und bew­erten kann. Verzeih, wenn das hier in assozia­tives Rat­en ausuferte. Die Besprechung hat mich offen­sichtlich angeregt. Danke dafür.

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